Artur Landsberger
Haß
Artur Landsberger

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Sechstes Kapitel

Wie der junge Stoelping mit Miß Harrison zusammenkam

Im Kaiserpavillon, dem berühmten Restaurant der besten Gesellschaft in der Hofjägerallee, gab Ephrussi nach dem Rennen ein Diner, zu dem alle bekannten Sportsleute mit ihren Damen geladen waren.

Obgleich Stoelping, Vater und Sohn, der Erledigung wichtiger Arbeiten wegen, die Absicht gehabt hatten, von der Rennbahn aus nach Hause zu fahren, so bestand der Alte jetzt darauf, daß sie der Einladung Ephrussis folgten. Damit wurde dem Gerüchte über eine Unstimmigkeit der Boden entzogen; vor allem aber unterband man damit jede Kritik über Stoelpings Ritt, die nur zu nahe lag.

War es Zufall oder ein feiner Spott Ephrussis, daß der junge Stoelping Miß Harrison zu Tisch führte?

Man aß an kleinen Tischen, die sich in weiten Abständen um die Stämme Hunderte von Jahren alter Bäume rankten. An jedem der zehn Tische saßen etwa zehn Personen, die sämtlich in irgendeiner Beziehung zum Rennsport standen.

Als Ephrussi, der Miß Harrison dem jungen Stoelping vorstellte und sagte: »Sie führen wohl Miß Harrison zu Tisch?« da hatte Stoelping das Gefühl, als müsse er erwidern: Jede andere – nur nicht die. Aber die Kinderstube legte ihm die Antwort auf die Zunge. Er verbeugte sich und sagte:

»Es ist mir ein Vergnügen« – und da sie ihn verständnislos ansah, fragte er:

»Dont you speak german?«

Miß Harrison schüttelte den Kopf.

»Merkwürdig,« sagte Stoelping, »bei uns spricht jeder gebildete Mensch Englisch.«

»Nun ja,« erwiderte sie, »das ist doch wohl nur natürlich.«

»Und daß man als gebildeter Engländer Deutsch spricht, wäre weniger natürlich?«

»Ja, das ist doch auch ganz etwas anderes.«

»Und warum ist das etwas anderes?« fragte Stoelping.

»Nun, man kann von uns Engländern doch nicht gut verlangen, daß wir Deutsch sprechen.«

»Und weshalb nicht?« fragte Stoelping gereizt.

»Was für komische Fragen Sie stellen! Das ist doch selbstverständlich, daß man Englisch spricht. Genau wie man zum Kahnfahren Ruder oder um auf die Berge zu klettern einen Bergstock braucht, genau so braucht man, um sich zu verständigen, die englische Sprache. Man könnte sich ja im Notfall auch mal ohne Englisch durchhelfen, wie man ja schließlich auch ohne Bergstock auf die Berge käme, – aber, es wäre beschwerlich, man wäre hilflos und auf einen glücklichen Zufall angewiesen.«

Stoelping sah: dagegen anzukämpfen, war zwecklos. Gerade das Unbewußte, das in dieser Überhebung lag, nahm jedem Einwand die Wirkung. Er beschränkte sich also darauf zu erwidern:

»Ob man etwas kann oder nicht kann, ist meines Erachtens nichts weiter als eine Frage der Bildung.«

»Es gibt aber etwas, was höher als Bildung steht,« antwortete Miß Harrison.

»Nämlich?« fragte Stoelping.

Sie wandte sich ganz zu ihm um, sah ihm fest in die Augen, öffnete den Mund, zeigte die schönen Zähne, und als wenn sie ihn zerschmettern wollte, versetzte sie ihm das Wort:

»Kultur!«

Im ersten Augenblick war Stoelping betroffen. Die Wucht, mit der Miß Harrison ihm das Wort versetzte, das Sieghafte, mit dem ihr Blick ihn umfaßte, verblüffte ihn.

Und Miß Harrison nutzte ihren Sieg aus.

