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Irgendwo – auf einer weiten, menschenleeren Heide liegt Schloß Elmenor. Graue Nebel kriechen langsam um graue Mauern, an denen viele Geschlechter gebaut haben, auf den trotzigen Türmen knarren die Wetterfahnen, und die alten Bäume im Park neigen ihre Kronen und flüstern im Abendwind. Ein grüner, sumpfiger See schließt Schloß Elmenor ein wie ein smaragdener Ring, und in seinem farbigen Glase spiegeln sich die alten Tore und Türme wie ein Schatten ihrer selbst. Um die verfallenen Bogenfenster aber ranken sich wilde Rosen. Niemand schaut mehr aus diesen Fenstern hinaus, es ist ganz still und einsam geworden auf Schloß Elmenor, noch viel stiller und einsamer als auf der weiten, menschenleeren Heide.
Nur um Mitternacht huscht ein scheuer Schein von flackernden Kerzen von Fenster zu Fenster – es ist nicht geheuer darin, sagen die Leute, die ferne davon auf der weiten Heide wohnen – das sind die irren Lichter von Elmenor. Aber es weiß niemand Bescheid darum, denn es mag niemand hineingehen, und Schloß Elmenor schläft einen langen Schlaf, schon weit über hundert Jahre.
Das ist nicht immer so gewesen. Einmal war junges Leben in den verlassenen Hallen, Musik und Tanz in den Sälen und Blumenduft und leises Lachen in den verschwiegenen Kammern. Das war bis zu jener Nacht, als der schwarze Kavalier auf Schloß Elmenor kam und sich ungebeten an den Tisch setzte. Von jener Nacht will ich erzählen, weil das eine merkwürdige Geschichte ist – merkwürdig schon darum, weil eine solche Geschichte sich oft begeben hat und sich immer wieder begeben kann.
Denkt daran, ihr Heutigen und ihr Kommenden. Denn es gibt überall so viele alte, dunkle Häuser, und es gibt in ihnen so viele flackernde Kerzen um Mitternacht – wie die irren Lichter von Elmenor.
Jene Nacht aber, in welcher der schwarze Kavalier nach Schloß Elmenor kam, war eine kalte, düstere Herbstnacht, und es war am Vorabend von Allerseelen. Der Regen hing an den nassen Mauern und weinte in langsam fallenden Tropfen von den welken Blättern im Park. Ein dicker grauer Nebel lag auf der Heide draußen, und das alte Schloß stand mitten darin wie eine verschwimmende Schattenzeichnung aus einem wirren Traumland.
Drinnen aber, im Saal neben der Schloßkapelle, saßen Damen im Reifrock und gepuderter Perücke und Kavaliere in seidenen Kniehosen, den Galanteriedegen durch den Rock von buntem Samt gesteckt. Das waren die Gäste der Marquise von Elmenor.
Die feinen Möbel mit den zierlich geschweiften Beinen und den goldenen Beschlägen nahmen sich ein wenig sonderbar aus zwischen den dicken, plumpen Mauern – wie ein lockeres Liebeslied in einem Gefängnis. Die Zeit der Aufklärung war gekommen, die grauen Wände von Elmenor hörten nicht mehr Beten und Schwören und Fluchen wie einst, sondern weiches, girrendes Frauenlachen und die spitzen Bonmots aus der Residenz.
»Mon Dieu, was ist das für eine Nacht«, sagte der alte Graf und humpelte auf dürren, gichtigen Beinen an den Kamin, um das Feuer mit der Ofenzange anzufachen, »der Sommer ist vorüber, im nassen Park kann man keine Pfänderspiele mehr aufführen. Überall welke Blätter, es erinnert sehr peinlich an die Auflösung.«
»Trinken Sie Burgunder«, sagte die Marquise von Elmenor gleichgültig, »es ist gut für Ihr Alter. Unser Sommer ist auch vorüber, mon ami.«
»An so etwas denkt man nicht, meine Liebe«, sagte der Graf, »und wenn man es bedenkt, so redet man besser nicht davon. Wir müssen nach Paris, ma chère, hier ist es wenig amüsant geworden. Ich glaube, wir sehen noch Gespenster in dem alten Kasten, wenn wir hierbleiben.«
»Es spukt nicht im Zeitalter der Aufklärung, Monsieur«, sagte die Marquise gelangweilt, »das sollten Sie doch eigentlich wissen. Unsere Philosophen schreiben gelehrte Exkurse über die Vernunft, und Sie reden von Gespenstern. Das ist ennuyant, mein Herr.«
»Es soll ein Mann hier umgehen, mit dem Kopf unter dem Arm, aus der Zeit der Kreuzzüge«, sagte eine junge Dame vorlaut.
