Artur Landsberger
Haß
Artur Landsberger

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Viertes Kapitel

Wie der junge Stoelping den Dr. Hempel zum Sprechen brachte

Als Willi von Stoelping das Ministerialgebäude verließ, wußte er, daß er jetzt die Möglichkeit hatte, den Weg, den brennender Ehrgeiz ihm seit Jahren wies, zu betreten.

War in dem, was dieser russische Spitzel angab, auch nur ein Körnchen Wahrheit, dann spielte ihm hier der Zufall einen Prozeß in die Hände, dessen politische Bedeutung bei geschickter Führung unabsehbar war. Dann war eine ständige Verbindung mit dem Auswärtigen Amt hergestellt, zu dessen Fenstern er jeden Morgen, wenn er mit seinem Auto vorüberfuhr, sehnsüchtige Blicke hinaufwarf und dachte: wenn ich doch erst da oben säße! Und die Fäden, die dann in seinen Händen zusammenliefen und seiner Tätigkeit und auch seiner Person eine gewisse Bedeutung gaben, wollte er dazu benutzen, um sich an den entscheidenden Stellen Einfluß zu sichern und sich unentbehrlich zu machen.

Als erstes hieß es nun, planmäßig vorgehen. Das war kein alltägliches Verbrechen, wie etwa Diebstahl oder Betrug, die sich in der Ausführung wie in der Psychologie der Täter glichen wie ein Ei dem anderen, und die man mit geschlossenen Augen nach einem bestimmten Schema erledigen konnte. In diesem Falle hieß es, zunächst eine unauffällige Verbindung mit diesem Dr. Hempel herstellen. Eine Vernehmung auf Grund der Aussagen des Vafiadis konnte bei noch so großer Vorsicht und Geschicklichkeit nur zur Folge haben, daß das wenige, was man wußte und worauf man weiterbauen konnte, auch noch verwischt und entwertet wurde. Und darüber war er sich klar: Indem man drohte oder gar Zwang anwandte, brachte man Leute dieser Art nicht zum Reden. Bei ihnen erreichte man nichts, wenn es einem nicht gelang, ihr Vertrauen oder gar ihre Freundschaft zu gewinnen. Bei ihrem Argwohn, einer Folge der ständigen Angst, in der sie lebten, war das nicht leicht; aber um so mehr reizte es ihn. Und mit dem Bewußtsein, zum ersten Male vor eine wirklich große Aufgabe gestellt zu sein, machte er sich an die Arbeit.

Er nahm einen Bogen aus seinem Schreibtisch und schrieb an den Ordinarius für Literaturgeschichte an der Berliner Universität, Professor Schott.

»Vertraulich.

Sehr verehrter Herr Professor!

Es besteht der begründete Verdacht, daß einer Ihrer Schüler einer anarchistischen Organisation angehört. Es liegt daher im Interesse der Behörde, in geräuschloser Weise die Fäden dieser Organisation zu entwirren, um bereits begangene Verbrechen aufzudecken und künftige zu verhindern. Ich bitte daher, meinem Referendar, Herrn Dr. Ernst Mandel, aus Gründen, die Ihnen deutlich sein werden, die Erlaubnis zur Teilnahme an Ihren seminaristischen Arbeiten zu geben. Ich bin, sehr verehrter Herr Professor, mit der Versicherung besonderer Hochschätzung

Ihr sehr ergebener

W. von Stoelping,
Staatsanwalt.«  

Den Brief sandte Stoelping durch einen Boten, dem er auftrug, auf Antwort zu warten, in die Universität.

Die Antwort lautete:

»Herrn Staatsanwalt Dr. von Stoelping.

Hochgeehrter Herr Staatsanwalt!

Es tut mir leid, Sie abschlägig bescheiden zu müssen.

So bedingungslos ich auf dem Boden des Gesetzes stehe, und so sehr ich wünsche, daß alle Verstöße gegen die staatliche Ordnung verfolgt und geahndet werden, so kann ich doch nicht meine Einwilligung dazu geben, daß die Königliche Staatsanwaltschaft ihre gewiß segensreiche Tätigkeit in mein Germanistisches Seminar verlegt.

