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Stoelping ging wieder in sein Zimmer.
Er setzte sich an den Schreibtisch, stützte den Kopf in beide Hände und überlegte:
Wenn ich sie jetzt bei mir hätte! in dieser Verfassung! ihr Widerstand wäre schnell gebrochen, und sie sagte mir alles. – Läßt man ihr aber Zeit, und ist der erste Schreck überwunden, nimmt sich womöglich der Vater ihrer an, und kommt sie zur Ruhe, dann wird es schwer sein, sie zum Sprechen zu bringen. Und zwingen kann man sie nicht. Sie ist seine Braut und kann ihr Zeugnis verweigern, – davon also, daß ich diese Stunde geschickt nutze, hängt für den Prozeß viel, vielleicht alles ab! – Er schloß für einen Augenblick die Augen: Ja! entschied er, ich bin es meiner Karriere schuldig.
Aber im selben Augenblick kamen ihm auch schon wieder Bedenken. Wenn sie mir dadurch verloren ginge! Wird sie nicht den, der ihr das Geheimnis entlockt hat, hassen? Oder ist es etwa gerade dies Geheimnis, um das kein Dritter weiß, das sie womöglich noch fester mit ihm verbindet? Das, wenn es erst einmal heraus ist und die Welt es kennt, seinen Reiz verloren hat? – Wieder schob er die Stirn in Falten. – Ohne Zweifel! entschied er, so ist es! Also heißt es handeln. Heute noch! und zwar auf der Stelle.
Er drückte auf die Klingel, ließ sich Hut und Mantel bringen, befahl seinem Chauffeur, neben ihm Platz zu nehmen und fuhr mit der höchsten Geschwindigkeit, ohne sich durch die Warnungen der Polizisten aufhalten zu lassen, in der Richtung nach Wannsee.
Zwischen Hubertus und Paulsborn überholte er das Auto, in dem Ilse saß. Trotz der Kälte fuhr sie im offenen Wagen. Sie saß tief zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen und sah nicht das Auto neben sich, an dessen Steuer Stoelping saß.
Erst jetzt, als er mit lauter Stimme dem Chauffeur »Halt!« zurief und beide die Bremsen anzogen, fuhr sie aus ihren Gedanken auf und sah erschrocken zu ihm hinüber.
»Fahren Sie!« wollte sie ihrem Chauffeur zurufen, aber sie brachte kein Wort heraus, saß wie gebannt auf ihrem Sitz und starrte ihn an, der kein Auge von ihr ließ.
Die Autos kamen zur gleichen Zeit zum Stehen. Im selben Augenblick sprang Stoelping auch schon aus seinem Wagen und stand vor Ilse, zog den Hut und sagte:
»Verzeihen Sie, verehrtes Fräulein, ich muß ein paar Worte mit Ihnen reden.«
»Nein! nein!« wehrte Ilse, »nicht heute! nicht jetzt! ein andermal. Bitte, sagen Sie meinem Chauffeur, er solle weiter fahren.«
»Ja, ich begreife nicht . . .«
»Ich habe nur eine Bitte: lassen Sie mich jetzt allein.«
»Um alles in der Welt! was geht mit Ihnen vor? Ich verlange ja keinen Dank für die Art, in der ich auf Ihre Gefühle Rücksicht nehme und Ihnen entgegenkomme; aber mich derart vor den Kopf zu stoßen, haben Sie, wie mir scheint, denn doch keine Veranlassung.«
»Gewiß nicht! und es ist auch wirklich nicht meine Absicht, Sie zu kränken. Aber sehen Sie denn nicht, daß ich in einer Verfassung bin, in der ich niemanden sehen kann und allein sein muß?«
»Ich sehe es. Aber darum gerade will ich mit Ihnen sprechen. Es geht nicht, daß Sie sich sozusagen unter meiner Verantwortung zugrunde richten. Diese Besuche . . .«
»Es war der letzte,« fiel ihm Ilse ins Wort.
