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Ilse Schott, die von Hempels Ladung als Zeugen wußte und sich über sein langes Ausbleiben Gedanken machte, setzte ihrem Vater, der abgespannt aus seinem Kolleg kam, so lange zu, bis er sagte:
»So fahr' schon in die Stadt und erkundige dich.«
Und es dauerte keine fünf Minuten, da saß Ilse auch schon im Auto und fuhr nach Moabit.
Sie sprang, noch ehe der Wagen hielt, heraus und stürzte in großer Hast die breite Freitreppe herauf. Aus der Ladung kannte sie Stockwerk und Zimmer. Sie lief den langen Korridor entlang und stand jetzt vor der Tür, hinter der vor wenigen Stunden Stoelping und Hempel sich gegenübergesessen hatten.
Einen Augenblick lang stand sie still und holte Atem, dann zog sie die Hand aus dem Muff und klopfte. – Sie hielt den Atem an. – Alles blieb still. – Sie klopfte noch einmal, – auch jetzt rührte sich nichts. – Sie legte die Hand auf die Klinke, wartete noch einen Augenblick, drückte erst behutsam, dann mit starkem Ruck die Klinke herunter und hielt die geöffnete Tür in der Hand. Sie horchte gespannt auf und fühlte, wie ihr Herz still stand. Weiter schob sie die Tür ins Zimmer und stand, die Hand noch immer auf der Klinke, auf der Schwelle.
Die unpersönliche, lieblos-kalte Atmosphäre dieses Beamtenzimmers legte sich schwer und beklemmend auf Ilse. Sie fühlte, wie ihre Sicherheit schwand. Eben tat sie den ersten Schritt ins Zimmer, – da trat aus der Tür, die angelehnt stand, ein alter Beamter in blauem Rock, sah über seine Brille hinweg zu ihr hinüber und fragte:
»Nanu, Fräulein, 'n Einbruch beim Herrn Staatsanwalt? Ich bin nun 25 Jahre hier, aber das hab'n wir noch nich jehabt.«
Ilse ließ die Tür los, zog ängstlich den Arm zurück und verbarg die Hand, als hätte sie etwas Unrechtes getan, in dem Muff.
»Verzeihung!« sagte sie. »Ich suche hier jemand.«
»Sehn Se mal an, das kann ich mir denken!« Und indem er seine Brille geraderückte, schob er sich mit krummen Knien an den Tisch, setzte sich, winkte Ilse heran, die automatisch an den Tisch trat, einen Stuhl geraderückte und sich ihm gegenüber setzte.
»Se suchen also jemand?« wiederholte er. »Na, denn sagen Se mal, wie kommen Se denn dazu, jerade hier zu suchen? Des is mer doch sehr verdächtig.«
»Weil ich weiß, daß er heute vormittag hier war.«
»So–o! Aus der Untersuchung? Na, denn verraten Se mer mal, woher Se des wissen?« Und indem er sich breit hinsetzte, sagte er stolz: »Da scheinen wer ja wieder mal 'ner Durchstecherei auf de Spur jekommen zu sein. Vor allem, ziehn Se mal das Netz da hoch, das Ihn'n vors Jesichte baumelt. 's immer jut, wenn man sich so 'ne Weibsbilder einprecht.«
Und Ilse, die von alledem nichts verstand, streifte hastig die weißen Schweden von den Händen und schob den Schleier hoch, hinter dem ein ungewöhnlich feines und hübsches Gesicht zum Vorschein kam.
»Na, nach Arbeit sehn die Hände nich aus!« sagte der Beamte, setzte eine wichtige Miene auf und fuhr fort: »Also, denn wer' ich Ihn'n sagen, auf wen se hier jewart' ham, – auf Ernst Schröder, den hab'n se nämlich heute aus de Untersuchung vor'n Herrn Staatsanwalt jeführt – 'ne nette Nummer, dreizehnmal vorbestraft! Und mit so was laufen Se nu rum? Woll'n Se mir nu also sagen, woher Se des wußten, daß der heute hier in das Zimmer vernommen wird – ick mach' sonst kurzen Prozeß, telephoniere an'n Staatsanwalt und laß Ihn'n festnehmen.«
Ilse sah sich scheu im Zimmer um. Richtig! da, links der Tür, war ein Apparat.