Haben Sie Ursache, zu vermuten, daß einer meiner Schüler des von Ihnen erwähnten Verbrechens verdächtig ist, so werden Ihnen für Ihre Nachforschungen zweifellos andere und geeignetere Möglichkeiten zu Gebote stehen als die beiden Stunden am Freitag nachmittag, an denen ich meine seminaristischen Übungen abhalte.

Die Gegenwart eines Beamten der Königlichen Staatsanwaltschaft, der meine Lehrtätigkeit dazu benutzt, einem anarchistischen Verbrechen eines meiner Schüler nachzuspüren, wäre für mich ebenso kränkend wie für meine Schüler.

Ist Ihr Verdacht aber sachlich begründet, und richtet er sich gegen einen Bestimmten, dann muß ich im Interesse der freien Lehrtätigkeit, deren Würde ich zu wahren habe, sowie mit Rücksicht auf meine Schüler und nicht zuletzt aus persönlichem Reinlichkeitsgefühl die ganz bestimmte Forderung an Sie richten, den Verdächtigen namhaft zu machen, damit seine Entfernung auf disziplinarischem Wege erfolgen kann.

In aller Hochachtung bin ich, Herr Staatsanwalt,

Ihnen ergeben.

Professor Richard Schott.«

»Ist das zu glauben!« rief Stoelping und reichte dem Referendar das Schreiben. »Ob man solchen Menschen nicht einfach zwingen kann?«

Der Referendar, der den Brief schnell überflogen hatte, erwiderte:

»Kaum! – Wenn ich mir eine Meinung erlauben darf . . .«

»Bitte!« entgegnete Stoelping.

»Von seinem Standpunkte aus . . .« Der Referendar zögerte.

»Was ist von seinem Standpunkte aus?« drängte Stoelping.

»Ich wollte nur sagen,« und dabei sah er aus Verlegenheit auf den Brief, obgleich er ihn längst zu Ende gelesen hatte, – »daß der Standpunkt des Herrn Professor korrekt und würdig ist.«

»Korrekt und würdig?!« wiederholte Stoelping laut, »das ist es ja! als ob es darauf ankäme! Wo es sich um Staatsinteressen handelt, die in ihrer Bedeutung unabsehbar sind. Korrekt und würdig! Das mögen ja für den Privatgebrauch äußerst schätzbare Tugenden sein. Sind es sogar ohne Zweifel. Niemand ist peinlicher und gewissenhafter als ich in allem, was meine Person angeht. Aber man kann doch seine persönlichen Grundsätze nicht in die Politik übertragen.«

»Mir scheint, daß wir Deutsche, wenn vielleicht auch nicht immer zu unserem Vorteil, das doch tun,« erwiderte der Referendar. »Und am Ende ist ein gutes Gewissen auch für ein ganzes Volk mehr als eine bloße Phrase.«

Stoelping verstummte. Die Ansicht, die der Referendar mehr überzeugt als überzeugend vertrat, war Sache des Gefühls und – deutsch! Das wußte er, und darum kränkte es ihn, daß er anders fühlte.

Und der Referendar, der nun einmal im Reden war, fuhr fort:

»Und ich glaube, das liegt im Volkscharakter, und darum fühlen darin auch alle Deutschen gleich. Lieber auf kleinem Raume und in engen Verhältnissen leben, aber die schwarzweißrote Flagge, für die sich jeder einzelne der Welt gegenüber verantwortlich fühlt, und die seinem Herzen näher ist als das Hemd, rein halten, als auf allen Erdteilen und Meeren herrschen und eine Flagge führen, die für alle Welt das Sinnbild der Heuchelei und Lüge ist.«

Stoelping rückte unruhig hin und her, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, trommelte mit den Fingern auf die Lehne seines Sessels, bewegte nervös den Kopf, stand schließlich auf und ging erregt im Zimmer umher.

Schon wieder! sagte er sich mit einer Wut, die sich gegen ihn selbst kehrte, – schon wieder ertappe ich mich!

Und er preßte den Kopf gegen die Fensterscheibe und quälte sich immer wieder mit der Frage:

Warum kann ich nicht fühlen wie er?

*

So sehr Stoelping daran lag, möglichst außeramtlich in Verbindung mit Dr. Hempel zu kommen, so sah er schon nach seinem ersten Mißerfolge, wie schwer das war.