»Hören Sie. Das ist ein Urahn von Ihnen, Marquise«, sagte der alte Graf bedenklich. »Sie verleugnen Ihre eigne Familie, das ist nicht nett von Ihnen, Madame.«
»Pas grande chose, ich habe noch heute Kavaliere ohne Kopf im Hause«, sagte die Marquise maliziös.
»Sie werden bissig, teure Freundin«, sagte der Graf, »das sollten Sie nicht sein. Als Sie jung waren, haben Sie mich nicht so behandelt. Mon Dieu, die Zeit vergeht. Womit habe ich das verdient? Ich, der Ihnen immer zu Füßen lag, Marquise?«
»Als Sie jung waren, hatten Sie noch keine Gicht und sprachen nicht so dégoûtant von Auflösung und von Gespenstern, sondern von angenehmen Dingen, die durchaus anderer Art waren.«
»Ich kann es übrigens gut verstehen, daß der Mann ohne Kopf herumgeht. Wahrscheinlich hat er den Verstand verloren«, sagte der alte Graf und seufzte, »als Sie noch jung waren, liebe Freundin, und noch nicht Rouge auflegten …«
»Wie ungalant!« sagte die Marquise und klappte verärgert mit dem Fächer.
Die jungen Damen lachten.
»Was ich eigentlich sagen wollte, Marquise, ist aber viel galanter. Ich wollte sagen – als Sie noch jung waren und noch nicht Rouge auflegten, habe ich auch um Ihretwillen den Verstand verloren.«
»Kleinigkeiten verliert man leicht«, sagte die Marquise, und diesmal lachten die Kavaliere.
Der Graf lenkte ab. »Der Mann ohne Kopf ist aus Ihrer Familie, also seien Sie nicht so herzlos. Auch war er ein Kreuzfahrer, und Sie sollten mehr Respekt davor haben, Madame!« sagte er.
»Unter einem Kreuzzug kann ich mir heute nicht viel mehr vorstellen«, sagte die Marquise, und ihr Reifrock raschelte kokett und sündig, »wenn ich mir, par exemple, denken soll, daß Sie, lieber Graf, sich heute zu einem Kreuzzuge rüsten wollten – incroyable, nicht wahr?«
»Sie haben recht, liebste Freundin«, sagte der Graf, »ich trage zwar seidene Wäsche, aber bei einem Kreuzzug würde ich mir ganz bestimmt den Schnupfen holen.«
»Wir wollen die arme Seele schlafen lassen und ihr angenehme Ruhe wünschen«, sagte jemand, »auch wenn sie so taktlos ist, dazwischen mit dem Kopf unter dem Arm unter uns spazierenzugehen.«
»Wir wollen an sie denken, morgen ist Allerseelen«, sagte das Fräulein von Elmenor leise, und irgendwie war es ihr, als liefe ein Schauer über sie.
»Mon Dieu, mein Kind«, sagte die Marquise, »du wirst sentimental. Allerseelen ist für arme Leute, die noch daran glauben. Es gibt keine Seele, ma chère, bloß die Vernunft, den esprit. Voilà tout. Man lebt und man liebt. Nachher ist es aus. Je mehr man liebte, um so mehr hat man gelebt. Der Tod versteht nicht zu küssen.«
»Die Lehre von der Seele ist Spielzeug«, sagte der Graf, »aber sehr brauchbar pour la politique, sehr nötig für die canaille. Wenn die canaille nicht daran glauben wollte, so würde sie uns alle über den Haufen rennen. Ein Schafott ist schnell gebaut.«
»Fi donc«, sagte die Marquise, »wie unappetitlich!«
»Wenn eure Seelen Spielzeug sind, verpfändet sie!« rief jemand, aber es war eine fremde Stimme, und man wußte nicht, wer diese Worte gesagt hatte. Das war auch gleichgültig, der Gedanke war hübsch.