»Wie?« fragte Stoelping erstaunt, »warum, aus welchem Grunde?«
»Darf ich Sie erinnern, daß Sie mich der Pflicht enthoben haben, Ihnen zu berichten, was wir miteinander sprechen?«
»So hat er also den Anstoß dazu gegeben?« fragte Stoelping und machte ein Gesicht, aus dem Ilse einen Vorwurf für Günther las.
»Nein!« widersprach sie lebhaft, »er nicht! bestimmt nicht. Bitte, glauben Sie mir das.«
Stoelping nützte das Interesse, das sie daran hatte, ihn zu überzeugen, aus.
»Da Sie mich bitten, so muß ich es wohl. Aber ich muß Ihnen sagen, – leicht fällt es mir nicht.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort, es ist so,« beteuerte Ilse, »im übrigen, wenn Sie es denn durchaus wissen wollen . . .«
»Aber nein,« wehrte Stoelping ab, »ich möchte nicht, daß Sie sich meinetwegen etwa bemühen und nicht bei der Wahrheit bleiben.«
»So!« fuhr Ilse auf, »nun, dann will ich es Ihnen sagen, was mich dazu gebracht hat, meine Besuche einzustellen.«
»Nun?« fragte Stoelping.
»Niemand anders als Sie!«
»Da muß ich denn aber doch auf eine Erklärung dringen!« forderte Stoelping, und Ilse erhob sich und erwiderte:
»Die sollen Sie haben.«
Er reichte ihr die Hand und half ihr aus dem Wagen.
»Warten Sie hier!« rief er den Chauffeuren zu und ging mit Ilse in den Wald hinein.
»Ich bin sehr ungeduldig!« sagte Stoelping.
»Sie waren bei meinem Vater!«
»Können Sie mir daraus einen Vorwurf machen, daß ich um Sie besorgt bin?«
»Gewiß nicht, aber da ich nun weiß, daß Ihre Besorgnis einem Gefühl entspringt, das ich nicht erwidern kann, so werden Sie begreifen, wenn ich von Ihrer Güte keinen Gebrauch mehr mache.«
Stoelping stutzte.
Daß Ilse so gerade heraus und so ohne jede Beschönigung sagen würde, was sie empfand, hatte er nicht erwartet; und die Einfachheit der Situation, die sie durch ihre Offenheit schuf, verwirrte ihn, der sich gerade in den kompliziertesten Gedankengängen am leichtesten zurechtfand.
»Darf ich Sie bitten, von dem einmal ganz abzusehen!« bat er sie.
»Das ist es eben, was ich nicht kann. Ich bringe es nicht fertig, meine Gefühle und Gedanken je nach Zweckmäßigkeit einzustellen oder auszuschalten.«
»Ich verlange nichts weiter, als daß Sie einen Augenblick lang mal an nichts anderes denken als an sich.«
»Und welches Interesse haben Sie daran?«
»Ihnen zu zeigen, daß ich, auch ohne dabei an mich zu denken, Ihren Vorteil im Auge habe.«
»Wirklich, ich lege keinen Wert auf diese Feststellung.«
»Dann bitte ich Sie, mir zu sagen, was Sie eigentlich gegen mich haben. Mein Interesse kann Sie doch unmöglich kränken?«
»Ja, fühlen Sie das denn nicht?«
»Nein,« erwiderte Stoelping und sagte damit die Wahrheit.
»Dann haben Sie noch niemals einen Menschen liebgehabt.«
»Das ist wahr,« sagte er nachdenklich; – und ohne daß er es überlegte, setzte er versonnen hinzu: »Sie sind die Erste.«
Ilse erschrak, nicht über das, was er sagte. Sie kannte ja seine Absicht. Aber der Ton, in dem es herauskam und dessen Unmittelbarkeit und Echtheit sie fühlte, traf sie.
