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Der Diener brachte dem Geheimrat Schott eine Visitenkarte ins Arbeitszimmer. Der nahm die Karte und las:
Willi von Stoelping
Staatsanwalt.
»Ich lasse bitten!«
Schott schob einen Stoß von Briefen und Zeitungen, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, beiseite und stand auf.
Stoelping trat ins Zimmer.
Schott ging ihm entgegen, sie verbeugten sich, gaben sich die Hand und setzten sich. Schott an den Schreibtisch, Stoelping ihm gegenüber.
»Herr Geheimrat,« begann Stoelping, »ich darf annehmen, daß Ihnen das Verhältnis, in dem ich als Mensch und Beamter zu Ihrem Fräulein Tochter stehe, nicht unbekannt ist.«
Schott nickte mit dem Kopf und sagte:
»Meine Tochter erzählt mir alles.«
Stoelping schien überrascht.
»Dann wissen Sie am Ende auch von den Besuchen Ihres Fräulein Tochter bei Dr. Hempel?«
»Ich sagte schon: es gibt zwischen meiner Tochter und mir kein Geheimnis.«
»Darf ich wissen, ob Sie diese Besuche billigen?« fragte Stoelping.
»Sie schaffen meinem bedauernswerten Kinde Erleichterung – also billige ich sie. Im übrigen hat mich die menschliche, mitfühlende Art, mit der Sie, Herr Staatsanwalt, meine Tochter behandeln, sehr berührt. Ich hatte seit Tagen die Absicht, Sie aufzusuchen und Ihnen zu danken.«
»Ich folge nur meinem Gefühl,« erwiderte Stoelping, »es gibt eben Fälle, in denen der Beamte hinter den Menschen zurücktritt. Für solche Fälle gibt's keine Norm. Ich möchte fast behaupten, daß sie unabhängig von unserem Willen sind.«
»Eine schöne Regung auf alle Fälle! Und jedenfalls selten bei jemandem, der seinem Beruf nach gewöhnt ist, menschliche Handlungen nicht nach ihren Motiven, sondern lediglich nach Gesetzesparagraphen zu beurteilen.«
Stoelping verbeugte sich leicht.
»Nichts Ungewöhnliches!« sagte er, »indessen habe ich den Eindruck, daß Ihr Fräulein Tochter ein außerordentlicher Mensch ist.«
»Nach welcher Richtung?« fragte der Geheimrat.
»Selbstlos bis zur Aufopferung, zielbewußt, aufrichtig . . .«
». . . und treu!« ergänzte Schott, der die Begeisterung Stoelpings dadurch etwas abzuschwächen hoffte.
»Treu?« wiederholte Stoelping, stutzte, dachte einen Augenblick nach und verstand. Und mit verändertem Tonfall sagte er:
»Ja! und treu. Und das ist auch einer der Gründe, aus denen ich mit Ihnen sprechen wollte.«
Schott tat sehr erstaunt und fragte:
»So?«
»Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß ich Ihrem Fräulein Tochter den Schriftführerposten in der Frauenabteilung unseres Vereins für entlassene Strafgefangene angeboten habe.«
»Herr Staatsanwalt,« erwiderte Schott mit Nachdruck, »Sie dürfen wirklich alles, was meine Tochter angeht, bei mir als bekannt voraussetzen.«
»Nun und . . .?« fragte Stoelping, »Sie haben die Erlaubnis erteilt?«
»Ja! nicht gern! Und zwar war ich weniger aus Furcht, sie könnte sich überbürden, gegen die Übernahme eines neuen Amtes . . .«
»Ich versichere Sie, Herr Geheimrat, ich werde dafür sorgen, daß Ihr Fräulein Tochter in jeder Weise entlastet wird, ich werde ihr eine Hilfskraft zur Seite stellen . . . sie braucht sich um nichts zu kümmern . . .«
Schott schüttelte den Kopf.