»Ja, ein Pfänderspiel!« riefen die Damen und Kavaliere.
»Wofür verpfänden Sie Ihre Seele, Marquise?« fragte der alte Graf.
»Für eine Stunde der Jugend«, sagte die Marquise und lächelte mit geschminkten Lippen, »und Sie, mon ami?«
»Einstmals für ein Strumpfband von Ihnen, teure Freundin. Aber das ist nun impossible. Heute, vielleicht, um eine Flasche Burgunder. Vielleicht auch nicht. Kann man überhaupt etwas verlangen, wenn das Pfand nichts wert ist? Pour une bagatelle?«
»Würden Sie auch Ihre Seele verpfänden, Monsieur?« fragte das Fräulein von Elmenor den Kavalier, der neben ihr saß.
»Zehnmal, mein Fräulein«, sagte er, »um die Rose von Ihrer Brust.«
»Das ist sehr kühn, mein Herr. Wissen Sie nicht, was das bedeutet?«
»Das bedeutet einen Kuß in einer verschwiegenen Kammer«, sagte der Kavalier und neigte sich nahe zu ihr.
»Sie sind sehr dreist, und ich habe nicht gefragt, um eine Antwort zu bekommen. Auf solche Fragen antwortet man nicht. Sie sind ein Fant, mein Herr, ich habe keine Lust, Ihnen meine Rose zu schenken. Et puis – wenn die Seele nur eine bagatelle ist, so bieten Sie ja auch nichts für einen Kuß. Und ist eine Liebe ohne Seele überhaupt eine Liebe?«
»Wenn die Seele aber doch eine bagatelle ist«, sagte der Kavalier, »was soll sie dann bei der Liebe, mein Fräulein?«
»Ich weiß es nicht«, sagte das Fräulein von Elmenor und lachte, »vielleicht haben Sie recht. Mama sagt es ja auch. Ich werde es mir überlegen. Wir wollen sehen – nach Mitternacht.«
»Oh«, sagte er beglückt, »nach Mitternacht?«
»Wer weiß, was nach Mitternacht sein wird«, sagte das Fräulein von Elmenor, »Mitternacht ist bald.«
»Es wird kalt im Salon«, sagte die Marquise und fröstelte, »es zieht so abscheulich aus der alten Kapelle nebenan. Die Tür muß sich geöffnet haben. Diese düstere Kapelle chokiert mich überhaupt schon seit langem.«
»Vielleicht sitzt der Mann ohne Kopf darin«, sagte der Graf, »wir wollen die Türe schließen, wir wollen sie ganz schließen – pour toujours. Wir brauchen die alte Kapelle mit dem ungesunden Grabeshauch nicht so nahe an unserem eleganten Salon. Wir echauffieren uns nicht mehr um unser Seelenheil. Voilà!«
Er schloß die Tür zur Kapelle, öffnete das Fenster, an das der Regen schlug, und warf den Schlüssel in weitem Bogen hinaus in den dunklen, schlammigen See.
Die Damen und Kavaliere klatschten Beifall.
»Nun wollen wir ein Menuett tanzen!«
»Die Flöte liegt auf dem Spinett. Wer von den Herren spielt uns auf?«
Als der Graf sich umwandte, schien es, als wenn das Zimmer dunkler geworden wäre. Die Kerzen flackerten ängstlich, Schatten huschten an den Wänden, und die kunstvolle Pendüle auf dem Kaminsims schlug mit feinen, silberhellen Schlägen Mitternacht.
Am Platz des Grafen aber, ganz oben am Tische, saß der schwarze Kavalier.