»Bitte!« sagte sie erregt, »rufen Sie bei ihm an.«
»Ach so! Sie denken wohl, des is Falle; des wer' nich das erstemal, daß ich den Herrn Staatsanwalt anriefe und ihn auf wichtige Dinge aufmerksam mache.«
»So tun Sie's doch, bitte!« rief Ilse ungeduldig.
Und der Beamte ging, mehr, um sich nicht vor Ilse zu blamieren, als aus eigenem Willen, an den Apparat; er hatte es noch nie getan und wußte daher nicht, wie der Staatsanwalt es aufnehmen würde.
Als er die Nummer genannt hatte, sprang Ilse auf.
»Sitzen bleiben!« schrie der Beamte, der glaubte, daß Ilse davonlaufen wollte.
Aber Ilse lief an den Apparat; und als der Beamte eben mehr als bescheiden hineingeflötet hatte:
»Ach könnte sich der Herr Staatsanwalt von Stoelping vielleicht mal an den Apparat bemühen?« da riß sie ihm den Hörer aus der Hand und rief:
»Bitte, Herr Staatsanwalt, kann ich vielleicht erfahren, was aus dem Doktor Günther Hempel geworden ist?«
»Wer sind Sie denn?« war die Antwort.
»Ilse Schott! seine Braut.«
Einen Augenblick lang hörte sie nichts; dann aber rief dieselbe Stimme, die jetzt weit freundlicher klang:
»Telephonisch läßt sich das schwer erledigen! Aber wenn Sie Näheres erfahren wollen, dann bemühen Sie sich vielleicht zu mir hinaus.«
»Gern!« erwiderte sie. »Wann darf ich kommen?«
»Gleich, bitte!« rief er zurück.
Sie hing den Hörer an und stürzte aus dem Zimmer. Der Beamte riß die Türe auf und verbeugte sich.
Dann schlug er sich an den Kopf und sagte:
»Ich Ochse! Das war ja 'ne Bekannte vom Herrn Staatsanwalt.« Aber er war in den 25 Jahren, in denen er Akten schleppte und von dem Schreibtisch des Staatsanwalts Staub wischen durfte, doch zu stark Kriminalist geworden, als daß ihm nicht gleich wieder Bedenken gekommen wären.
»Wer weiß,« dachte er, »ob das Gespräch mit dem Staatsanwalt nicht nur eine Finte war, um zu entwischen.« Und je mehr er dieser Ansicht zuneigte, um so entschlossener war er, zu leugnen, von irgend was zu wissen, falls der Staatsanwalt ihn morgen etwa zur Rede stellte.
*
Stoelping erzählte gerade seinem Vater, daß er heute auf Grund des zusammengetragenen Materials zur Verhaftung des Hempel geschritten sei, als der Diener ihn ans Telephon rief.
Es war Ilse Schott.
Damit, daß sie sich morgen als eine der ersten in Moabit einfinden und mit tausend Schwüren Hempels Unschuld beteuern würde, hatte er gerechnet. Daß sie heute schon kam, war ihm, so wenig er damit gerechnet hatte, durchaus willkommen. Denn in ihrer Angst und ihrem ersten Schreck würde sie Hempel gewiß mehr leidenschaftlich als diplomatisch verteidigen. Auch war sie heute leichter einzuschüchtern als morgen; denn lag erst eine Nacht dazwischen, kam sie erst mal zur Ruhe, und hatte sie Gelegenheit, sich mit anderen zu besprechen, so war es schwerer, etwas aus ihr herauszubringen. Und so behandelte er sie denn am Telephon mit ausgesuchter Höflichkeit und erklärte sich für den Fall, daß sie ihn heute noch besuchte, bereit, ihr Näheres über Hempels Schicksal mitzuteilen.