An sich bestand die Möglichkeit, einen seiner Leute zur Teilnahme an den germanistischen Übungen in das Seminar des Professors zu senden, auch nach dem Refus fort. Erfüllte sein Vertrauensmann nur die für die Teilnahme erforderlichen Bedingungen, die sich in dem Nachweis des Reifezeugnisses, einer gewissen Anzahl von Semestern und des Besuchs bestimmter Vorlesungen erschöpfte, so fand er Aufnahme wie jeder andere. Und kein Mensch zwang ihn, dem Professor zu sagen, daß seinem Besuche tatsächlich andere Motive zugrunde lagen. In dem Falle hätte er freilich besser getan, gar nicht erst an den Professor heranzutreten. Er hätte sich dann auf seinen guten Glauben berufen können, was nun nicht mehr möglich war.

Nicht ohne ein bitteres Gefühl gegen den Professor, wie gegen den Referendar legte Stoelping den Brief beiseite.

In seinem Streben, mit Dr. Hempel auf außergerichtlichem Wege bekannt zu werden, kam er auf die verschiedensten Einfälle und entschied sich schließlich für folgenden.

In die Rubrik »Unterricht« bzw. »Literatur« der gelesensten Berliner Tageszeitungen ließ er mehrere Tage hintereinander folgende Anzeige aufnehmen:

Brüder Hauptmann-Literatur.

Privatgelehrter, Germanist, dem daran liegt, seine Hauptmann-Literatur lückenlos zu gestalten, bittet Fachgenossen und Antiquare, ihn auf käufl. Erstdrucke, ins Fach schlagende Dissertationen, Habilitationsschriften aufmerksam zu machen. Dr. G. F., Frankfurt a. M., Postfach 74.

Da dieser Fall durchaus aus dem Rahmen fiel, in dem sich alle Prozesse, die er sonst bearbeitete, bewegten, behandelte er ihn auch rein äußerlich als etwas, was außerhalb seiner eigentlichen Berufstätigkeit lag, legte Privatakten für den Fall an und betrachtete ihn schließlich nur noch als seine höchstpersönliche Angelegenheit.

Da er auf sein Ersuchen hin dem Generalstaatsanwalt, seinem Vater, nur alle vier Wochen über Stand und Fortgang der Untersuchung zu berichten brauchte, so war er in seiner Bewegungsfreiheit ziemlich unbeschränkt und konnte selbständig Maßnahmen treffen, für die er sonst die Einwilligung, mindestens aber die Genehmigung seiner Vorgesetzten benötigt hätte.

Unter einigen hundert Antworten war am dritten Tage auch der ersehnte Brief des Dr. Hempel.

Hempel schrieb:

»G. F., Frankfurt a. M., Postfach 74.

Sehr geehrter Herr!

Auf Ihr Inserat im Berliner Tageblatt teile ich Ihnen mit, daß ich mich demnächst an der Berliner Universität auf Grund einer Arbeit über die Brüder Hauptmann habilitiere.

Da die Arbeit das Ergebnis mehrjähriger sehr gründlicher Studien im Germanistischen Seminar unter Leitung des Professors Richard Schott darstellt, so darf ich hoffen, daß Sie mein Buch eines Platzes in Ihrer Bibliothek für würdig befinden werden. Ich werde mir jedenfalls erlauben, Ihnen meine Arbeit nach Drucklegung zugehen zu lassen.

Dankbar wäre ich Ihnen für Einsicht in Ihren Bibliothekskatalog.

In vollkommener Hochachtung

Dr. Günther Hempel.«

»Der Verkehr ist eröffnet,« sagte Stoelping schmunzelnd und reichte den Brief seinem Referendar, der ihm gegenüber saß und ihm beim Durchsehen der stoßweise vor ihnen aufgehäuften Briefe unterstützte. Der Referendar verbeugte sich und sagte:

»Ich gratuliere, Herr Staatsanwalt.«

Und während Stoelping triumphierend den Brief noch einmal las, schob der Referendar alle Briefe, geöffnete und noch verschlossene, an den Tischrand, um sie dem Papierkorb zu überantworten.