»Großer Gott!« rief sie, »Sie tun mir leid.«
Stoelping stutzte. Was war das? Er führte die Hand vor die Augen und suchte sich zu orientieren. Wahrhaftig! Sein Gefühl war mit ihm durchgegangen. Das war ihm noch nicht vorgekommen. Das kannte er nicht an sich. Damals im Grunewald, als er dem Engländer den Sieg versperrte, stand er unter Suggestion, und der Anstoß kam nicht wie hier, von innen, sondern von außen.
Er biß die Zähne aufeinander und riß sich zusammen. Bedauern sollte sie ihn nicht, dann lieber hassen. Aus Haß konnte Liebe werden. Mitleid mit einem Manne war der erste Schritt zur Verachtung.
»Warum also kränkt Sie mein Interesse?« fragte er sie noch einmal.
»Weil Sie den Wunsch und die Macht und am Ende gar die Pflicht haben« – sie blieb stehen und holte tief Atem – »ihn zu vernichten.«
»Sie müssen darüber hinweg,« sagte Stoelping, »und sollten mit aller Gewalt gegen Gefühle ankämpfen, die Sie immer wieder dahin zurückziehen.«
»Wirklich? sollte ich das?« fragte Ilse und lächelte wehmütig.
»Ja!« drängte Stoelping, »und zwar mit allen Mitteln!«
»Und wie müßten wohl diese Mittel aussehen?«
»Darf ich es sagen?«
»Gewiß!«
»Nun denn: ich wäre solch Mittel! Wenn Sie sich überwänden und mir folgten! Ich würde Sie mit aller Rücksicht und Sorgfalt umgeben. Sie würden sich nicht mehr, wie jetzt, eigenwillig jeder Einsicht verschließen. Mein stärkerer Wille würde nicht nur Ihr Gefühl, sondern auch Ihre Gedanken zwingen. Sie würden, was hinter Ihnen liegt und tot ist, vergessen. Ein neues Leben würde für Sie beginnen! Und in der Kraft meiner Liebe läge die Bürgschaft, daß Sie glücklich würden.«
Ilse geriet in starke Erregung. Als wenn sie seine Nähe unangenehm empfände, trat sie ein paar Schritte zur Seite, sah ihn verächtlich an und sagte:
»Wissen Sie, an wen ich denken muß, wenn ich Sie so vor mir sehe und mit anhören muß, was Sie da reden? Gerade Sie! – An Gloster, nachmals Richard III. Der Vergleich ist hart, aber was Sie tun, ist so gewissenlos, so niederträchtig, etwas, was mir so gegen das Gefühl geht, daß ich mich für Sie schäme.«
Stoelping war am Ersticken. Als wenn ein paar Eisenklammern ihm die Gurgel zuschnürten, traf ihn jedes Wort, das Ilse sprach. Was er seit zwanzig Jahren fühlte, woran er wie an einem unentrinnbaren Schicksal schleppte, wofür er keine Erklärung hatte, – das brachte diese Frau auf eine Formel. Und wie sie die einzige war, die ihn erkannte, so würde sie – das fühlte er alle Tage deutlicher – auch die einzige sein, die ihn wandeln könnte. Denn dafür, daß sich das wandeln ließ und von außen an ihn gekommen war, dafür bürgten Vater und Mutter und darüber hinaus deren Eltern, die bis ins sechste Glied hinauf keinen Tropfen fremden Blutes aufwiesen. – Und stärker als je war es in dieser Stunde Stoelpings Wille, sich diese Frau, die ihm ein seltener Zufall in den Weg geführt hatte, zu erobern. – Er wußte, daß die Ausschaltung Hempels die Vorbedingung jedes Erfolges war, und so holte er denn zu einem letzten verzweifelten Schlage gegen ihn aus.