»Sehen Sie, das ist es!« sagte sie. »Sie suchen durch Bildung zu ersetzen, was Ihnen an Kultur abgeht! – Aber Kultur erlernt man nicht – man hat sie!«

»Hm,« sagte Stoelping, dem ihre bestimmte, selbstbewußte Art gefiel. »Daß für das Vorhandensein von Kultur nicht ein bestimmtes Quantum von Wissen bestimmend ist, gebe ich zu. Und Kultur ist letzten Endes sogar mehr eine Gefühls- als eine Verstandessache. Schon den Begriff Kultur zu bestimmen, macht Schwierigkeiten; denn es ist längst ein Schlagwort, ein Gemeinplatz geworden, eine Flagge, unter der alles segelt, was sich nicht recht sicher fühlt. Wenn man einen Anspruch nicht begründen kann, wenn man für eine Handlung durchaus keine Rechtfertigung mehr findet, wenn für einen Gewaltakt jeder noch so weit hergeholte Vorwand fehlt, dann wirft man sich in die Brust und verkündet: Für die Kultur! Glauben Sie mir, das wirkt immer.«

»Aber auf die Dauer doch wohl nur, wenn es sich zeigt, daß es sich nicht nur um ein Schlagwort oder einen Gemeinplatz, sondern wirklich um Kultur handelt,« erwiderte Miß Harrison.

»Dazu müßte man sich zunächst mal darüber verständigen, was eigentlich Kultur ist.«

Wieder lag jenes Staunen in ihrem Blick. Und ohne daß sie sprach, verstand er sie.

»Sie meinen, daß sei so klar und selbstverständlich, daß man es gar nicht erst zu erklären brauche.«

»Ist es das etwa nicht?« erwiderte sie. »Ich wenigstens sehe es einem Menschen an, ob er Kultur hat oder nicht. Es gibt Abstufungen. Gewiß! Aber so bestimmt man sagen kann, daß die Australneger und die wilden Stämme Afrikas keine Kultur haben, ebenso fest steht es, daß England der Kulturstaat up to date« – und so, wie sie das sagte, ließ es sich einfach nicht übertragen – »ist.«

»Und wenn ich Ihnen erwidere, daß es eine maßlose Überhebung ist, so etwas zu behaupten!« sagte Stoelping gereizt.

»So ändert das nichts an der Tatsache, daß es so ist,« erwiderte Miß Harrison ruhig und bestimmt und durchaus nicht über den Ton gekränkt, der einer Dame gegenüber immerhin ungewöhnlich war.

Aber Stoelping war nun mal in seinem Fahrwasser, und zum hundertsten Male stellte er mit deutscher Gewissenhaftigkeit die Leistungen deutschen Geistes während der letzten Jahrhunderte denen englischen Geistes gegenüber. Die Beweisführung war lückenlos und schloß jeden Einwand aus.

Stoelping glaubte, Miß Harrison entwaffnet und überzeugt zu haben. Aber die hatte, ohne eine Miene zu verziehen, die lange Rede Stoelpings über sich ergehen lassen. Und als er sie jetzt in Erwartung einer Antwort zuversichtlich ansah, lächelte sie und sagte:

»Sehr interessant war das, – nur mit Kultur, scheint mir, hat das wenig zu tun.«

»Ja, wenn Sie nicht einmal Bildung und Fortschritte des menschlichen Geistes unter den Begriff Kultur rechnen, dann werden wir uns freilich nicht verständigen.«

»Sie selbst haben gesagt, daß ein gewisses Quantum von Wissen noch nicht Kultur ist.«

»Noch nicht,« erwiderte Stoelping, »weil dazu mehr gehört.«

»Ich habe mit einem berühmten deutschen Professor, der das wandelnde Konversationslexikon war und tatsächlich alles wußte, in Kairo zusammen an einem Tisch gesessen. Dieser Kulturmensch hat sich während des Essens mit einem Zahnstocher die Zähne gereinigt und die Kartoffeln mit dem Messer zerschnitten.«

»Und ich bin in Berlin mit einem Engländer zusammen gewesen, der in seinem Auto reiste, zwei Diener mit sich führte und dreimal am Tage seine Anzüge wechselte. Und dieser Kulturmensch verwechselte Strauß mit Wagner und wußte von Shakespeare nichts weiter, als daß ein gewisser Max Reinhardt ihn kurz vor Ausbruch des europäischen Krieges entdeckt hatte.«

Der Gesichtsausdruck der Miß Harrison verriet Stoelping, daß ihr ein Gespräch über Richard Wagner oder Shakespeare auch nicht gerade willkommen war. Aber sie gestand es nicht. Vielmehr sagte sie:

»Es gibt eben eine innere und eine äußere Kultur.«

»Aha!« erwiderte Stoelping. »Auf der Basis bin ich bereit, mich mit Ihnen zu einigen. Sie billigen uns Deutschen die innere, also die Geistes- und Bildungskultur, zu, und wir lassen Ihnen die sogenannte äußere, die sich im gut sitzenden Frack und in manikurten Fingernägeln äußert.«

Aber damit war sie durchaus nicht einverstanden.