»Halt!« rief Stoelping. »Wie können Sie so wertvolles Material vernichten?«

Und als ihn der Referendar verständnislos ansah, sagte er:

»Glauben Sie, mit diesem einen Brief ist es getan? Halten Sie den Dr. Hempel durch diesen Brief für überführt? Nein, mein Lieber, jetzt beginnt erst mal eine lebhafte Korrespondenz zweier germanistischer Fachgelehrten; der eine ist Dr. Hempel, der andere sind wir! Und da wir von den beiden Hauptmanns nicht viel mehr wissen, als daß sie zwei große Dichter um 1900 herum waren, von denen der eine den ›Krieg‹, der andere den ›Florian Geyer‹ geschrieben hat, so werden wir, denke ich, unsere Kenntnisse mit Hilfe dieser Korrespondenz wesentlich und mühelos erweitern. Zum mindesten werden wir darin Anregung und Material für eine Menge von Fragen finden, die Dr. Hempel von dem Ernst und der Tiefe unseres Interesses überzeugen werden. Danach wird es nicht schwer fallen, auf andere Dinge, die uns im Augenblick näher liegen als dieser ganze Kram, überzugehen.«

Der Referendar flüsterte irgend etwas Unverständliches vor sich hin.

»Was wollten Sie sagen?« fragte Stoelping.

Und nach einigem Zögern erwiderte der Referendar:

»Ich meinte, der Herr Staatsanwalt ist ein ausgezeichneter Diplomat.«

»Wieso glauben Sie das?« fragte Stoelping erfreut.

»Weil Sie es verstehen, sich unter irgendeiner Maske Vertrauen zu gewinnen und, ohne Ihr eigenes Herz zu enthüllen, andere zu bestimmen wissen, sich Ihnen zu offenbaren.«

»Eine etwas komplizierte Definition für Diplomatie,« erwiderte Stoelping. »Sie hätten es kürzer fassen und sagen können: Diplomatie ist die Kunst, andere hineinzulegen.«

»Ohne selbst dabei hineinzufallen,« ergänzte der Referendar.

»Das ist erschöpfend,« sagte Stoelping lachend, »denn wenn die Diplomatie nun auch schon seit fünfzehn Jahren als Wissenschaft an unseren Hochschulen gelehrt wird, die Quintessenz bleibt: man kommt als Diplomat zur Welt oder als Esel; was Drittes gibt's nicht. Wenn der eine oder andere dadurch, daß er jahrelang Diplomatie ›studiert‹, vielleicht auch eines Tages aufhört, ein Esel zu sein – ein Diplomat wird er dadurch noch lange nicht.«

In der Folge entwickelte sich ein lebhafter Briefwechsel zwischen dem Literaturhistoriker Dr. Hempel und G. F., dem Frankfurter Privatgelehrten Dr. Gustav Fritz, der in Wirklichkeit Willi von Stoelping war.

In den ersten Wochen handelte es sich ausschließlich um literarische Wertungen. Man stritt sich, wer von den beiden Brüdern Hauptmann der bedeutendere sei und einigte sich schließlich dahin, Gerhart die dramatische, Carl die epische Superiorität zuzuerkennen. Und man fand, daß Gerhart von einer frühen Höhe in reiferen Jahren immer mehr und mehr ins rein Kontemplatorische verfiel, während umgekehrt Carl langsam aufsteigend, bis ins hohe Alter immer stärker wurde. Carls frühe Neigung, sich ins rein Geistige zu verlieren, seine Dichtungen fast ausschließlich auf die Zergliederung inneren Erlebens zu stellen, ohne die Form, in der diese Erlebnisse in die Erscheinung traten, bildhaft zu gestalten, – diese Neigung, die jeden äußeren Erfolg erschwerte, verlor sich bei Carl im Alter in demselben Maße, in dem sie sich bei Gerhart steigerte.

Davon hatte Hempel in Briefen, die oft zwölf Seiten stark waren, Stoelping endlich überzeugt. Zwar hatte der von Anfang an gegen diese Wertung nichts einzuwenden, hatte trotzdem aber mit Anstrengung seines ganzen Intellekts und unter Zuhilfenahme sämtlicher Literaturgeschichten Hempels Auffassung leidenschaftlich bekämpft. Erst als aus dem »Hochverehrter Herr« ein »Lieber Freund und Kollege« geworden war, erklärte er sich für überzeugt und schrieb:

»Nachdem ich Sie nun als Fachgenossen kennen und schätzen gelernt habe, ist es mein Wunsch, Ihnen auch menschlich näher zu kommen.«

Und Hempel antwortete:

»Lieber Freund!