»Da kennen Sie meine Tochter schlecht! Sie liebt nichts Halbes! Wo sie ist, da ist sie ganz! Und das ist auch gut so. – Nein!« fuhr er fort, »meine Bedenken gegen dies Amt liegen wo anders. Und zwar fürchte ich, daß es sie bei ihrem starken Mitempfinden seelisch zu arg angreifen wird, mit Menschen zu tun zu haben, die einen – seien wir ehrlich! – doch oft verdammt dauern können, und die – gestehen wir's nur! – selten aus Gründen, für die sie allein die Verantwortung tragen – meist sind es die sozialen Verhältnisse – aus der geraden Bahn gerissen werden. Ich kenne mein Kind und weiß, daß es einfach nicht imstande ist, außen zu bleiben, daß es sich hineinkniet in die Dinge und die Menschen – und dann, sehen Sie, da ist das weitere, was ich fürchte, anfängt, an einer Gerechtigkeit zu zweifeln, – und schließlich verbittert wird.«
»Ich habe aus den wenigen Begegnungen mit Ihrem Fräulein Tochter gerade den Eindruck gewonnen,« erwiderte Stoelping, »daß es nichts schadet, daß es vielleicht sogar eine Notwendigkeit ist, ihr den blinden Glauben an Dinge und an Menschen zu nehmen, zu denen sie sich aus irgendeinem Grunde irgendwie und irgendwann einmal bekannt hat.«
»O nein!« erwiderte Schott, »meine Tochter ist vielleicht etwas vertrauensselig, das geb' ich zu, zu unbekümmert und zu gerade heraus, das kommt, weil sie in ihrem Gefühl zu unmittelbar, zu einfach, zu unkompliziert, zu primitiv ist. Die Folge ist, daß sie bei anderen keine Heuchelei und Unaufrichtigkeit vermutet. Aber ehe sie sich zu etwas bekennt, da braucht sie Zeit, viel Zeit. Sie glauben gar nicht, wie gründlich sie gerade darin ist! Hat sie sich aber schließlich zu etwas bekannt – die Fälle, in denen es geschah, sind zu zählen – dann freilich hält sie durch, – ob es sich nun um eine gewonnene Erkenntnis, um eine Freundin oder um irgend etwas anderes handelt.«
»Den Eindruck habe auch ich, und deshalb eben, da mir das Wohl Ihres Fräulein Tochter am Herzen liegt, habe ich mich entschlossen, Sie um diese Unterredung zu bitten. Meinen Einwirkungen allein nämlich, fürchte ich, wird es kaum gelingen; weiß ich indessen, daß auch Sie, Herr Geheimrat, in der gleichen Richtung auf Ihr Fräulein Tochter einzuwirken suchen, so glaube ich bestimmt, daß der Erfolg nicht ausbleibt.«
»Und welches wäre dieser Erfolg, den Sie erstreben?« fragte Schott.
Schott und Stoelping sahen sich fest in die Augen.
»Ich hoffe . . .« fuhr Schott fort, – »aber nein!« brach er seine Rede ab – »was für eine Ungeheuerlichkeit! die ich da eben dachte – wie konnte ich Sie – auch nur in Gedanken – derart kränken.«
»Was bitte dachten Sie?« fragte Stoelping bestimmt.
»Nun, daß Sie meine Tochter dazu benutzen wollten, um gegen Dr. Hempel . . .«
»Bitte, sprechen Sie es nicht aus!« wehrte Stoelping. »Ich durfte nach dem, was Sie mir vorhin sagten, bei Ihnen als bekannt voraussetzen, daß ich Ihr Fräulein Tochter ausdrücklich von der Pflicht entbunden habe, mir über ihre Unterhaltungen mit Dr. Hempel zu berichten.«
»Ich weiß und würdige das, Herr Staatsanwalt, und bitte Sie in aller Form um Entschuldigung, wenn sich meine Gedanken einen Augenblick lang verirrten.«
»Kein Grund, Herr Geheimrat, Sie kennen mich nicht und sehen in mir nur den Beamten. Ich begreife daher, daß Sie in der Sorge um Ihr Kind auf einen derartigen Gedanken kamen.«
»Herr von Stoelping!« erwiderte der Geheimrat und nahm dabei die Visitenkarte auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Die Form haben Sie Ihrem Besuch gegeben, aber ich gestehe gern, auch mir ist es lieber, ich spreche zu dem Menschen als zu dem Staatsanwalt von Stoelping!«
»Um so offener kann auch ich sein. Und was ich jetzt sage, bitte ich, was mich betrifft, zunächst ganz unpersönlich zu fassen und zu prüfen.«
»Gern!« versprach der Geheimrat.
»Ihr Fräulein Tochter hat diesem Dr. Hempel die Ehe versprochen« – der Geheimrat nickte –, »und zwar mit Ihrem Einverständnis, wie ich vermute.«
Abermals nickte der Geheimrat.