»Auch die äußere Kultur setzt Bildung voraus,« sagte sie, »wenn vielleicht auch eine andere.«

»Gut, trennen wir also geistige und gesellschaftliche Kultur. Und ohne die Formen des menschlichen Lebens – denn darauf läuft ja wohl das, was Sie meinen, hinaus –, zu unterschätzen, scheint mir doch, daß die durch die Pflege des Geistes hervorgebrachten Wirkungen in der Geschichte der Menschheit eine bedeutendere Rolle gespielt haben. Und ein Volk, das wie das deutsche, neben seinen täglichen Sorgen zu Mozart und Beethoven gefunden und sich an Kant und Goethe gebildet hat, scheint mir wertvoller als eine Nation, deren außerberufliche Interessen sich im Fußball und in gesellschaftlichen Nuancen erschöpfen.«

Miß Harrison wurde unruhig.

»Diese deutsche Gründlichkeit!« schalt sie. »Was Sie da alles für feine Unterschiede und geistreiche Vergleiche machen! und damit die einfachsten Dinge erschweren! Ob ein Volk Kultur hat oder nicht, hängt weder von Kant und Goethe, noch vom Fußball und von gesellschaftlichen Nuancen ab. Dafür gibt es keine Formel. Das hat man im Gefühl.«

»Endlich!« rief der alte Stoelping, der am selben Tisch ihnen gegenüber saß und mit seiner Nachbarin, der Frau Ephrussi, dem Gespräch seines Sohnes mit Miß Harrison gefolgt war, »endlich das erlösende Wort! Gefühl! Gewiß, darauf kommt es an. Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nie erlernen. Gewiß ist Kultur der überkommene geistige und moralische Besitzstand eines Volkes, der sich forterbt und fortentwickelt und unbewußt und vom eigenen Willen unabhängig, rein gefühlsmäßig in jeder Handlung sich äußert. Kultur ist das aus diesem überkommenen und betätigten Erbe entsprungene sittliche Gefühl, ist der Kampf gegen Barbarei, der Kampf der sittlichen Kraft gegen den Instinkt. Im Namen der Kultur handeln, kann demnach nichts anderes heißen, als durch Bildung des Geistes und Verfeinerung des Gefühls die Menschheit fortentwickeln. Fordert die Religion: Friede auf Erden um der Liebe willen, so geht die Kultur über die Lehre Christi noch hinaus. Auch sie wendet sich an das Gefühl. Auch ihr gilt die Liebe unter den Menschen als das Höchste. Aber nicht durch den blinden Glauben will sie die Menschen gewinnen und zur Liebe bringen; das Wort Christi in Ehren; aber leben und stark sein kann es erst, wenn sehende Menschen es halten und verkünden. Darum setzt im Gegensatz zur Religion Kultur Bildung voraus. Kultur ist fortentwickelte Religion. Kultur ist: Gefühl und Verstand bilden, bis an die Stelle der schlechten Instinkte Nächstenliebe und Vernunft treten. Darum mag man Glaubenskriege führen. Kriege im Namen der Kultur führen aber ist in sich widersinnig. Und darum glaube ich, kann man für jeden einzelnen Fall entscheiden, ob das Wort Kultur berechtigt oder, wie leider in den meisten Fällen, nur Bluff ist.«

»Das alles sind nichts weiter als Sophismen,« sagte Mr. Harrison, der rechts von dem alten Ephrussi saß.

»Grundsätze sind es,« widersprach der junge Stoelping, »die uns Deutschen längst in Fleisch und Blut übergegangen sind.«

»Dann führen Sie also auch keine Kriege mehr?« spottete Mr. Harrison.