Er war ungewöhnlich groß und hager und ganz in Schwarz gekleidet. Die dürren, langen Beine steckten in schwarzseidenen Kniehosen, ein schwarzer Rock umschloß eine Gestalt, die mehr einem Gerippe als einem menschlichen Körper glich, und auch sein Degen lag in schwarzer Scheide. Aus den zarten Spitzen der Ärmel ragten magere Hände hervor, knochig und von einer beinahe weißen Blässe. Die gleiche Farblosigkeit zeigte sein Gesicht, das fast an einen Totenkopf erinnerte. Die Augen ruhten tief in ihren Höhlen und waren groß und sehr ausdrucksvoll. Eine unheimliche Erscheinung war dieser ungebetene Gast.
Sogar die Marquise fühlte etwas wie Furcht in sich aufsteigen. Aber sie beherrschte sich.
»Monsieur«, sagte sie, »wollen Sie mir erklären, wie Sie an diesen Platz kommen? Ich habe nicht die Ehre Ihrer Bekanntschaft. Man pflegt sich der Dame des Hauses vorzustellen, mein Herr.«
Der schwarze Kavalier verbeugte sich.
»Mein Name dürfte Ihnen unwillkommen sein, Madame.«
»Wenn Sie schon ein Anonymus bleiben wollen«, sagte der Graf amüsiert, »so gestatten Sie, daß wir Ihnen eine Rolle in unserem Cercle zuweisen. Wenn Sie nicht reden wollen, wie wäre es, wenn Sie spielten? Die Flöte liegt auf dem Spinett, mein Herr. Wir wollten gerade ein Menuett tanzen.«
»Sehr gern, Monsieur«, sagte der schwarze Kavalier und lächelte. Die dünnen Lippen verzerrten sich und ließen große Zähne sehen. Es war mehr ein Grinsen als ein Lächeln.
»En avant, meine Damen und Herren«, rief die Marquise, »treten Sie an zum Tanz. Wir haben einen fremden Ritter als Spielmann – wie geheimnisvoll und romantisch, nicht wahr?
Ein Menuett, Monsieur, wenn es Ihnen beliebt!«
Sie lachte, aber sie war blaß geworden unter der Schminke.
Der schwarze Kavalier erhob sich. Er sah nun noch weit größer und dürrer aus als vorher und überragte alle um eine reichliche Kopflänge. Man spöttelte, aber eigentlich nur, um ein Grauen zu ersticken.
Der schwarze Kavalier trat ans Spinett, nahm die Flöte und schlug den Deckel des Klaviers hastig zu. Die Saiten gaben einen wimmernden Ton von sich, der langsam verhallte.
»Soll man Sie nicht akkompagnieren, Monsieur?« fragte die Marquise.
»Nein, Madame. Es werden alle tanzen müssen. Auch Sie, Madame, wenn es beliebt.«
Mechanisch, willenlos, wie eine Puppe, stand die Marquise auf, und die Paare ordneten sich zum Tanz. Niemand sprach ein Wort.
Der schwarze Kavalier setzte die Flöte an die dünnen Lippen und begann zu spielen. Es war ein Menuett, und die Paare tanzten. Aber es war eine fremde Melodie, die keiner kannte. Sie war bar aller Harmonien, sie war so gräßlich, so über alle Begriffe entsetzlich, daß jedem die Lust am Tanzen verging. Und doch bewegten sich alle weiter, puppenhaft und taktmäßig nach diesem Menuett des Grauens.
»Das ist ein schrecklicher Scherz, Monsieur, c'est abominable«, sagte die Marquise atemlos, mit einem letzten Rest ihrer Kräfte, »machen Sie ein Ende!«
»Das tue ich, Madame«, sagte der schwarze Kavalier und setzte die Flöte von den Lippen.
»Meine Damen und Kavaliere, mein Auftrag war, Sie in jene Kapelle zu führen. Doch Sie haben sie verschlossen und den Schlüssel im See versenkt. Das ist schlimm für Sie, aber – que faire?«
»Und wohin führen Sie uns nun?« fragte der alte Graf, »unsere Geduld ist zu Ende.«
Der schwarze Kavalier lachte leise und häßlich.