»Die Situation des Herrn Dr. Hempel ist Ihnen bekannt?«
»Gewiß! er sitzt in Untersuchung, und man beschuldigt ihn eines schweren Verbrechens.«
»Eines Mordes,« ergänzte Stoelping. »Und ich darf hinzufügen, daß es meinen Nachforschungen schon heute gelungen ist, den Beweis seiner Schuld beinahe lückenlos zu erbringen.«
»Und wen,« fragte der Geheimrat, »soll dieser Dr. Hempel ermordet haben?«
»Wenngleich das Auswärtige Amt, das mich des Vertrauens gewürdigt hat, diesen Prozeß zu führen, nicht wünscht, daß darüber gesprochen wird, so mache ich bei Ihnen doch gern eine Ausnahme . . .«
»Oh, ich bitte!« wehrte der Geheimrat Schott ab, »mir zuliebe sollen Sie keine Indiskretion begehen.«
»Aber nein,« erwiderte Stoelping, »ich kann es Ihnen ruhig sagen. Es ist sowieso nicht mehr lange geheimzuhalten – es handelt sich um den russischen Minister Kowalski.«
»Gottlob, daß der tot ist!« platzte der Geheimrat heraus.
»W–a–a–a–s?« fragte Stoelping ganz entsetzt.
»Ob nun Dr. Hempel oder ein anderer dieser Verbrecherlaufbahn ein leider viel zu spätes Ende gesetzt hat, soviel steht fest: demjenigen, der diesen Massenmörder über den Haufen geschossen hat, verdanken Hunderttausende unschuldiger, junger Menschen ihr Leben.«
»Das ist ja Anarchie!« rief Stoelping und sprang auf. »Und den Standpunkt vertreten Sie, eine der anerkannten Stützen der Gesellschaft, ein namhafter Gelehrter, ein Rat zweiter Klasse!«
»Ein Mensch vor allen Dingen, wenn ich bitten darf,« erwiderte Schott. »Wie ich als Staatsbürger denke und handle, steht auf einem anderen Blatt. Im Interesse des Staates muß ich den Mord natürlich verurteilen – schon aus Gründen der Ordnung und Opportunität – und dafür stimmen, daß man den Täter zur Rechenschaft zieht und nach dem Wortlaut des Gesetzes bestraft. Auch wenn es Dr. Hempel, der Verlobte meiner Tochter, ist. Als Mensch aber bleibt es mir unbenommen, ihm meine Sympathie, und was in diesem Falle vielleicht schwerer wiegt, – meine Achtung zu bewahren.«
»Einem Mörder?« fragte Stoelping ganz benommen.
»Aus dem die Geschichte vielleicht einmal einen Helden macht,« erwiderte Schott. »Ich möchte jedenfalls nicht unter den Geschworenen sitzen, die ihn dem Henker überantworten.«
»Sie haben freie Anschauungen, Herr Geheimrat. Wohin würde es führen, wenn sich auch nur die politisch extremsten Gegner untereinander als Freiwild betrachten würden.«
»Hier handelt es sich nicht um politische Gegnerschaft, sondern um pathologische Cäsareninstinkte! Wie man um der Menschheit willen einen Nero, einen Caligula umbringen durfte – wohlverstanden! immer nur vom ethischen Standpunkte aus; die strafrechtliche Verantwortung bleibt in jedem Falle bestehen! – so auch diesen Kowalski. – Aber, Herr von Stoelping, kommen wir zur Sache, wir verlieren uns.«
»Mir scheint auch, es ist besser, wir sprechen von anderen Dingen. – Ich deutete schon an, daß sich mein Interesse für Ihr Fräulein Tochter nicht im Prozessualen erschöpft. Ich habe den aufrichtigen Wunsch, daß sie, ohne seelisch Schaden zu nehmen, über diese unglückselige Affäre hinwegkommt.«
»Darin, Herr von Stoelping, begegnen sich, bei aller Verschiedenheit unserer sonstigen Auffassung, unsere Wünsche. Sie begreifen, auch mich beschäftigt diese Seite des Falles am meisten. Offen gesagt, ich kann mir noch keine rechte Vorstellung davon machen, wie das geschehen soll.«
»Wenn ich mir da vielleicht erlauben darf . . .«
»Bitte!« sagte der Geheimrat.