»Niemals aus Neid oder um Geschäfte zu machen,« erwiderte der junge Stoelping, »sondern nur, wenn wir dazu gezwungen werden oder großer nationaler Ideen wegen. Denn nicht Gewalt, sondern besser machen, heißt für Kulturvölker die Formel des Erfolges.«

»Ein Prachtkerl, dein Sohn!« rief Ephrussi, »er hat die Ethik mit Löffeln gegessen.«

Und Mr. Harrison, der, ohne es merken zu lassen, längst empfand, daß Stoelpings Hieb ihm und England galt, rief:

»Ob er sie aber auch verdaut hat, ist eine andere Frage.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Stoelping in sehr erregtem Tone.

»Daß Ideen entwickeln und Ansichten vertreten noch keine Gewähr für den Charakter eines Menschen sind.«

»Das soll doch nicht heißen . . .!« rief Stoelping erregt.

Doch Mr. Harrison fuhr, ohne den Tonfall zu ändern, fort:

»Das soll heißen, daß Theorie und Praxis oft verdammt« – er sagte »damned« – »verschieden sind.« Und dabei lächelte er so niederträchtig, daß mancher am Tisch merkte, worauf er anspielte.

Daß Mr. Harrisons »Lori« das große Rennen vor einer Stunde nur durch die Karambolage mit Stoelpings »Ingo« verloren hatte, wußten alle. Ebenso wußte jeder, der etwas Erfahrung besaß und ein wenig Blick für den Sport auf dem grünen Rasen hatte – und das waren in diesem Kreise alle –, daß nicht der Engländer, sondern »Ingo« schuld an diesem Zwischenfall gewesen war. An eine Absicht Stoelpings glaubte außer seinem Vater, der ihn kannte, niemand. Was Stoelping zustatten kam, war: »Ingo« war ein Verbrecher, der schon oft mit dem sicheren Siege kurz vor dem Ziele ausgebrochen war. Hatte man ihn früher dieser Untugend wegen gescholten, – heute, wo dies Verbrechen Tugend war, hatte man ihm zugejubelt. Und bei der Liebe, mit der diese begeisterte Sportgemeinde an ihren Lieblingen hing, gingen viele in ihrem blinden Glauben so weit, daß sie sich mit Erfolg einredeten, »Ingo« habe aus einem Instinkt heraus dem Engländer den Sieg entrissen.

Mit alldem rechnete in diesem Augenblick der junge Stoelping.

»Meinen Sie nicht, Mr. Harrison,« fragte er sehr erregt, »daß Widerspruch in Theorie und Praxis in den meisten Fällen auf Heuchelei herauskommt?«

Und Mr. Harrison erwiderte, ohne eine Miene zu verziehen:

»Das meine ich allerdings, Herr von Stoelping.«

Stoelping reizte absichtlich weiter:

»Dann wird Ihnen ein solcher Fall, solange Sie den Vorzug haben in Deutschland zu sein, kaum begegnen.«

Diese Keckheit verblüffte Harrison keinen Augenblick. Er fühlte, sie glichen und verstanden sich.

»So aus der Welt läge es nicht,« sagte er.

»Bitte! reden Sie!« Und Stoelping lehnte sich über den Tisch, biß die Lippen aufeinander und sah wie ein Raubtier, das auf dem Sprunge liegt, zu Harrison hinüber.

»Nehmen Sie zum Beispiel an,« sagte Harrison, und seine Ruhe stach stark von Stoelpings Erregtheit ab, »Sie hätten durch die unglückselige Karambolage heute das Rennen gewonnen . . .«

»Bitte!« erwiderte Stoelping scharf, »was wäre dann?«

»Nun, zum mindesten wären Sie in die immerhin unangenehme Lage gekommen, disqualifiziert zu werden.«

»Was weiter?«

»Weiter? Nun, man hätte unter Umständen auf den Gedanken kommen können, zu eruieren, ob und wie weit Sie etwa ein Verschulden trifft.«

Stoelping wollte erwidern.

»Einen Augenblick,« wehrte Mr. Harrison, »sehen Sie, der Wunsch, selbst zu gewinnen oder ein anderes deutsches Pferd gewinnen zu lassen, wäre begreiflich. Da das aber nicht mehr in Frage kam, so mußte es Ihnen natürlich gleichgültig sein, welcher Ausländer gewann; denn ich darf annehmen« – und das klang nicht gerade sehr ehrlich, – »daß Sie den Engländern dasselbe Wohlwollen und dieselbe Achtung entgegenbringen wie jedem anderen Ausländer.«

»Und wenn ich das nicht täte?« lag es Stoelping auf der Zunge, und er hätte es wohl auch ausgesprochen, wenn Harrison nicht fortgefahren hätte:

»Es gäbe natürlich noch eine dritte Möglichkeit.«

»Welche?« fragte Stoelping.