Bedarf es wirklich noch dieser Anregung? Sind zwei Menschen, deren geistige Interessen zusammenlaufen, wie bei uns, nicht auch innerlich auf einander eingestimmt?«

Stoelping hoffte, Hempels Ahnungslosigkeit zu stärken und sein Vertrauen zu festigen, wenn er widersprach, und so schrieb er denn:

»Müssen Menschen, die bei Chopin dicht aneinanderrücken, sich die Hände reichen, die Augen schließen und den gleichen Widerhall der Töne in der Seele spüren, darum auch im Leben zueinander passen?«

»Gewiß nicht,« erwiderte Hempel, »aber ist nicht zwischen Menschen gerade das, was das Leben innerlich und äußerlich aus ihnen macht, das Verbindende? Zwei Fachgelehrte aus gleicher gesellschaftlicher Schicht können Freunde sein, auch wenn der eine Mozart, der andere Wagner liebt. Aber zwischen einem konservativen preußischen Beamten und einem Sozialisten, die, um Ihr Bild zu brauchen, bei Chopin aneinanderrücken, sich die Hände reichen und die Augen schließen und den gleichen Widerhall der Töne in der Seele spüren, wird doch niemals eine Freundschaft möglich sein. Schade, daß es so ist, und daß jede Freundschaft soziologische Merkmale aufweist; aber nur, wenn wir im Naturzustande lebten, könnte es anders sein! Und darin liegt denn wohl auch die Erklärung, daß man zwischen zwei grundverschiedenen Menschen so oft eine mehr als leidliche Freundschaft findet.

Indessen ich glaube nicht an eine solche Grundverschiedenheit zwischen uns. Ich habe auf Ihre letzten Zeilen hin Ihre sämtlichen Briefe noch einmal gelesen. Die Leidenschaft Ihrer Polemik, die doch immer sachlich bleibt, zeigt mir, daß Sie Temperament besitzen, das sich gewiß nicht nur in diesen Dingen äußert. Sie sind ein Feuergeist! Ich bin es auch. Menschen, die sich leidenschaftlich für oder wider etwas erwärmen können wie Sie, ziehen mich an; genau wie mich kalt berechnende Naturen, bei denen das Gehirn der Regulator ihrer Gefühle ist, abstoßen. – Und noch eins empfand ich beim Überlesen Ihrer Briefe: So bestimmt Sie in strittigen Punkten Ihre Meinung vertreten, – es sprach doch aus jedem Ihrer Briefe der Wunsch nach gegenseitiger Verständigung, nach Vertrauen, nach Frieden!

Und sehen Sie, gerade diese so wenig beabsichtigte Wirkung ist es, die mir mehr von Ihrem inneren Menschen zeigt, als ein langer persönlicher Verkehr mir gezeigt hätte! Und das ist es denn, was mich ermutigt und – wie ich glaube – berechtigt, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten.

Mit ergebenem Gruße

Ihr Günther Hempel.«

Und Stoelping ließ sich auch diesmal überzeugen.

Die Stelle, wo vom »Königlich preußischen Beamten« und vom »Sozialisten« die Rede war, unterstrich er und machte ein Kreuz an den Rand. Sie sollte der Angelpunkt sein, von dem aus er nun endlich zum Angriff übergehen wollte.

Wie vorsichtig er ist, dachte Stoelping, vom »Sozialisten« schreibt er; es lag ihm gewiß näher, vom »Anarchisten« zu schreiben. Daß er aber überhaupt ins Politische hinüberleitete, war ihm ein Beweis, daß er ohne Argwohn war.