»Ich meine, ob es nun zu einer Verurteilung kommt oder nicht – für mich besteht darüber übrigens kein Zweifel –, Sie werden zugeben, daß auf alle Fälle die Trennung Ihres Fräulein Tochter von diesem Dr. Hempel schon in diesem Stadium ebenso menschlich selbstverständlich wie gesellschaftlich notwendig ist.«
Stoelping erwartete, daß der Geheimrat zustimmen würde; der aber schwieg und bat Stoelping durch eine leichte Bewegung des Kopfes, fortzufahren:
»Selbst Dr. Hempel hat sich so viel Einsicht und Takt bewahrt, daß er Ihr Fräulein Tochter nicht in den Prozeß hineingezogen haben möchte. Da eine offizielle Verlobung glücklicherweise nicht erfolgt ist, so ist bis zum Augenblick wenigstens auch Ihr Fräulein Tochter noch nicht kompromittiert; ja, es ließe sich vielleicht sogar ermöglichen, daß sie völlig außen bleibt.«
»Ich kann Ihnen verraten, Herr von Stoelping, daß meine Tochter, falls Sie nicht Wert auf ihr Zeugnis legen, im Einverständnis mit Dr. Hempel darauf verzichtet, als Leumundszeuge aufzutreten. Für die Anklagebehörde kann das ja nur von Vorteil sein; denn daß das Zeugnis meiner Tochter, die von der Sache selbst natürlich nichts weiß, für Dr. Hempel nicht gerade ungünstig lauten würde, kann man wohl annehmen.«
»Dann wäre damit die gesellschaftliche Seite des Falles erledigt, und es bliebe noch die rein menschliche.«
»Wie denken Sie sich das?« fragte der Geheimrat.
»Durchaus einfach: die äußerliche Trennung ist ja in dem Augenblick der Verurteilung Dr. Hempels von selbst vollzogen. Nicht aber, was wesentlicher ist, die innere. Und da, meine ich, könnten Sie viel wirken; zum mindesten dazu beitragen, daß der seelische Prozeß des innerlichen Überwindens beschleunigt wird.«
»Ja, Herr von Stoelping, ich muß gestehen, ich bin einigermaßen überrascht,« erwiderte der Geheimrat, »dies Interesse geht ja denn doch so weit, daß ich Sie um eine Erklärung darüber bitten muß, was Sie eigentlich zu dieser ungewöhnlichen Anteilnahme veranlaßt.«
»Ich bitte Sie, Herr Geheimrat, Ihnen die Antwort darauf vorläufig schuldig bleiben zu dürfen und sich für den Augenblick mit der Versicherung zu begnügen, daß ich es gut mit Ihrer Tochter meine – so gut, wie man es mit einem Menschen überhaupt nur meinen kann. Die Umstände aber scheinen mir jetzt nicht geeignet, näher darauf einzugehen.«
»Mir auch nicht,« erwiderte der Geheimrat und zog die Stirn in Falten. – »Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte er nach einer Weile, »dann wollen Sie, daß ich auf meine Tochter einwirke.«
Stoelping nickte.
»Das meine ich.«
»Und zwar in dem Sinne,« fuhr der Geheimrat fort, »daß sie diesen Dr. Hempel überwindet . . .«
Abermals nickte Stoelping; diesmal lebhafter und mehrmals hintereinander.
». . . und ihre Gefühle Ihnen zuwendet.«
Der Geheimrat ließ Stoelping nicht aus den Augen.
»Dem Sinne nach ja . . .« erwiderte Stoelping, »nur daß es natürlich in dieser Form und in dieser Situation ungewöhnlich klingt – und nicht gut angeht, daß ich von meinen Gefühlen spreche, die ich, wenn auch nicht unterdrücke – dazu sind sie zu stark –, so doch gern zurückstelle, bis die Verhältnisse wieder normale geworden sind.«
»Und wenn auch die Gefühle meiner Tochter zu diesem Dr. Hempel zu stark wären, um sie zu unterdrücken?« fragte der Geheimrat, »was dann?«
»Darum eben bin ich hier,« erwiderte Stoelping, »um mir Ihren Beistand zu sichern. Denn schließlich scheint es mir ja auch im Interesse Ihrer Tochter zu liegen . . .«
Der Geheimrat stand auf.