»Nun, ohne Sie etwa persönlich treffen zu wollen, ganz allgemein, wäre es ja immerhin denkbar, daß vielleicht Wettinteressen . . .«

»Sie meinen . . .?«

»Ganz allgemein. Nehmen Sie an, man glaubt an den Sieg des Franzosen und unterstützt diesen Glauben, indem man sein Geld . . .« – er zögerte, denn er fühlte, daß in dem Fortspinnen dieses Gedankens eine starke Herausforderung lag.

»Weiter!« drängte Stoelping.

»Ich wiederhole, ich spreche ganz allgemein und will mit dem, was ich sage, beileibe keine Vermutungen aussprechen. – Genau, wie vorhin Ihre Betrachtung über Kultur ja allgemein gehalten war und sich nicht etwa auf eine bestimmte Nation bezog, – also warum soll man, wenn man an einen Sieg des Franzosen glaubte, sein Geld auf den Engländer legen.«

Stoelping stand jetzt.

»Sie wollen damit doch nicht etwa sagen . . .?«

»Beileibe nicht,« sekundierte Harrison die ungeschickte Frage Stoelpings. »Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß Sie nicht einen Pfennig auf den Franzosen angelegt haben. Erstens verbietet's das Reglement, vor allem aber Ihre soziale Stellung und die Ihres Vaters.«

»Der Mensch vor allem verbietet's!« rief Stoelping empört.

»Den zu kennen ich bis heute leider nicht den Vorzug hatte,« erwiderte Harrison.

»Bitte!« sagte jetzt Miß Harrison scharf und bestimmt zu Stoelping, »Sie führen nicht meinen Vater, sondern mich zu Tisch.«

Und Stoelping, der während der letzten Worte Harrisons, ohne es zu wissen, gestanden hatte, setzte sich, griff nach dem Glas, goß den Inhalt herunter, trocknete den Mund, wandte sich zu Miß Harrison und sagte:

»Ich bitte um Verzeihung; aber das war eine Aussprache, die . . .«

»In Gegenwart von Damen besser unterblieben wäre,« beendete Miß Harrison den Satz.

»Es tut mir wirklich leid« – und dabei sah er sie an, zum ersten Male, während sie hier saßen, – »mir scheint wirklich, als hätten wir die halbe Stunde angenehmer verbringen können.«

Miß Harrison schob ihm das Menü hin und wies mit ihrer weißen Hand auf die Karte:

»Wir sind erst bei den Wachteln. Wenn Sie sich also beeilen, holen wir's noch nach!« und lächelnd fuhr sie fort: »Also was haben Sie mir noch zu sagen? Ihr Herz für England kenne ich nun. Ich will um des Himmels willen nicht noch einmal eine Kulturdebatte heraufbeschwören. Nur eins möchte ich sagen. Wenn zur Kultur auch Takt gehört, dann zeugte das nicht gerade von hoher Kultur.«

»Und warum haben Sie dann dem Gespräch nicht früher ein Ende gemacht?« fragte Stoelping.

Sie schwieg einen Augenblick; dann sagte sie, und wie sie es sagte, klang es durchaus ehrlich:

»Ich hatte Furcht, mein Rheinlachs könnte kalt werden. Nirgends bekommt man ihn so gut wie in Deutschland.«

Und als er stutzte und erstaunt war, fuhr sie fort:

»In allem sind sie so gründlich, diese Deutschen. Überall ist ihnen ihr Gefühl im Wege.«

»Wo hatten Sie Gelegenheit, das zu beobachten?« fragte Stoelping.