»Sie haben recht,« schrieb er an Hempel, »und ich glaube Sie zu verstehen. Im Charakter fast jedes künstlerisch veranlagten Menschen, – und das sind ja wohl auch wir Literaten in gewissem Sinne, – liegt etwas Stürmisches, Drängendes, Aufrührerisches! Die Entwicklung in der Kunst und Literatur vollzieht sich nicht, wie anderswo, planmäßig und nach bestimmten Gesetzen; sie hat stets etwas Sprunghaftes, Revolutionäres und stürmt gegen das, was gerade im Werte steht, an; und die Ablösung des Alten durch das Neue vollzieht sich nicht wie in der exakten Wissenschaft, wo der Fortschritt etwas Reales und Bestimmbares ist, wie etwas Selbstverständliches und ohne Erschütterung.

Und so bekenne ich denn in diesem, wie in manchem anderen Sinne revolutionär zu sein. Und da auch Sie kein »Königlich preußischer Beamter« sind, so glaube ich, bei Ihnen eine ähnliche Gesinnung voraussetzen und die Freundschaft, die Sie mir anzubieten die große Freundlichkeit haben, annehmen zu dürfen.«

 

In dem Briefe, der nun folgte, wiederholte Hempel seinen Wunsch, endlich persönlich mit Dr. Fritz bekannt zu werden.

»Sie berühren da Dinge, lieber Freund,« schrieb er, »die mich von frühester Jugend an bewegen, die aber brieflich nicht einmal andeutbar sind. Natürlich erschöpft sich auch meine Liebe nicht in meinen Fachstudien. Auch an meinem Herzen geht der Pulsschlag der Welt nicht spurlos vorüber. Und wie bei Ihnen äußert sich auch bei mir der Widerhall oft in Aufruhr und Empörung. Nicht gegen politische Dogmen empört es sich in mir; darin, daß ich diese oder jene Staatsverfassung bekämpfe, würde ich bei der Unzulänglichkeit aller menschlichen Institutionen niemals eine Befriedigung finden. Aber Sinn und Inhalt eines Lebens darin erschöpfen, daß man für abstrakte Menschenrechte kämpft und für einen einzigen Schritt vorwärts auf diesem Wege dankbar abtritt, – sehen Sie, lieber Freund, darin liegt Größe – und zugleich das Bekenntnis meines Herzens, das Ihnen zu enthüllen ich mich nach Ihren offenen Worten nun nicht mehr scheue.«

Als Stoelping vor diesem Briefe saß, wiederholte er ein um das andere Mal: »Da liegt die Lösung!« Und er starrte immer wieder auf den Satz: »Aber Sinn und Inhalt seines Lebens darin erschöpfen, daß man für abstrakte Menschenrechte kämpft . . . darin liegt Größe und zugleich das Bekenntnis meines Herzens.«

»Abstrakte Menschenrechte!« was war das?

Wenn er die Rechte des Menschen als Begriff an sich betrachtete, also losgelöst von allen äußeren Verhältnissen, so kam wohl als ursprüngliches das Recht zum Leben in Frage. Aber keine Staatsverfassung der Welt existierte, die nicht als oberstes Gesetz diesen Satz vertrat, indem sie nicht nur Mord und Totschlag mit den höchsten Strafen belegte, sondern sogar das Leben schon vor der Geburt schützte. Daß jemand aber für etwas, das längst in aller Welt anerkannt war, kämpfen sollte, war sinnlos. Andererseits hatte sich gerade Hempel von Anfang an durch strenge Logik ausgezeichnet. Es war daher nicht gerade wahrscheinlich, daß er den ausdrücklich betonten Begriff »abstrakt« falsch anwandte und etwa Schlagworte wie: das Recht auf Arbeit, das Recht auf politische Gleichberechtigung oder Ähnliches damit meinte.

Und so schrieb ihm denn Stoelping:

»In ein paar Wochen hoffe ich endlich nach Berlin zu kommen. Endlich werden wir uns in die Augen sehen und die Freundschaft, die uns innerlich längst verbindet, auch äußerlich bekräftigen. Sie haben recht: Wir werden uns in wenigen Worten über uns mehr sagen als in langen Briefen. Gedulden wir uns also.