Dann trug er dem Diener auf, die Dame, die in einer halben Stunde etwa nach ihm fragen würde, ohne Anmeldung sofort in sein Arbeitszimmer zu führen.
Dabei dachte er an alles. Er wußte, daß es eine große Sicherheit gab, in einen Raum zu kommen, den man kannte. Oft genügten Sekunden, eine schnelle Orientierung über Türen, Fenster, ein paar Bilder und Möbelstücke, um sich heimisch zu machen. Stand man aber plötzlich einem Menschen, der einem fremd war, in dessen Haus, das man nicht kannte, ohne auch nur Zeit zu haben, sich umzusehen, gegenüber, so war man von vornherein im Nachteil. Und nun gar eine Frau, die verängstigt war, und die wußte, daß der Mann, zu dem sie kam, Hempels Schicksal in Händen hielt.
Von diesem Vorteil versprach er sich viel. Und um ihre Unsicherheit zu erhöhen, schob er die Portieren, die vom Arbeitszimmer in die Bibliothek führten, zurück und öffnete die Türen, die von der Bibliothek in den Salon und von dem Salon aus in das Herrenzimmer führten. Dadurch verlor der Raum an Einheit und Abgeschlossenheit und wirkte unruhig. Und diese Unruhe, die selbst Stoelping empfand, der hier zu Hause war und mit geschlossenen Augen noch wußte, wo jedes Stück stand, mußte sich auf jeden übertragen, der frei und unbefangen in diese Räume trat; um wievielmehr auf diese Frau, die unsicher und verängstigt war.
Ilse war in Moabit in ein Auto gestiegen. Lastete die Schwüle des Kriminalgerichts auch noch auf ihr, so hatte ihre Besorgnis um Hempel doch ihre Befangenheit, wie überhaupt jedes andere Gefühl zurückgedrängt. Und statt sich innerlich auf die Begegnung mit Stoelping einzustellen, hatte sie während der ganzen Fahrt nur über sein Schicksal nachgedacht. Auch jetzt, als ihr der Diener öffnete und sie durch das Vestibül und den Wintergarten in Stoelpings Zimmer führte, war er ihr einziger Gedanke.
Stoelping, der vor den Spiegel getreten war und sich sorgsam zurechtgemacht hatte, trat, als er Ilse hörte, in die offene Tür, die zum Salon führte. Auch das war Berechnung. Denn nun stand er der Tür, durch die sie kam, gegenüber, und ihr erster Blick mußte auf ihn fallen.
Aber die erwartete Verwirrung und Befangenheit blieb aus.
Wäre Ilse in ein Milieu gekommen, das nicht dem glich, in dem sie lebte, – möglich, daß sie dann, wie in Moabit, im ersten Augenblick unsicher gewesen und durch die ungewohnte Behandlung seitens des Staatsanwalts noch mehr verwirrt und verängstigt worden wäre.
So aber kam sie in ein Haus, dessen vornehme Behaglichkeit sie nach dem Besuch in Moabit doppelt anheimelte, und das ebensogut die Villa eines ihrer zahlreichen Verwandten hätte sein können.
Schon die Sicherheit, mit der sie durch die Tür kam, setzte ihn in Erstaunen. Dann aber, als sie ins Zimmer trat, und er sie nah sah, wirkte das feine Gesicht, die schlanke Erscheinung und der weiche wiegende Gang so stark auf ihn, daß er die Augen aufriß und gar nicht mehr an die feierliche Geste dachte, die er sich zu ihrem Empfang zurechtgelegt hatte.