»Ich bin zwei Jahre lang in einer deutschen Pension gewesen.«

»Wie?« fragte Stoelping erstaunt, »aber dann müssen Sie doch Deutsch sprechen?«

»Selbstredend tue ich das.«

»Wenn ich nicht irre, so sagten Sie doch . . .«

»Sie irren durchaus nicht. Ich spreche eben lieber Englisch.«

»Und Sie haben sich wohl gefühlt in Deutschland?«

»Wohl gefühlt ist zu viel gesagt. Ich habe mir angeeignet, was man wissen muß. Im übrigen habe ich gestaunt und mich bis zum letzten Tage immer von neuem über die Gründlichkeit dieser deutschen Mädchen gewundert. Wenn die wirklich einmal ein Gefühl für etwas gefaßt hatten, dann saßen sie fest, vertieften sich immer mehr und ließen nicht mehr locker, – und das Ende war, daß sie entweder überglücklich oder kreuzunglücklich wurden.«

»Und das hat gar nicht auf Sie gewirkt?«

»Doch! Sehr gut hat das gewirkt! Ich bin, wenn möglich, noch vernünftiger, klarer und berechnender geworden. Es gibt für mich nichts mehr, was mich aufregen oder auch nur auf Stunden aus meiner Ruhe bringen könnte. Ich laufe daher auch nie Gefahr, mich innerlich zu engagieren; denn ich habe es an diesen deutschen Mädchen gesehen, daß ›Gefühl haben‹ eine sehr unbequeme Sache ist, bei der man mehr an andere als an sich selber denkt. Und dazu, muß ich gestehen, bin ich mir zu schade. Denn schließlich ist man ja nicht der anderen wegen auf der Welt.«

»Aber Sie kommen dadurch doch um viele Genüsse, – von der Liebe ganz abgesehen. – Denken Sie allein in der Kunst.«

»Wieso?« fragte sie erstaunt. »Ich war überall; ich habe alles gesehen, was man sehen muß.«

»Aber empfunden haben Sie nichts?«

»Aber doch. Wir hatten überall die besten Führer, – und zur Kontrolle noch Reisebücher, so daß wir genau wußten, wo wir . . .«

». . . etwas zu empfinden hatten,« ergänzte Stoelping. Und Miß Harrison, die den Spott nicht empfand, fuhr fort:

»Gewiß! In diesem Frühjahr waren wir zum Beispiel in Spanien. Drei Monate lang. Oh, es war herrlich! Es gibt kein Land, das so viel Sterne hat! Ich habe mir die Mühe gemacht und sie gezählt. Denken Sie,« – und jetzt schien sich alles, was sie an Temperament aufzubringen vermochte, in ihr zu regen, – »25 einfache und drei Doppelsterne mehr als in Italien.«

»Ja, ich verstehe nicht, von was für Sternen sprechen Sie denn?« fragte Stoelping. Und Miß Harrison sah ihn ganz erstaunt an und sagte:

»Vom Baedeker natürlich, wovon denn sonst? Oder finden Sie Meyer besser?«

»Aber nein!« erwiderte Stoelping und beugte sich, um seine Heiterkeit zu verbergen, über den Tisch. Nach einer Weile fragte er:

»Wissen Sie, Miß Harrison, ich finde, Baedeker ist so vorzüglich, daß eigentlich die Lektüre genügt, und daß man sich die Reisen ersparen kann.«

»Das habe ich auch schon gedacht,« erwiderte Miß Harrison, »aber ich glaube doch, anschaulicher wird es schon, wenn man die Dinge an Ort und Stelle sieht.«

Was Stoelping am meisten in Erstaunen setzte, war die Selbstverständlichkeit, mit der sie diese Dinge aussprach. Überhaupt interessierte ihn an dieser Frau ihre so ganz auf die Wirklichkeit gestellte, nüchterne Auffassung vom Leben. Zunächst war es das Neue, – daß alles so ganz anders war als bei allen anderen Frauen, die er kannte, – was ihn fesselte und reizte.

Während er darüber nachdachte, hatte sie Ephrussi, der rechts von ihr saß, ins Gespräch gezogen. Er erzählte ihr von den neuen Golfplätzen in Auteuil, und sie sprach von den Pferden und den Jagden, die ihr Vater in Schottland besaß.

»Wenn Sie in Deutschland jagen, Golf spielen oder Luftreisen machen wollen,« sagte Ephrussi, »müssen Sie sich an Ihren Nachbar wenden. Es gibt keinen Sport, auf dem Herr von Stoelping nicht zu Hause wäre.«

Und dabei wandten sich beide zu ihm, und Miß Harrison erwiderte:

»Wie sonderbar! Ich hatte Herrn von Stoelping für einen Philosophen gehalten.«

»Sie bleiben demnach längere Zeit bei uns?« fragte Stoelping.