Nur über den Begriff ›abstrakte Menschenrechte‹ müssen Sie mich zuvor aufklären. Wie ich Ihnen bisher in allem gefolgt bin, so möchte ich Sie auch hier, wo ich nur ahne, was Sie meinen, nicht mißverstehen. Aber so sehr ich mich mühe: den Begriff ›abstrakte Menschenrechte‹ kann ich nicht weiter fassen und vermag in ihm nicht mehr zu sehen als ›das Recht zum Leben!‹ Und sage mir doch, das kann es nicht sein, wofür Sie kämpfen. Wahrscheinlich werden Sie, wie auch ich, eine bestimmte Daseinsform im Auge haben, die Sie für die allein natürliche und darum abstrakte halten. Und weil Sie – und welcher denkende Mann täte das nicht! – bei der gottgewollten menschlichen Unzulänglichkeit jede Staatsform für unzulänglich halten, so ist die Menschheit Ihrer Ansicht nach berechtigt, sich jedem Versuch, sie in irgendeine, wie immer geartete Staatsform zu zwängen, zu widersetzen. Habe ich Sie damit recht verstanden?

Freundschaftlichste Grüße

Ihres        
Gustav Fritz.«

 

»Sie predigen Anarchie! lieber Freund,« antwortete Hempel. »Ich predige das Leben! Und wenn auch mein Glaube und mein Kampf in Wirklichkeit nichts anderes als bedingter Anarchismus ist, so ist das, bei Gott, nicht meine Schuld. Nur der Schwächling begnügt sich mit der Theorie, der Tatmensch macht die Probe aufs Exempel!

Man kann das Grauen des Todes nicht überzeugender schildern, als indem man ihm das blühende Leben gegenüberstellt. Ebenso ist für den, der, wie ich, das Leben predigt, das stärkste Argument der Tod!«

Dr. Hempel war ins Garn gegangen. Jedenfalls war das der triumphierende Ausruf, mit dem Stoelping jetzt aufsprang und seinem Referendar den Brief reichte. Und während der Referendar den Brief las, ging er, über das ganze Gesicht strahlend, mit mächtigen Schritten im Zimmer auf und ab. Dann stellte er sich, die Hände in die Taschen, die Beine breit auseinander, vor ihn hin, zog den Mund breit, zeigte die Zähne und fragte:

»Nun, Kollege, was sagen Sie dazu?«

»Ich bewundere Sie, Herr Staatsanwalt,« erwiderte der Referendar. Und Stoelping, der nicht fühlte, daß dabei etwas mitklang, was den Eindruck der Aufrichtigkeit nicht gerade erhöhte, erwiderte stolz:

»Das können Sie auch.«

»Kennt eigentlich der Herr Generalstaatsanwalt diesen Briefwechsel?« fragte der Referendar.

»Keine Ahnung hat er!« erwiderte Stoelping, und es schien, daß das seine Freude noch erhöhte. »Ihn sowohl wie den Herrn Minister denke ich in etwa vierzehn Tagen vor ein fait accompli zu stellen. Die werden Augen machen!«

Nach einigem Zögern fragte der Referendar:

»Darf ich vielleicht etwas bemerken, Herr Staatsanwalt?«

Stoelping, der immer ein jovialer Vorgesetzter, heute aber besonders guter Laune war, erwiderte:

»Selbstredend, lieber Kollege, Sie dürfen alles. Schießen Sie los!«

»Ich wollte mir nur erlauben, zu äußern, daß es vielleicht gut wäre, wenn der Herr Generalstaatsanwalt vor dem Herrn Minister Einblick in die Korrespondenz nähme.«

»Warum?« fragte Stoelping.

Der Referendar zögerte.

»Nun, bitte!« drängte Stoelping.

»Vielleicht, daß die Herren doch anderer Ansicht darüber sind als der Herr Staatsanwalt.«

Stoelping verstand ihn noch immer nicht.