Er hätte aber auch sehr schnell sein müssen; denn kaum war sie im Zimmer und ein paar Schritte auf ihn zugegangen, da beugte sie zur Begrüßung kaum merklich den Kopf und sagte:
»Sie müssen verzeihen, es ist ungehörig für ein junges Mädchen – ich weiß es –, aber ich konnte nicht anders – ich mußte zu Ihnen. – Bitte, sagen Sie mir, was ist mit Doktor Hempel?«
Stoelping, der sich von früh an daran gewöhnt hatte, genau auf jede Regung seines Gefühls zu achten, wohl weil das meist eine so ganz andere Richtung nahm, als es die alten Stoelpings wünschten, empfand sofort, daß es ihm, – nun, zum mindesten nicht paßte, daß diese Frau sich derart leidenschaftlich um einen anderen sorgte.
»Darf ich wissen,« erwiderte er kalt und höflich, »in welcher Beziehung Sie zu Doktor Hempel stehen?«
»Ich bin seine Braut.«
»Mit Wissen Ihres Vaters?«
Ilse sah ihn erstaunt an.
»Kennen Sie meinen Vater?« fragte sie; – und der Ton, in dem sie das sagte, enthielt den Vorwurf: Was sonst könnte Sie zu dieser Frage berechtigen?
»Nein,« erwiderte Stoelping. »Aber ich glaube, daß mir das natürliche Interesse, das Menschen derselben gesellschaftlichen Sphäre aneinander nehmen, das Recht dazu gibt, Sie danach zu fragen.«
»Gut, gut!« sagte Ilse hastig. »Ich will Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen. Aber erst sagen Sie mir bitte, was ist mit Doktor Hempel?«
»Legen Sie erst ab,« bat er sie; »denn das läßt sich nicht in zwei Worten erzählen.«
Er half ihr aus dem Seal, schob vom Schreibtisch seinen schweren Sessel heran und bat sie, sich zu setzen. Und er, der sich in Gedanken schon seinem Opfer mit feierlicher Würde gegenüber gesehen hatte, saß nun, während sie bequem in seinem tiefen Sessel lehnte, auf dem kleinen Stuhl, den er eigens für sie bestimmt hatte, und der sich neben den schweren Möbeln wie ein armes Sünderbänkchen ausnahm.
»Also?« drängte sie und beugte sich vor, »darf ich nun wissen?«
»Wollen Sie mir zunächst bitte die Frage beantworten: Was wissen Sie?«
»Nichts weiß ich, als daß Doktor Hempel heute früh als Zeuge zu Ihnen gegangen ist, um wegen irgendeines Plagiatprozesses vernommen zu werden. War er bei Ihnen?«
»Gewiß war er da!«
»Ja, aber er ist bis jetzt nicht wieder zurück; wenn Sie ihn nicht festgehalten haben, – aber das ist ja doch unmöglich, dann muß ihm etwas zugestoßen sein.«
»Nun, darüber kann ich Sie beruhigen. Zugestoßen in dem Sinne, wie Sie es meinen, ist ihm nichts. Ob Sie ihn in absehbarer Zeit,« er machte eine Pause, »ja, ob Sie ihn überhaupt je wiedersehen werden, – das ist freilich eine andere Frage.«
Die letzten Worte hörte Ilse nicht mehr.
Sie war aufgesprungen, hatte etwas sagen wollen, auch die Lippen bewegt, vor Schreck aber kein Wort herausgebracht.
Und während Stoelping, der jetzt wieder ganz ruhig und sicher war, fortfuhr und sagte:
»Es tut mir leid, es Ihnen sagen zu müssen; aber ich kann Ihnen keine Hoffnung machen,« da stand sie, am ganzen Körper zitternd, bleich wie der Tod, den Mund weit aufgerissen, vor ihm und starrte ihn an.
