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Puppenspiel

Es war eine sehr dunkle Nacht, als die alte Frau in ihrer Kammer im Bett lag und die Stunden zählte. Solche dunklen Nächte sind schlimm für die Menschen, die alt und einsam und müde geworden sind. Das bunte Leben ist eingeschlafen, und nur die Stunden schlagen aus weiter Ferne. Eine dieser Stunden wird wohl bald meine letzte sein, dachte die alte Frau, denn ich bin sehr einsam und sehr müde. Das bunte Leben ist eingeschlafen, und ich möchte das auch tun. Es ist an der Zeit.

Aber die alte Frau konnte nicht einschlafen. Um sie herum standen lauter große, dunkle Puppen. Das waren die Gedanken aus einem ganzen vergangenen Leben. Gleich wirren Schattengestalten strichen sie im Zimmer umher und drängten sich um die alte Frau, einer nach dem anderen – Sorge und Kummer, Irrtum und Schuld auf den blassen Gesichtern. Es waren nur wenige freundliche Puppen darunter, und die wurden von den anderen beiseitegeschoben. Denn die dunklen Puppen waren stärker und waren entsetzlich lebendig, als hätten sie viele tausend Stunden des Daseins in einer einzigen Fieberstunde gestaltet, in einer einsamen Kammer und in einer dunklen Nacht, zu einem Puppenspiel des Grauens.

Und jetzt klang ein schriller Geigenton durchs Zimmer, eine neue Gestalt löste sich aus der Ecke am Ofen, ein dürrer, grauer Geiger trat heraus und spielte den Puppen zum Tanze auf. Die Puppen faßten sich bei den Händen und begannen zu tanzen, sie drehten sich immer wilder und wilder um die alte Frau, daß es ihr schwindlig und angst wurde und sie die Hände faltete, als wolle sie um Erlösung bitten aus dieser schrecklichen Gesellschaft der Einsamen. Der dürre, graue Geiger aber geigte weiter, und die dunklen Puppen drehten sich schneller und immer schneller mit irren Bewegungen – das Puppenspiel des Lebens ist ein verworrenes Spiel, und jedem geigt es der graue Geiger einmal in einer dunklen Nacht, in einer einsamen Kammer.

Mit einem Male aber schien es der alten Frau, als wichen die wirren Schatten zurück. Ein Lichtschein fiel aus dem Dunkel auf ihr Bett, und mitten im Lichtschein saßen drei andere Puppen, so hell wie das Licht, das sie umgab. Das waren die Puppen aus ihrer Kinderzeit, ein Harlekin, ein General und ein sehr schönes Mädchen, das mit den Augen klappen konnte. Die sahen anders aus als die dunklen Puppengestalten aus dem verworrenen Puppenspiel des Lebens, die so schattenhaft und schrecklich nach der Geige des grauen Geigers tanzten, und auf den alten, bekannten Gesichtern stand nichts von Sorge und Kummer und nichts von Irrtum und Schuld.

»Guten Abend, kleine Eva«, sagte der Harlekin.

Das war viele, viele Jahre her, daß jemand zu der alten Frau »kleine Eva« gesagt hatte.

Die Geige des grauen Geigers verstummte, der Lichtschein um die Puppen der Kinderzeit wurde immer größer und größer, und der alten Frau schien es, als wäre mitten in dunkler Nacht und unter dunklen Schatten der Friede zu ihr gekommen, der Friede, der einmal war vor vielen, vielen Jahren – im Lichtschein und mit drei Puppen.

»Guten Abend, kleine Eva«, sagte die Puppe, die mit den Augen klappen konnte, und lachte.

»Guten Abend, kleine Eva«, sagte auch der General und salutierte mit dem Säbel, der aus Pappe war.