»Lassen Sie den Degen stecken, echauffieren Sie sich nicht. Wohin ich Sie führe, meine Damen und Herren? Hat Ihnen mein Menuett das nicht verraten? In die Totengruft!« Jemand schrie auf, leer und blechern, mit einer irren, ihm selber vollkommen fremden Stimme.
»Ist das etwas Besonderes?« sagte der schwarze Kavalier. »Pas grande chose, n'est-ce pas, Madame? Ihre Seelen leben doch weiter, oder haben Sie keine Seelen? Sie sprachen ja schon davon, was die Seele ist – ein Spielzeug, une bagatelle, nicht wahr? Nous verrons. Sie wollten nicht in die Kapelle. Eh bien, es ist auch hier sehr angenehm. Bleiben Sie hier, meine Damen und Kavaliere.«
»Was ist das für ein Spiel, Monsieur?« flüsterte die Marquise, »das ist entsetzlich.«
»Das Spiel ist aus, Madame«, rief der schwarze Kavalier und warf ihr die Flöte vor die Füße. Die Flöte zerbrach. Das Menuett des Grauens war ihr letztes Menuett gewesen.
Da erloschen die Kerzen und der Sturm riß heulend die Fenster auf. Der schwarze Kavalier war verschwunden.
Die Chronik ließ es im ungewissen, wie der schreckliche Zufall zu erklären sei, daß der ganze kleine, intime Cercle der Marquise von Elmenor in einer Nacht verschieden war. War es ein plötzlicher, furchtbarer Schreck, der alle tödlich ergriffen hatte, oder war eine unbekannte Seuche durch eine der alten Türen geschritten und hatte den lebensfrohen Kreis mit ihren kalten Krallen dahingerafft? Der Chronist begnügte sich damit, aufzuzeichnen, daß man die Damen und Kavaliere im Salon neben der Kapelle am Morgen nach jener Novembernacht, die dem Tage Allerseelen voranging, verblichen aufgefunden habe, mit einem schwer zu beschreibenden Ausdruck des Entsetzens in den Zügen. Die Bestattung sei unter diesem unheimlichen Eindruck in großer Eile und ohne die besonderen, sonst üblichen Förmlichkeiten erfolgt. Begreiflich war es auch, daß niemand mehr nach diesem schrecklichen und geheimnisvollen Ereignis auf dem Landsitz der Marquise wohnen wollte. Schloß Elmenor war verlassen und lag in tiefem Schlafe.
Die Toten aber, die alle zusammen im Salon der Marquise gestorben waren um jene Mitternacht, als der schwarze Kavalier ihnen das Menuett des Grauens auf der Flöte gespielt hatte, die Toten von Elmenor schliefen nicht.
Sie saßen weiter auf den feinen, zerbrechlichen Stühlen mit den geschweiften Beinen und den goldenen Beschlägen, elegant und vornehm wie damals, aber mit blassen Gesichtern und, wie es ihnen selber schien, mit sehr schattenhaften Leibern und spinnwebdünnen Kleidern. Sie wußten nicht, waren sie tot oder lebendig. Sie lebten, und lebten doch nicht wie einst, sie lebten gleichsam ein feineres Dasein, ein Dasein in den Seelen. Aber gab es Seelen? Das alles war unklar, seltsam gedämpft und sehr qualvoll, wenn man versuchte, es zu begreifen. Wie ein Schleier lag es um sie, und nur eines erschien ihnen notwendig und unvermeidlich: den Schlüssel zur Kapelle wiederzufinden. Es war dies wie ein Gebot an ihnen hängengeblieben von den Worten des schwarzen Kavaliers. Alles andre war wesenlos geworden, nicht mehr zu ihnen gehörig, wie ihre irdischen Körper, die sie forttragen sahen nach der Totengruft von Schloß Elmenor.