»Es gibt,« fuhr Stoelping fort, »eine Möglichkeit, ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren! – eine einzige! – das ist ein offenes, freimütiges Geständnis.«
Einen Augenblick lang schien es, als wollte sich Ilse ihm zu Füßen werfen; sie beugte sich leicht nach vorn; ihre Knie zitterten; – da fuhr Stoelping fort:
»Zwar bin ich der Ansicht, daß man einen Verbrecher wie ihn . . .«
Weiter kam er nicht. Ilse brach nicht in die Knie, auch starrte sie nicht mehr scheu und entsetzt, nicht Schutz und Hilfe suchte sie mehr – wie aufgepeitscht reckte sie sich empor:
»Wie können Sie wagen!« rief sie, warf den Kopf zurück und sah ihn herausfordernd an; »es kann nichts geben, was Sie berechtigt, so zu sprechen!«
Und Stoelping hatte, als er sie so vor sich sah, das Gefühl: warum hast du niemand, der so zu dir hält?
»Es tut mir leid,« erwiderte er, »daß ich Ihnen den Glauben nehmen muß.«
Da schüttelte sie den Kopf und sagte:
»Das können Sie nicht.«
»Sie täuschen sich in ihm,« sagte Stoelping.
»Ich täusche mich nicht!« erwiderte Ilse.
Und als er immer bestimmter sagte:
»So glauben Sie mir doch, er verdient Ihr Vertrauen nicht,« da lächelte sie überlegen und entgegnete:
»Ich kenne ihn.«
»Und wenn es sich herausstellte, daß ich ihn besser kenne und in Erfahrung gebracht habe, daß er ein erbärmlicher . . .«
Wieder fiel sie ihm ins Wort:
»Dann erkläre ich Ihnen, daß derjenige, der Ihnen das aufgebunden hat, entweder ein Halunke oder ein Idiot ist.«
»Und wenn ich die Beweise dafür in Händen habe?«
»Dann sind sie gefälscht.«
»Und wenn ihre Echtheit erwiesen wäre?«
»Dann hätte es damit eben irgendeine andere Bewandtnis, für die er Ihnen die Erklärung gewiß nicht schuldig bliebe.«
»Er ist sie mir schuldig geblieben!« erwiderte Stoelping.
»Aber nicht aus Verlegenheit oder gar aus Furcht, sich zu belasten!«
»Und wenn es mir gelungen wäre, ihn zu überführen, und er unter der Wucht der Beweise ein Geständnis abgelegt hätte?«
»Dann blieben noch immer die Motive, die ihn freisprächen.«
»So wissen Sie am Ende gar, um was es sich handelt?«
»Ich weiß nichts weiter, als daß er kein erbärmlicher Mensch ist. Und das ist, glaube ich, Beweis genug!«
»Und wenn ich Ihnen noch einmal, und zwar unter voller Verantwortung und mit aller Bestimmtheit erkläre, daß Sie sich in ihm irren.«
»Ich kann mich nicht irren!«
»Und weshalb sollten Sie sich nicht irren können?«
Sie sah ihn fest an, und mit dem sicheren Gefühl, daß ihn das überzeugen mußte, erwiderte sie:
»Weil ich ihn liebe.«
Stoelping, der selbst in Fällen, die tagtäglich wiederkehrten und ihn psychologisch daher gar nicht mehr interessierten, seine Person nicht ausschalten oder auch nur hinter den Gegenstand zurückstellen konnte, und der daher nie ganz sachlich war, hatte diesen ungewöhnlichen Prozeß ja von Anfang an rein auf das Persönliche gestellt, ihn zunächst mehr als Sprungbrett für die diplomatische Karriere, dann aber, nach dem ersten Verhör und Zusammenstoß mit Hempel, auch wie eine Art geistiges Match betrachtet, in dem er mit Hempel seine geistigen Kräfte maß.
So sah er auch jetzt in Ilse mehr als nur die Entlastungszeugin. Es störte ihn zunächst, daß eine Frau, die immerhin reizvoll genug war, um ihm eines Tages – nun, zum mindesten nicht gleichgültig zu sein, – einen anderen liebte. Daß sie ihm gegenüber aber ganz ungeniert von dieser Liebe sprach, fand er kränkend und rücksichtslos. Schon die Eitelkeit trieb ihn, diesen Hempel auszustechen. Aber darüber hinaus sagte er sich: Diese Frau hat Charakter. Wen die liebt, für den tut sie alles. Wenn es dir also gelänge . . . und er spann den Gedanken fort, . . . du hättest ein Werkzeug in Händen, das richtig angewandt, dir jeden Gedanken deines Gegners übermitteln würde.