Die alte Frau strich zärtlich mit den mageren Händen über das seidene Kleid ihrer Puppe, über den bunten Rock des Harlekins und die Uniform des Generals. Wahrhaftig, das waren sie, und sie waren wirklich wieder da, genauso, wie sie einmal dagewesen waren, vor vielen, vielen Jahren …

»Es ist so schön, daß ihr gekommen seid«, sagte die alte Frau, »ich bin alt und einsam geworden, und ich hatte solche Angst vor den schrecklichen Puppen, die nach der Geige des grauen Geigers tanzten. Da sehnte ich mich so sehr nach jemand, der mir helfen könnte, aber an euch habe ich gar nicht gedacht.«

»Du bist jetzt nicht mehr alt, kleine Eva«, meinte der Harlekin und klingelte mit den Schellen.

»Du bist ja noch viel schöner als ich, kleine Eva«, sagte die Puppe, die mit den Augen klappen konnte.

»Du brauchst dich auch nicht zu ängstigen, kleine Eva«, sagte der General, »zu dir gehören überhaupt keine anderen Puppen mehr als wir drei. Die anderen werde ich schon verjagen.«

Der General zog den Säbel aus Pappe. »Ich lasse jetzt Kanonen auffahren und schießen – Bumm!« sagte er.

Kaum hatte der General »Bumm!« gesagt und den Säbel aus Pappe gezogen, da verschwanden alle die dunklen Schatten von Sorge und Kummer, Irrtum und Schuld, samt dem grauen Geiger und dem ganzen verworrenen Puppenspiel des Lebens. In der Kammer war es ganz hell geworden, und ein leise singender Ton war darin, wie ein lange vergessenes Kinderlied.

Der alten Frau aber schien es, als wären der Harlekin, die Puppe, die mit den Augen klappen konnte, und der General plötzlich sehr groß geworden und als sei sie selber wieder so klein wie ein kleines Kind.

»Siehst du, daß du nicht alt geworden bist«, meinte der Harlekin, »du bist ja ein kleines Mädchen.«

»Besieh dich doch einmal im Spiegel aus der Puppenstube, da ist er«, sagte die Puppe, die mit den Augen klappen konnte.

Da guckte die alte Frau in den Puppenspiegel und sah, daß sie wieder ein kleines Mädchen war, mit hängenden Zöpfen und kurzem Kleid.

»Das verworrene Puppenspiel des Lebens ist aus«, rief der General, »ich habe es davongejagt. Bumm!«

Und er schwang seinen Säbel aus Pappe.

»Das ist doch so lange her, daß ich euch in die Schublade gelegt habe«, sagte die alte Frau, die wieder ein kleines Mädchen geworden war, »es ist nicht recht von mir, daß ich euch so vergessen habe.«

»Die Menschen sollten mehr an ihr Puppenspiel aus der Kinderzeit denken«, sagte der Harlekin, »dann wäre das Puppenspiel des Lebens nicht so traurig und nicht so verworren. Aber wir vergessen die Menschen nicht, die mit uns gespielt haben.«

»Nein«, schrie der General, »wir kommen sie holen, wenn sie wieder Kinder werden sollen. Hurra! Bumm!«

»Wo seid ihr bloß so lange gewesen?« fragte die alte Frau.

»Natürlich nicht in der Schublade«, sagte die Puppe, die mit den Augen klappen konnte, »wir sind gleich in den Himmel gegangen, denn es fällt uns nicht ein, auf der Erde zu bleiben, wenn ihr keine Kinder mehr seid.«

»Wo ist denn der Himmel? Ist er sehr weit?« fragte die alte Frau.