Hier, im Salon, wo der schwarze Kavalier gestanden, war das Letzte geschehen, was noch faßbar war. Alles andere griff irgendwie ins Leere, war mehr erträumt, als es gelebt war. So wiederholten sie Nacht für Nacht die Bewegungen und Reden der letzten Stunde, um vielleicht von hier aus, von jenem Augenblick, bevor ein dunkler Schleier auf sie alle fiel, den neuen Boden für ein neues Dasein zu finden. Aber das fühlten sie deutlich: Das alles war nichts, wenn sie nicht den Schlüssel zur Kapelle wiederfanden. Denn in die Kapelle sollten sie geführt werden, die sie sich selbst verschlossen hatten. Dies war ja der Auftrag des schwarzen Kavaliers gewesen.
So saßen sie beisammen und suchten den Schlüssel Nacht für Nacht, weit über hundert fahre. Aber sie hatten kein Zeitempfinden mehr, und die kunstvolle Pendüle auf dem Kaminsims war stehengeblieben, nur wenige Minuten nach Mitternacht, als sich der schwarze Kavalier an den Tisch gesetzt hatte.
Über hundert Jahre vergingen, und Schloß Elmenor verfiel. Graue Nebel krochen langsam um graue Mauern, an denen viele Geschlechter gebaut hatten, auf den trotzigen Türmen knarrten die Wetterfahnen, und die alten Bäume im Park neigten ihre Kronen und flüsterten im Abendwind. Rundum war weite, menschenleere Heide.
Nur um Mitternacht huschte ein scheuer Schein von flackernden Kerzen von Fenster zu Fenster – das waren die irren Lichter von Elmenor.
Es war schon in der heutigen Zeit, als einmal ein Hirtenknabe auf der weiten, menschenleeren Heide war mit seinem Hunde und mit seinen Schafen. Es war Nacht geworden, eine weiche Sommernacht. Die Schafe hatten sich gelagert, Leuchtkäfer schwirrten durch die blaue Dämmerung, und ein Duft von Blüten hing über der Heide wie ein Märchentraum. Es war stille und friedvoll, und nur Schloß Elmenor stand drohend da wie ein dunkler Schatten. Es ging auf Mitternacht.
Der Hirtenknabe stützte den Kopf in die Hände und seufzte.
»Ich möchte mehr sein als nur ein Schäfer«, sagte er.
Der Hund wedelte freundlich und beruhigend mit dem Schwanz und legte sich zu Füßen seines Herrn auf die Heide.
»Es ist etwas sehr Großes um einen wirklichen Hirten«, sagte er, »nur sind die guten Hirten sehr selten. Wir alle aber, ich und die Schafe, wissen es und werden es zu jeder Zeit bezeugen, daß du ein echter Hirtenknabe bist.«
»Ich möchte ein Sieger sein und kein Hirte«, sagte der Knabe.
»Die wahren Sieger waren alle auch Hirten«, sagte der Hund. Die Schäferhunde wissen so sehr viel.
»Vielleicht hast du recht«, sagte der Knabe, »es ist eine sonderbare Nacht heute, und es mag sein, daß ich darum so viel über alles nachdenken muß. Es rief mich zweimal heute abend mit einer inneren Stimme, und nun, wo es auf Mitternacht geht, ruft es mich zum dritten Male. Mir ist, als wäre es Schloß Elmenor, von wo ich gerufen werde.«
»Wenn es so ruft mit einer inneren Stimme, dann ist es eine Schwesterseele, die dich ruft, weil sie in Not ist«, sagte der Hund, »dann mußt du gehen, wohin es dich ruft.«
Die Tiere sind so viel klüger als die Menschen, denn sie sind oft in Not und rufen nach einer Schwesterseele, aber das werden die Menschen erst verstehen, wenn sie Hirten und Sieger geworden sind, und dann wird die Erde erlöst werden durch den heiligen Gral, denn Hirten und Sieger zu rufen, ist seine Sendung.