Leicht war das nicht; aber der Versuch lohnte die Mühe, und er war entschlossen, alles daran zu wenden, um sich das Vertrauen und – hatte er das erst, wer konnte es wissen – vielleicht auch das Herz dieser Frau zu erobern.
Auf ihren Ausruf: Weil ich ihn liebe! hatte er, sehr gegen sein Gefühl, erwidert:
»Ich respektiere durchaus Ihre Gefühle und Ihr Vertrauen, und die Art, wie Sie es begründen, macht Ihnen Ehre. Nur ändert das alles leider nichts an der Tatsache, daß man dem Doktor Hempel den Prozeß machen und ihn nach menschlicher Berechnung zu einer Strafe verurteilen wird, die jede weitere Gemeinschaft zwischen Ihnen und ihm ausschließt.«
»Das ist nicht möglich!« rief sie, »was man ihm auch vorwirft, er wird sich verteidigen. Und man wird ihn freisprechen!«
»Jedes Gericht der Welt wird ihn auf die Beweise hin verurteilen.«
»Und ich darf nicht wissen, was man ihm vorwirft? Ich darf diese sogenannten Beweise nicht kennen? Wo es nichts gibt, seit Jahren nichts gibt, was der eine nicht weiß vom anderen? Wo zwischen uns alles so klar ist, daß wir uns das kleinste Geheimnis von den Augen lesen. Ich, die einzige, die ihn kennt, die also doch wissen müßte, wenn es irgend etwas in seinem Leben gäbe, was nicht ist, wie es sein soll. Also will man die Wahrheit nicht wissen. Man will ihn aus irgendeinem Grunde vernichten. Aber das wird nicht geschehen, solange ich da bin!«
»Ich fürchte, Sie werden sein Verhängnis nicht aufhalten können!« erwiderte Stoelping.
»So hat irgendwer ein Interesse?«
»Ein Interesse hat lediglich der Staat, sich gegen staatsgefährliche Elemente zu schützen.«
»Das ist ja doch lächerlich!« rief Ilse, »staatsgefährliche Elemente! Es gibt keinen besseren Patrioten als ihn! Und wer das Gegenteil behauptet, ist ein Verleumder! Den soll man einsperren, aber nicht ihn!«
Stoelping erkannte: diese Frau spielte keine Komödie. An ihr war nichts verstandesgemäß; ihre Gefühlsausbrüche waren elementar, daher war sie gar nicht imstande, sich zu verstellen. Aber darüber hinaus sah er: nicht nur nicht verstellen konnte sie sich, sie war auch zu temperamentvoll und zu gerade heraus, um nicht, unbekümmert um Eindruck und Wirkung, ihr Herz zu enthüllen, wenn sich ihr Inneres empörte. Oder, wie er sich am nächsten Morgen seinem Referendar gegenüber ausdrückte:
»Man braucht sie nur ein wenig zu reizen, und man bringt sie zum Explodieren.«
Und er folgerte: Ich bringe aus diesem Hempel nichts heraus. Erschließt er sich aber überhaupt jemandem, dann noch am ehesten ihr. Tut er das aber, so ist es lediglich eine Frage des Intellekts, sie zum Sprechen zu bringen.
Und darauf stellte er das weitere Gespräch ein.
Auf ihren Ausruf: Den sollte man einsperren, aber nicht ihn, erwiderte er:
»Ich bin, vorausgesetzt, daß Sie recht haben, ganz Ihrer Ansicht.«
»Was heißt das . . .?« fragte Ilse erstaunt.