»So! nun will ich Ihnen mal etwas sagen, Herr von Stoelping,« begann er in einem Tone, der erkennen ließ, daß er einen Entschluß gefaßt hatte. »Wenn ich Sie recht verstehe, so fordern Sie von mir, daß ich mir meine Tochter hereinrufe und ihr sage: mein liebes Kind, der Mann, den du liebst und dem du Treue gelobt hast, der ist ins Unglück geraten – und zwar ist er ein Opfer seiner Überzeugung geworden. Ob er ein Verbrecher oder ein Held ist, darüber kann man, je nach seinem inneren Menschen, verschiedener Ansicht sein. Fest steht: er ist erledigt! – Und das allein gibt den Ausschlag – und zwar so gründlich erledigt, daß jede weitere Gemeinschaft mit diesem Menschen dich kompromittiert. Ich verlange also von dir, daß du ihn fallen läßt! Gefühle, die dich etwa noch an ihn binden, unterdrückst . . .«
Hier gab Stoelping abermals seiner Zustimmung Ausdruck.
». . . und sie einem andern, und zwar Herrn von Stoelping, zuwendest! – Meinen Sie das?« fragte der Geheimrat und trat nahe an Stoelping heran.
»Ich erlaubte mir schon einmal zu sagen: dem Sinne nach ja; nur in der Form vielleicht hier oder da etwas anders. Aber das müssen Sie, die Sie Ihre Tochter ja kennen, am besten wissen.«
»Gewiß, ich kenne sie. Und darum will ich Ihnen auch verraten, Herr von Stoelping, was meine Tochter mir erwidern würde. Ich sehe sie deutlich vor mir. Sie würde die Hände auf meine Schultern legen, mir in die Augen sehen, den Kopf schütteln und sagen: ›Nein, Vater, das verlangst du nicht! Was du von mir verlangst, ist, daß ich ihm treu bleibe und um so fester zu ihm halte, je offensichtlicher sich alle Welt von ihm abwendet.‹ – Und wissen Sie, was ich daraufhin täte? Ich würde mein Kind in die Arme schließen und zu ihm sagen: ›Verachtet hätte ich dich, wenn du mir eine andere Antwort gegeben hättest.‹«
Stoelping war sich im ersten Augenblick nicht im klaren, ob es dem Geheimrat mit dem, was er da sagte, wirklich ernst war. Aber der Blick, mit dem er ihn maß, nahm jeden Zweifel.
»Ja – und die Welt – die Menschen – was würden die sagen . . .?«
»Das würde mein Kind so wenig kümmern, wie mich. – Sie nehmen es mir also nicht übel, Herr von Stoelping, wenn ich Ihnen Ihre Bitte abschlage.«
»Wenn die Dinge so liegen,« erwiderte der, »dann freilich will ich niemandes Gefühle verletzen. Dann warte ich lieber ab, ob nicht vielleicht doch die Tatsachen eines Tages so laut sprechen, daß Sie und Ihr Fräulein Tochter Ihre Meinung ändern.«
»Das scheint auch mir im Augenblick das richtige zu sein,« erwiderte der Geheimrat, und ich hoffe, daß uns unsere Offenheit ein gutes Stück näher gebracht hat. Ich wenigstens werde mich freuen, wenn unsere Bekanntschaft nicht auf diese Unterhaltung beschränkt bliebe.«
Der feine Takt, mit dem der Geheimrat dem jungen Stoelping über seine ziemlich verfahrene Situation hinweghalf, wirkte so wohltuend auf Stoelping, daß er rein gefühlsmäßig – wann je war das schon bei ihm vorgekommen! – dem Geheimrat die Hand entgegenstreckte und sagte:
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit! Hoffentlich geben Sie mir bald Gelegenheit, mich über andere Dinge mit Ihnen zu unterhalten.«
»Aber gern!« erwiderte der Geheimrat und begleitete Stoelping an die Tür.
*
Als Stoelping in sein Auto stieg, war er sich klar, daß sein Entschluß trotz allem unverändert fortbestand. Daß sich ihm Hindernisse in den Weg stellten, konnte ihn nicht umstimmen, bestärkte ihn nur; denn die gerade waren ihm ein neuer Beweis für die Gesinnung, derentwegen er eine Verbindung mit Ilse Schott erstrebte.
Da Hempel mit dem Urteil ausschied, auch wenn ihn diese Schotts aus einem Gefühl heraus, das ihm fremd war, aber imponierte, noch nicht fallen ließen, bezweifelte er keinen Augenblick. Also hing von dem günstigen Ausgang des Prozesses nicht nur seine Karriere ab; auch für die Möglichkeit, Ilse zu erobern, war es die Vorbedingung.