»Wenn ich Gelegenheit hätte, Luftfahrten zu machen, würde ich Papa bitten, noch nicht abzureisen.«

»Wenn Sie sich meiner Führung anvertrauen wollen, wird es mir eine Freude sein, Ihnen ein bißchen unser Deutschland zu zeigen.«

»Wäre das nicht leichtsinnig von mir? Denken Sie« – und dabei verzog sie keine Miene, so daß man nicht recht wußte, ob es ihr Ernst damit war, oder ob sie nur scherzte –, »wenn wir 3000 Meter über der Erde plötzlich in ein Gespräch über ein Kulturproblem verwickelt werden, die Folgen wären unabsehbar.«

»Herr von Stoelping wird sich verpflichten, Ihnen nur von seinen Jagden zu erzählen,« vermittelte Ephrussi, und Stoelping streckte ihr die Hand hin und versicherte:

»Mein Wort darauf!«

»Und Sie werden ausschließlich Englisch mit mir sprechen?«

Stoelping zögerte.

»Bedenken Sie, daß ich eine Dame und außerdem Ihr Gast bin.«

»Darf ich offen sein?«

»Bitte!«

»Sie waren jahrelang in einer deutschen Pension, um Deutsch zu lernen. Zu welchem Zweck, wenn Sie es nicht einmal im Lande selbst sprechen wollen?«

»O bitte, ich spreche im Verkehr mit Domestiken, Chauffeuren und Museumsdienern immer Deutsch.«

»Weil Sie es müssen.«

»Sehen Sie, das ist es. Weil ich muß. Mit Ihnen aber, der Sie Englisch wie Deutsch und so rein sprechen, wie ich es noch nie von einem Deutschen gehört habe, muß ich es nicht. Also . . .« und jetzt streckte sie ihm die Hand hin.

Er griff danach, ganz unbewußt, und hielt sie länger und wohl auch fester, als nötig war. Sie lächelte, nickte ihm zu und sagte:

»Wie gut wir uns verstehen.«

Nach dem Diner faßte sie ihn bei der Hand und sagte:

»Kommen Sie, Baron!«

»Wo wollen Sie hin, Miß Harrison?«

»Zu Papa.« –

Der alte Stoelping und Ephrussi gingen, während die Kellner Kaffee und Liköre reichten, im Park spazieren.

»Ich versichere dich,« sagte Ephrussi, »diese Miß Harrison hat es hinter den Ohren. Sie ist selbst für englische Begriffe eine Meisterin des Cant und kann deinem Jungen gefährlich werden.«

Stoelping schüttelte den Kopf.

»Nie im Leben! Ein kleiner Flirt vielleicht, wenngleich ich selbst das bei seinem Haß gegen alles, was englisch ist, für unwahrscheinlich halte. Von einer ernsten Neigung kann einer Engländerin gegenüber bei ihm nie die Rede sein.«

»Nimm ihn trotzdem in acht!« sagte Ephrussi.

»Sei unbesorgt,« erwiderte Stoelping und sah sich nach seinem Sohne um, den Miß Harrison noch immer an der Hand hielt und eben zu ihrem Vater führte. Das wäre allerdings ein beispielloses Fiasko unserer Erziehung, dachte er. Aber er beruhigte sich und sagte: »Nein, das ist ja undenkbar.«

Dann nahm er Ephrussi unter den Arm und ging mit ihm die Allee hinunter. –

Mr. Harrison besprach mit dem Schlenderhahner Gestütsherrn, Grafen Oppenheim, gerade die Beschickung der Kölner Rennen, als seine Tochter mit Stoelping an ihn herantrat.

»Aber Herr von Stoelping darf nicht wieder auf einem Verbrecher sitzen,« sagte er scherzhaft, »damit wir uns hinterher beim Diner nicht wieder in die Haare geraten!«

»Um was für ein Rennen handelt es sich denn?« fragte Miß Harrison.

»Um die rheinische Steeple Chase,« erwiderte Graf Oppenheim.