»Sobald Ihre erste Erregung vorüber ist, werden Sie erkennen, daß wir beide –« und da sie ihn ungläubig ansah, wiederholte und betonte er – »wir beide, Sie und ich, an ein und demselben Strange ziehen.«
»Nanu!« rief sie und trat unwillkürlich – als wollte sie zeigen, daß sie jede Gemeinschaft mit ihm weit von sich weise – einen Schritt zurück, »wie sollten Sie und ich . . .?«
»Ich will es Ihnen sagen,« unterbrach er sie. »Sie sind, wenn ich Sie richtig verstanden habe, davon überzeugt, daß die Wahrheit finden, ihn freisprechen heißt.«
»Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, dann ja.«
»Nun, ich will dasselbe. Auch mir liegt an nichts anderem als an der Feststellung der Wahrheit. Daran, daß sich die Zahl der Bestraften um einen erhöht, liegt mir gar nichts.« Er stand auf und trat vor sie hin, und es hatte etwas bewußt Feierliches, als er sagte:
»Gut! helfen Sie mir die Wahrheit finden!«
Sie sah ihn groß an.
»Ist das Ihr Ernst?« fragte sie.
»Durchaus! Ich habe jedenfalls das Vertrauen; und wenn auch Sie glauben, daß Sie es fertig bringen, objektiv zu sein – ich habe den Eindruck, daß Sie es können! – versuchen Sie's!«
»Von Herzen gern!« erwiderte Ilse und war in der Aussicht, Hempel helfen zu können, wie umgewandelt. »Und welche Möglichkeiten geben Sie mir?« fragte sie ihn.
»Der gesamte Apparat, über den ich verfüge, steht auch Ihnen zu Gebote. Ich weiß, Sie werden ihn nicht mißbrauchen.«
»Gewiß nicht!« sagte sie aufrichtig.
»Aber vergessen Sie nicht!« fuhr er fort, »lediglich zur Ergründung der Wahrheit tun wir uns zusammen,« sagte er und streckte ihr die Hand hin.
»Abgemacht!« erwiderte sie und schlug ein.
»Und wenn Sie ihn nun überführen?« fragte er, während er noch ihre Hand hielt.
Sie lächelte – so unmöglich schien ihr das – so fest glaubte sie an ihn.
»Dann liefere ich Ihnen den Schwerverbrecher aus!« sagte sie beinahe heiter, »und Sie dürfen ihn mit Haut und Haaren verzehren.«
»Es könnte doch sein,« meinte Stoelping, »daß Sie anderer Meinung werden. Nehmen Sie an, es kämen Ihnen eines Tages doch Zweifel, in einem solchen Falle würden Sie Ihr Versprechen, alles aufzubieten, um die Wahrheit zu ergründen, doch wohl kaum erfüllen können.«
Ilse dachte einen Augenblick nach, schüttelte den Kopf und erwiderte in einem Tone, dem man anmerkte, wie ernst ihr das war, was sie sagte:
»Herr Staatsanwalt! für so unmöglich ich diesen Fall auch halte – käme mir aber je ein Verdacht – nicht meines Versprechens wegen oder gar aus Wahrheitsfanatismus, sondern einzig und allein um meiner selbst willen würde ich diesem Verdachte genau mit derselben Leidenschaft nachgehen wie dem Beweise seiner Unschuld.«
»Ich will es Ihnen glauben!« sagte Stoelping, »außer uns beiden wird sich also niemand mit dem Fall befassen. Sie werden Hempel sehen. Ein-, zweimal die Woche, so oft Sie wollen. Und da er sich in dem Raum, in dem er sich augenblicklich aufhält, vermutlich Zurückhaltung auferlegen würde, so wird es sich empfehlen, daß Sie ihm während seines täglichen Spaziergangs auf dem Hof Gesellschaft leisten. Ich werde dafür sorgen, daß Sie dann völlig ungestört sind. Ist die halbe Stunde um – ich werde Anweisung geben, daß man den Spaziergang auf Ihren Wunsch auch etwas länger ausdehnt – so kommen Sie herauf zu mir, und zwar auf alle Fälle; also auch dann, wenn Sie glauben, mir nichts berichten zu können. Je eher Sie mir den Nachweis seiner Unschuld bringen, um so schneller werden Sie ihn wiederhaben.«
»Es wird nicht lange dauern; ich verspreche es Ihnen!« sagte sie zuversichtlich.