Er zündete sich eine Zigarette an, gab sich Mühe, nicht über den Eindruck, den er bei dem alten Schott hinterlassen hatte, nachzudenken und zwang seine Gedanken vorwärts, auf den Prozeß zu, der nun keinerlei Unterbrechung mehr erfahren sollte.
Der Geheimrat ließ, als Stoelping ihn verlassen hatte, seine Tochter zu sich rufen.
»Aus welchem Grunde glaubst du wohl,« fragte er sie, »gestattet dir dieser Staatsanwalt von Stoelping, Dr. Hempel zu besuchen?«
»Wie kommst du zu der Frage?« erwiderte Ilse erstaunt.
»Nun, du wirst zugeben, daß es zum mindesten ein ungewöhnliches Verfahren ist.«
»Gewiß . . . das schon.«
»Vermutlich also auch eine ungewöhnliche Ursache hat.«
»Darüber habe ich noch keinen Augenblick lang nachgedacht.«
»Hättest es aber tun sollen.«
»Ja, warum denn?« fragte Ilse ängstlich.
»So tue es jetzt.«
Ilse überlegte.
»Ich kann mir nur denken,« sagte sie, »daß es Mitgefühl ist, – das ist ja wohl auch verständlich . . .«
»Mitgefühl mit wem?« fragte der Geheimrat.
»Glaubst du?«
»Oder auch mit mir – das ist ja doch aber auch ganz gleich, warum es geschieht.«
»Doch nicht ganz; denn du darfst nicht vergessen, daß du dich Herrn von Stoelping dadurch verpflichtest.«
»In welcher Form?«
»Eben das ist die Frage. Und wie ich Herrn von Stoelping beurteile, ist es möglich, daß er Mittel und Wege findet, diese Form zu bestimmen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß ich den Eindruck habe: Herr von Stoelping liebt dich.«
»Was?« rief Ilse, fuhr zurück und hielt sich die Hände vor die Ohren.
»Ganz sicher bin ich mir noch nicht. So viel aber weiß ich: sein Wunsch und Wille ist es, dich zu heiraten.«
»Das ist empörend!« rief Ilse und ballte die Faust, »wo er weiß, daß ich und Günther . . .«
»Er hält ihn für verloren, – jedenfalls rechnet er nicht mehr mit ihm.«
»Dann wünsche ich nur, daß er sich damit so verrechnet wie mit mir!« sagte Ilse. »Darauf soll ein Mensch seine Hoffnung bauen! Ist das nicht furchtbar – Vater?«
»Ungewöhnlich zum mindesten. Wenigstens für unser Empfinden,« erwiderte der Geheimrat. »Wärst du aus demselben Holz geschnitzt wie dieser Stoelping, so könntest du aus seiner Neigung Kapital für Dr. Hempel schlagen. Da du das nicht kannst, so gib acht, daß du ihm wenigstens nicht schadest.«
»Nun, wo ich das weiß,« erwiderte Ilse, »werde ich mich vorsehen,« und nachdenklich verließ sie das Zimmer.
Der Geheimrat war hart und alles eher als sentimental. Seine Frau und den einzigen Sohn hatte er innerhalb eines Jahres verloren. Er hatte es überwunden, ohne daß Ilse, die damals ein Kind von dreizehn Jahren war, ihm eine Veränderung anmerkte. Und ohne seine Arbeiten zu vernachlässigen, hatte er es verstanden, dem Kind über die Leere, auf die es nach dem Tode von Mutter und Bruder schon rein äußerlich auf Schritt und Tritt stieß, hinwegzuhelfen.
Diese neue Prüfung aber, die er hart und ungerecht fand, ging über seine Kraft. Das Schicksal, das über sein Kind hereinbrach, schien ihm so gewaltsam und beispiellos, daß er kein Mittel sah, es aufzuhalten oder auch nur in seiner Wirkung abzuschwächen.
»Es muß durchlebt werden!« sagte er zu seinem Freunde. »Ich kann es nicht aufhalten. Und wenn mein Kind und ich dabei zugrunde gehen,« – er zog die Schultern hoch – »nun, dann soll es so sein. Ich bin mein Leben lang kein Fatalist gewesen. Das jetzt hat mich dazu gemacht! – Das einzige, was wir tun können, ist, uns treu bleiben, damit wir, wenn das Schicksal über uns hereinbricht, ein gutes Gewissen haben und uns sagen können, wir haben unsere Pflicht getan. Darüber hinaus gibt es nichts.