»Es ist nicht geheuer in Elmenor«, sagte der Hirtenknabe, »ich fürchte mich ein wenig, dort hineinzugehen. Es huscht ein scheuer Schein von Fenster zu Fenster, und es flackern darinnen Kerzen um Mitternacht.«
»Ich würde dich gerne begleiten«, sagte der Hund, »aber ich muß deine Schafe bewachen, damit du in Frieden gehen kannst. Du brauchst dich auch nicht zu fürchten, denn du bist ein Hirte mit Waffen und Wehr. Du behütest, und du wirst selber behütet von anderen Hirten. Ihr seid eine geweihte Ritterschaft, und auf euch hoffen Menschen und Tiere.«
Da ging der Hirtenknabe hinaus nach Schloß Elmenor.
Als er den Saal betrat, in dem die flackernden Kerzen brannten, schlug die kunstvolle Pendüle auf dem Kaminsims Mitternacht, und das hatte sie nicht mehr getan seit über hundert Jahren. Um den Tisch herum aber saßen die Damen und Herren in den alten, verblichenen Gewändern, genauso wie in jener schauervollen Nacht, als ihnen der schwarze Kavalier erschienen war. Sie flüsterten miteinander und schienen etwas zu suchen.
Der Hirtenknabe sah sie nur durch einen Schleier, wie Schattenrisse mit blassen Farben, alten Gemälden ähnlich, die nachgedunkelt sind. Nur eine Gestalt hob sich leuchtender aus den anderen hervor, und sie kam langsam und zögernd auf ihn zugeschritten. Das war das junge Fräulein von Elmenor, und dem Hirtenknaben schien es, als erkenne er jemand in ihr, den er lange vergessen und doch lange gesucht hatte.
»Bist du es, den ich gerufen habe, schöner Knabe?« fragte sie und lächelte, ein weiches, verlorenes und verträumtes Lächeln, so wie alte Pastellbilder lächeln in alten, verfallenen Häusern.
Und der Hirtenknabe sah, daß sie sehr schön war.
»Bist du es, die mich gerufen hat?« fragte er, »dann bist du wohl meine Schwesterseele und bist in Not gewesen, weil du mich riefst.«
»Wir alle hier sind in Not«, sagte das Fräulein von Elmenor, »die anderen fühlen es nur noch nicht so tief wie ich. Wir suchen einen Schlüssel, den wir verloren haben, schon über hundert Jahre. Es ist so mühsam, hundert Jahre lang zu suchen. Es ist der Schlüssel zu jener Türe, den wir verloren haben. Sie führt in die Kapelle, und es steht ein Kreuz darin auf einem Altar. Wir haben uns selber die Türe verschlossen, und dann kam der schwarze Kavalier und setzte sich an unseren Tisch. Die anderen träumen immer noch und wissen nicht, ob sie leben oder ob sie gestorben sind, aber ich wurde wacher und wacher, und ich weiß es nun, daß wir nur durch das Kreuz auf dem Altar aus dieser Mitternacht wieder herausfinden können. Da rief ich in meiner Not nach meiner Schwesterseele, daß sie uns den Schlüssel zur verschlossenen Türe suchen helfe.«
»Ich brauche euren Schlüssel nicht zu suchen und nicht zu finden, ich bin ein Hirtenknabe, und zum Kreuz auf dem Altar steht mir jede Tür offen. Wenn die Sonne aufgeht, will ich dich dorthin geleiten.«
Das Fräulein von Elmenor sah den Hirtenknaben lange an, und ihre Augen wurden tief und lichtvoll.
»In jener Nacht, bevor der schwarze Kavalier gekommen war«, sagte sie leise, »wollte ich die Rose an meiner Brust verschenken. Aber ich tat es nicht, und ich bin froh, daß ich es nicht getan habe. Es ist nichts um eine Liebe ohne Seele. Aber heute habe ich meine Schwesterseele gefunden, und heute will ich dir meine Rose schenken. Weißt du, was das bedeutet, schöner Knabe?«
»Vielleicht weiß ich es, schöne Dame«, sagte der Hirtenknabe, »vielleicht war das schon viele Male, daß du mir deine Rose schenktest, vielleicht wird es wieder einmal sein. Wir kennen uns ja schon so lange, viele tausend Jahre.«
»Die Rose von der Brust bedeutet einen Kuß in einer verschwiegenen Kammer«, sagte das Fräulein von Elmenor und lachte. Sie lachte zum ersten Male wieder seit über hundert Jahren.