»Um so besser!« erwiderte Stoelping; »also vor allem Aufrichtigkeit! Bedenken Sie, daß jeder Mißbrauch meines Vertrauens, ganz gleich, in welcher Form er sich äußert, die Situation Dr. Hempels naturgemäß verschlechtern muß. Stellt sich heraus, daß er schuldig ist, so dürfen Sie nicht den Versuch machen, ihn der Strafe zu entziehen.«
»Ich werde ihm weder eine Strickleiter, noch Zyankali in die Taschen schmuggeln,« erwiderte Ilse, die in dem Gedanken, daß Dr. Hempel ihr nun seine Rechtfertigung und Befreiung danken würde, wie ausgewechselt war. – »Und wann darf ich mein Rettungswerk beginnen?« fragte sie.
»Morgen, wenn Sie wollen!« erwiderte Stoelping.
»Ich will!« sagte sie freudig und streckte ihm kameradschaftlich die Hand entgegen.
Er schlug ein, und sie sagte:
»Und nun verraten Sie mir auch, was ist denn das für ein furchtbares Verbrechen, das er begangen haben soll?«
»Das lassen Sie sich morgen von ihm selber erzählen!« erwiderte Stoelping.
»Gut!« sagte sie und nickte ihm zu.
Sie drückten sich die Hände, und Ilse ging, leichteren Schrittes noch als sie gekommen war, aus dem Zimmer.
Er sah ihr nach.
Ein famoser Mensch! dachte er. Und dieser Gedanke beschäftigte ihn so stark, daß er darüber vergaß, sie hinauszubegleiten.
Als er ihr endlich in den Korridor folgte, war sie längst aus dem Hause. Vom Fenster aus sah er sie durch den Park gehen. Er bewunderte den weichen, wiegenden Gang, in dem ihr ganzer Mensch lag. Und als der alte Diener das Gartentor hinter ihr schloß und ihr durch die Gittertür nachsah, verfolgte er sie noch immer. Erst als der Alte wieder ins Haus zurückging und mit schleppendem Gang durch den Kies schlürfte, riß er sich los und trat vom Fenster weg.
Noch am Abend desselben Tages kam eine Karte von Miß Harrison.
Sie war wieder in London.
»Wir bereiten uns auf die Reise nach Köln vor,« schrieb sie. »Der Steepler, den Sie zum Siege steuern werden, ist glänzend auf dem Posten. Ich selbst habe ihn gestern in der Arbeit geritten. – Bitte richten Sie sich doch darauf ein, daß wir bei jeder Witterung unsere Flugpartie ausführen können. Wer weiß, wann ich wieder mal nach Deutschland komme, und mir liegt daran, überall gewesen zu sein.
Freundlichen Gruß
Ihre D. Harrison.«
Stoelping suchte alles mögliche aus der Karte herauszulesen. Am längsten sann er über den Satz: »Wer weiß, wann ich wieder mal nach Deutschland komme,« nach. Das dürfte ja wohl unter Umständen von ihm abhängen, sagte er sich, und faßte es als eine Aufforderung auf, sich zu erklären. Und alle Schwierigkeiten, die sich seiner Verbindung mit ihr entgegenstellten, traten ihm jetzt wieder vor Augen.
Plötzlich mußte er an Ilse Schott denken. Er sah sie neben Miß Harrison. Ganz deutlich stand sie vor ihm – nur einen Augenblick, und nicht lange genug, um beide Frauen auch nur äußerlich miteinander zu vergleichen.
Er war entschlossen zu reisen. Vorher aber wollte er sich an den maßgebenden Stellen vergewissern, ob eine englische Frau auch kein Hindernis für die Karriere eines deutschen Diplomaten bedeute.