»Der Himmel ist im Nebenzimmer, kleine Eva«, sagte der Harlekin freundlich, »der Himmel ist nämlich immer im Nebenzimmer, ganz nahe bei euch. Bloß merkt ihr nichts davon, weil ihr nicht daran denkt.«

»Und da seid ihr gleich ins Nebenzimmer, in den Himmel gegangen? Ist das denn so leicht? Ich kann mir das gar nicht so vorstellen.«

»Natürlich«, sagte der General, »ich habe einfach meinen Säbel aus Pappe gezogen und meine Kanonen auffahren lassen. Da gingen die Türen des Himmels auf. Bumm!«

»Der General hat immer noch einen etwas großen Mund«, sagte die Puppe, »das bringt sein Beruf so mit sich. Mit dem Himmel aber war es doch anders. Wir haben erst bloß ein bißchen die Türe aufgemacht und zum Spalt hineingeguckt. Da stand ein Engel und sah uns alle der Reihe nach an. Den Harlekin hat er dann gleich hereingelassen. Er sagte, das wäre einer von denen, die einfältig sind und denen immer das Herz schlägt beim Lachen und beim Weinen. Im Himmel wußten sie auch, daß der Harlekin, trotz all seiner Faxen, sehr hilfreich gewesen war und daß er mir meine verlorene Schleife aufgesucht und dem General herausgeholfen hat, als er einmal in die Waschschüssel gefallen war. Du kannst dich doch noch darauf besinnen, kleine Eva, wie der General in die Waschschüssel fiel und seine Beine schon ganz aufgeweicht waren?«

Der General liebte es nicht, an diese Geschichte erinnert zu werden.

»Bumm!« schrie er und fuchtelte mit dem Säbel aus Pappe.

»Nach dem Harlekin ist dann auch der General in den Himmel gekommen«, fuhr die Puppe, die mit den Augen klappen konnte, fort, »aber der Engel hat ihm zuerst ein Pflaster auf seinen großen Mund geklebt, und seitdem ist der Mund wirklich schon etwas kleiner geworden.«

»Und wie ist es dir ergangen?« fragte die alte Frau.

Die Puppe klappte die Augendeckel herunter.

»Mich haben sie im Himmel schon ein bißchen stark ausgefragt«, sagte sie, »ich hatte zuviel Süßigkeiten gegessen und hatte auch etwas zuviel mit den Augen geklappt. Ich versuchte zuerst zu schwindeln, aber das hat keinen Witz. Die im Himmel sind gar nicht so dumm und wissen alles. ›Warum fragt ihr denn, wenn ihr das alles schon wißt?‹ habe ich gesagt, und da lachten sie und haben mich dagelassen.«

»Und wie wird es einmal mit mir sein?« fragte die alte Frau, und ihr war bange geworden, denn sie war ja nun wieder ein kleines Mädchen, und es kam ihr doch schwierig vor, im Himmel so einigermaßen zu bestehen.

»Es kommen nicht alle so schnell in den Himmel«, sagte der Harlekin, »die meisten irren noch lange durch sehr viele Räume, bis sie begreifen, wie nahe ihnen der Himmel war. Aber dir wird es gehen wie uns allen dreien zusammen, denn du hast mit uns gespielt und hast von uns allen dreien etwas. Du hast zuviel Süßigkeiten gegessen und hast dazwischen ein bißchen zu sehr mit den Augen geklappt. Du hast auch manchmal Kanonen auffahren lassen und ›Bumm!‹ gesagt. So werden sie dich schon gehörig ausfragen, und ein Pflaster auf den Mund wirst du auch kriegen, nur nicht ein ganz so großes wie der General. Faxen hast du auch gemacht wie ich, aber dein Herz hat immer geschlagen beim Lachen und beim Weinen, und dann bist du ja auch wieder ein Kind geworden. Die Kinder aber weist man nicht aus dem Himmel hinaus.«

Da taten sich die Türen des Nebenzimmers auf, und ein kleines Mädchen ging mitten in den Glanz des Himmels hinein, mit den drei Puppen aus seiner Kinderzeit.

Leise fielen die Türen hinter ihnen wieder zu, und der Tod schloß einer alten Frau die Augen.

Das verworrene Puppenspiel des Lebens mit Sorge und Kummer, mit Irrtum und Schuld war zu Ende.

Ein neues Puppenspiel begann, ganz nahe davon, im Nebenzimmer – im Himmel und im Kinderland.


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