»Anderer Ansicht? Was gibt's denn da überhaupt noch für 'ne Ansicht? Klarer und deutlicher, als es hier steht« – und er wies auf den Brief, der vor dem Referendar auf dem Tische lag – »kann man seine Gesinnung doch wohl kaum zum Ausdruck bringen.«

»Das schon,« erwiderte der Referendar, »nur ob . . .«

»Selbstredend!« unterbrach ihn Stoelping, der ihn jetzt zu verstehen glaubte, »kann man ihm daraufhin noch nicht den Prozeß machen.«

»Ich meine, ob man überhaupt die Art des Verfahrens . . . diesen fingierten Briefwechsel . . .« zögernd und wortweise brachte der Referendar diesen Einwand – »billigen wird.«

»Aber! lieber Freund!« rief Stoelping erregt. »Was heißt denn das! Einem Revolutionär und Anarchisten gegenüber ist jedes Mittel recht, das Erfolg verspricht. Oder soll man vielleicht bis zur nächsten Katastrophe warten? Ihm Zeit zu neuer Betätigung geben? Solchen Füchsen gegenüber heißt es: ihre Durchtriebenheit übertrumpfen. Denen kommt man mit dem gewöhnlichen Handwerkszeug nicht bei. Da gibt's nur individuelle Behandlung!«

Der Referendar bedauerte seine Äußerung; was ging es ihn an, wie sein Vorgesetzter die Geschäfte führte. Und so sagte er denn:

»Gewiß! Ich sehe das ein.«

Aber damit war für Stoelping der Zwischenfall nicht erledigt.

»Mir kann man gewiß nicht übermäßige Schärfe vorwerfen. Ich behandle womöglich den letzten Einbrecher noch als Gentleman. Und ich werde gerade diesem Hempel gegenüber durchaus die Formen wahren, die ein Mann seines Bildungsgrades beanspruchen kann. Das darf mich aber nicht hindern, mit der ganzen Schärfe meines Intellekts diesem Verbrecher bis in die letzten Winkel nachzuspüren.«

Da der Referendar sah, daß Stoelping gar nicht empfand, worauf es ihm bei seinem Einwand ankam, und somit kein Interesse hatte, weiter zu widersprechen, so stimmte er zu.

Stoelping freute sich, seinen Referendar überzeugt zu haben, setzte sich wieder hin, überflog noch einmal Hempels Brief und dachte über die Antwort nach.

»Man braucht nicht lange nach Gründen zu suchen,« schrieb er an Hempel, »um dem Anarchismus der Tat das Wort zu reden. Beweise für die Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit neuer Staatsformen erbringt man nicht in theoretischen Abhandlungen, sondern indem man die Probe aufs Exempel macht. Das wissen auch die Theoretiker ganz genau. Und wenn nicht die Furcht sie hielte, wären sie sämtlich Opportunisten; so aber gehen sie der Gelegenheit aus dem Wege, statt sie zu nutzen, und stören die Entwicklung mehr, als daß sie sie fördern.

Ja, ihnen fehlt sogar der Mut, sich auch nur gesinnungsgemäß zu der Tat eines anderen zu bekennen. Nämlich immer dann, wenn die Tat in ihr Erleben fällt; anders ist es, gehört sie der Vergangenheit an. Einem Wilhelm Tell oder dem Mörder eines Nero und Caligula jauchzt jeder Backfisch zu. Auch hier wieder haben wir Männer der Tat die Logik auf unserer Seite; und dreimal will ich die Hand dem Manne drücken, der seine Überzeugung nicht in Worten, sondern in Taten äußert. – Es geschieht so wenig – und es gäbe soviel zu tun.«

 

»Lieber Freund,« erwiderte Hempel, »seien Sie überzeugt, daß Sie Ihr Vertrauen keinem Unwürdigen geschenkt haben. Dennoch glaube ich, daß man im Hinblick auf Schicksale, die Briefe oft haben, Dinge wie diese, nicht in dieser Form verhandeln soll. Schweigen wir daher in unseren Briefen von dem, was uns bewegt, um, wenn wir uns begegnen, unsere Herzen um so rückhaltloser zu erschließen. Um Vertrauen aber mit Vertrauen zu begegnen, reiche ich Ihnen, bester Freund, die Hand, die Sie, treu dem Grundsatz, den Sie am Schluß Ihres Briefes nennen, dreimal drücken dürfen.«

»Dreimal aber will ich die Hand dem Manne drücken, der seine Überzeugung nicht in Worten, sondern in Taten äußert,« hatte Stoelping geschrieben! Dieser Mann also war Hempel; er bekannte es selbst. Und welches die Tat war, zu der er sich bekannte, das wollte er ihm – als Staatsanwalt dem Verbrecher – an einem anderen Orte sagen!

 


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