»Also ein Herrenreiten!« rief Miß Harrison. »Nun, das ist doch sehr klar, Papa. Da bittest du einfach Herrn von Stoelping, für dich zu reiten. Dann bist du doch vor ihm sicher; denn mit sich selbst kann er unmöglich karambolieren.«

»Der Gedanke ist nicht übel,« erwiderte Mr. Harrison. »Wenn Sie einverstanden sind, Herr von Stoelping; ich vertraue Ihnen gern den Ritt an.«

»Ausgezeichnet!« stimmte Graf Oppenheim zu und wandte sich an Stoelping. »Sie haben auf Harrisons ›Lori‹ eine allererste Chance.«

Stoelping war über den Antrag so verblüfft, daß er auf den nächstliegenden Einwand, für das Rennen schon einen anderen Ritt übernommen zu haben, gar nicht kam.

»Ich fürchte, daß mich zu der Zeit ein wichtiger Prozeß in Berlin hält.«

»Gibt es denn bei Ihnen am Sonntag Prozesse?« fragte Miß Harrison.

»Aber nein!« erwiderte Graf Oppenheim, »Sie kommen morgens herüber und können abends schon wieder hinter Ihren Akten sitzen.«

»Sie haben in England gewiß Herren, die auf die Stute eingeritten sind,« sagte Stoelping.

»Das ist bei ›Lori‹ nicht nötig,« erwiderte Miß Harrison, »sie ist gutartig und ein sicherer Springer. Ich selbst habe sie in der Arbeit mehr als einmal geritten.«

Sie wußte längst, weshalb sich Stoelping sträubte, den Ritt zu übernehmen, zu dem sich jeder andere gedrängt hätte. Aber das gerade war es, was sie reizte, ihn zur Übernahme zu bestimmen. Seine Verlegenheit bereitete ihr Vergnügen. Unmöglich, dachte sie, kann er den wahren Grund nennen, obschon ihn jeder kennt.

Aber gerade, weil Stoelping das wußte, sprach er es, derart in die Enge getrieben, ganz offen aus.

»Ich muß es Ihnen gestehen, ohne die leiseste persönliche Animosität gegen Sie zu empfinden, daß mir das Gefühl, ein englisches Pferd gegen deutsche Kameraden zum Siege zu steuern, einigermaßen unbehaglich wäre.«

»Sie sind kein Sportsmann!« sagte Miß Harrison verächtlich, »und Ihnen wollte ich mich anvertrauen und in Ihrem Flugzeug Deutschland bereisen? Ich hätte ein sehr unsicheres Gefühl, glaube ich.«

»Wissen Sie, Miß Harrison, daß das kränkend ist?« fragte Stoelping.

»Nicht kränkender als Ihr Refus!« Sie trat dicht vor ihn hin und sah ihm in die Augen.

»Wenn ich Sie bitte« – und sie sprach jetzt Deutsch; zum erstenmal! ein entzückendes Deutsch –, »sagen Sie dann auch noch nein?«

Ihre geschickte, sichere, zielbewußte Art wirkte stark auf Stoelping. Diese Frau kannte keine Bedenken und Rücksichten. Hatte nur einen Gedanken: Vorwärts zu kommen! Ihr Ziel zu erreichen! Wie weit kam man an der Seite solcher Frau, dachte er.

»Sie werden sich mir anvertrauen?« fragte er sie.

Miß Harrison überlegte.

»Gut!« sagt« sie, »ich werde Ihnen mit gutem Beispiel vorangehen. Ich fahre mit Ihnen; und Sie haben hinsichtlich des Rittes nichts weiter zu tun, als jetzt nicht ›nein‹ zu sagen. Ist das nicht ritterlich von mir?«

Er schlug die Sporen zusammen, nahm ihre Hand und küßte sie.

»Werden wir länger als einen Tag fortbleiben?« fragte sie.

»Zwei Tage wird man für die Tour, die ich mit Ihnen gern machen möchte, schon gebrauchen.«

»Gut. Nach zwei Tagen also, wenn wir zurückkommen, sollen Sie sich entscheiden. Wollen Sie?«

Sie hielt ihm die Hand hin, und er schlug ein.

Und Mr. Harrison sagte zum Grafen Oppenheim:

»Der Ritt ist also vergeben.«

»Glauben Sie?« fragte der Graf. Und Harrison antwortete:

»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

 


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