Irgendwo in der Ferne der Heide hörte der Hirtenknabe den Schäferhund bellen, und er dachte an seine Herde.
»Ich werde dich einmal wieder küssen«, sagte er, »aber heute bin ich in dieser Welt, die mich ruft, und du in jener. Ich darf dich heute nur geleiten, wenn die Sonne aufgeht, nicht mehr. Dann muß ich zurück zu meiner Herde.«
»Noch ging die Sonne nicht auf – und sind wir nicht Schwesterseelen, in dieser und in jener Welt?«
»In kaum einer Stunde ist Sonnenaufgang«, sagte er.
»Auch eine Stunde kann eine Ewigkeit sein«, sagte sie, und sie nahm die Rose von ihrer Brust und reichte sie dem Hirtenknaben. Und sie küßte ihn lange, lange – eine Stunde, die eine Ewigkeit war.
Dann ging die Sonne auf über der weiten Heide und über Schloß Elmenor.
Lautlos öffneten sich die verschlossenen Türen zur Kapelle, und der Hirtenknabe führte das schöne Fräulein von Elmenor an den Altar mit dem Kreuz darauf. Hier küßten sie sich zum letzten Male auf der Schwelle von dieser zu jener Welt.
Um sie herum standen Damen und Herren aus jener Nacht, als der schwarze Kavalier nach Schloß Elmenor gekommen war, und wie sie mit den träumenden Schattenaugen die Sonne über dem Kreuz erblickten, war es, als ob sie sich langsam auflösten und in klaren, durchleuchteten Gestalten über eine Brücke von Rosenranken am Fenster hinaufschritten, ins Morgenlicht hinein. Ihnen allen voran aber schritt der schwarze Kavalier – friedvoll und freundlich und in einem Kleide von Sonnengold.
Die letzte Gestalt, die der Hirtenknabe im Morgenlicht verschwinden sah, war das schöne Fräulein von Elmenor. Sie wandte sich noch einmal nach ihm um und sah ihn lange an mit den Augen der Schwesterseele.
Dann stand er allein in der alten Kapelle. Die Sonne spielte um Altar und Kreuz, und er hielt eine rote Rose in der Hand. In weiter Ferne läutete eine Glocke. Da ging der Hirtenknabe zu seiner Herde zurück.
Der Hirtenknabe hat niemals gefreit. Aber er wurde aus einem Hirtenknaben ein großer Hirte und ein Sieger, und er hütete die Seelen der Menschen und der Tiere. Er wanderte stille und einsame Wege, die sehr beschwerlich waren. Aber die rote Rose von Elmenor trug er immer auf seinem Herzen. Und er harrte geduldig auf den Tag, an dem dieses Pfand wieder eingelöst würde von seiner Schwesterseele in einem anderen Land.
Das ist die Geschichte von Schloß Elmenor.
Ihr Heutigen und ihr Kommenden, hütet die Seelen der Menschen und die Seelen der Tiere, sucht auf allen Wegen die Schwesterseelen und baut ihnen Sonnenbrücken zwischen dieser und jener Welt.
Und wenn ihr den Toten begegnet, ihr Heutigen und ihr Kommenden, und sie haben sich die Türen zum Heiligtum verschlossen – seid ihnen friedvolle Hirten und führt sie behutsam aus den verfallenen Mauern und den Schatten vergangener Zeiten zum Kreuz auf dem Altar und über die Rosenranken ins Morgenlicht hinein.
Die Welt ist so sehr verworren. Es gibt überall so viele alte, dunkle Häuser, und es gibt in ihnen so viele flackernde Kerzen um Mitternacht, wie die irren Lichter von Elmenor. Ihr Heutigen und ihr Kommenden, werdet Hirten und werdet Sieger, auf daß die Erde erlöst werde durch den heiligen Gral. Denn Hirten und Sieger zu rufen, ist seine Sendung.