»Wenn Sie durchaus das Bedürfnis fühlen, sich für jemand zu schämen,« sagte er höflich, aber bestimmt, »dann glaube ich, gibt jemand, der Ihnen leider näher steht als ich, mehr Grund dazu.«
»O nein,« erwiderte Ilse lebhaft, »da irren Sie gewaltig, Herr von Stoelping. Das Gefühl, das ich für die Tat Dr. Hempels habe, ist durchaus etwas anderes als Scham oder gar Verachtung.«
»So?« sagte Stoelping, »das ist sonderbar. Ich glaubte, Sie wären eine Frau, die sich ihr klares Urteil auch da bewahrt, wo ihre Gefühle beteiligt sind.«
»Das tut sie auch,« erwiderte Ilse. »Und Sie dürfen mir aufs Wort glauben, daß ich die erste wäre, die ihn verurteilen würde, und die letzte, die ihn in Schutz nähme, wenn ich nicht wüßte, daß ich es mit gutem Gewissen tun kann.«
»Ich enthalte mich jedes Urteils, schon um Sie nicht zu kränken. Aber Sie werden mir doch trotz Ihrer Liebe, die Sie, ohne daß Sie es wissen, blind macht, nicht bestreiten, daß ein gemeines Verbrechen auf seiten des Täters eine gemeine Gesinnung voraussetzt.«
»Ist es ein gemeines Verbrechen, die Menschheit von einem Vampyr zu befreien?«
»Mord bleibt Mord, und um es anders einzuschätzen, dazu verlange ich von dem Täter den Mut, daß er unbekümmert um die Folgen offen bekennt und stolz vor seine Tat tritt . . .«
Ilse zitterte vor Erregung.
». . . nicht aber, daß er sich feige verborgen hält und sich durch seine Dialektik vom Galgen loszudiskutieren sucht – wie er es tut.«
»Kennen Sie denn die Gründe!« rief Ilse zitternd und ganz verzweifelt und war mit ihrer Beherrschung, die sie mühsam aufgebracht hatte, zu Ende.
»Es kann nichts geben, was sein Verhalten entschuldigt,« erwiderte Stoelping. »Es ist sehr wohlfeil, sich berufen zu fühlen, die Welt von einem Vampyr zu befreien und das eigene Leben dabei zu schonen. Ich habe auch Verständnis und menschliches Gefühl für manches, was nach außen wie ein Verbrechen wirkt. Solcher Art Helden aber sind erbärmlich und gehören einfach in die Kategorie der Meuchelmörder.«
Ilse war dicht an ihn herangetreten und nahe daran, ihm die Fäuste ins Gesicht zu schlagen.
»Schweigen Sie!« schrie sie, »und hören Sie mich an! Sie sollen ihn kennen lernen! ich will Sie auf die Knie vor ihm zwingen! Er schont sein Leben, meinen Sie? O nein, er opfert es für einen anderen.«
Stoelping hielt es für angebracht, ungläubig zu lächeln. Das machte ihre Verzweiflung vollkommen.
»Sie glauben es nicht? Weil Ihnen die Größe dazu fehlt! Er aber hat sie! –« Und nun erzählte sie leidenschaftlich und in großer Erregung, wie alles sich zugetragen hatte. –
Stoelping stand dabei und ließ sie reden und hörte sie an mit dem Gefühl eines Feldherrn, dem der Feind unter seinen Augen in die fein gestellte Schlinge geht.
Und der Augenblick kam, wo sie mit ihrer Verteidigung zu Ende war.
»So, nun wissen Sie, was für ein Mensch er ist!« schloß sie und war außer Atem.
Eine Pause entstand.
»Freilich,« erwiderte Stoelping und sah sie an, »nun weiß ich alles.«
Da zuckte Ilse zusammen, riß Augen und Mund weit auf, führte die Hände vors Gesicht, taumelte und rief:
»Großer Gott! was habe ich getan!«
Stoelping trat an sie heran, sie lehnte an einem Baumstamm und stierte vor sich hin, war steif und unbeweglich, hielt noch immer Mund und Augen offen und ließ es sich gefallen, daß er sie am Arm nahm und zu ihrem Wagen führte.
Er half ihr hinein, und als sie im Wagen saß, nahm er ihre Hand und küßte sie.
Dann rief er dem Chauffeur zu:
»Fahren Sie das gnädige Fräulein nach Haus!«
*
Er selbst fuhr mit der Absicht, nicht zu denken, über zwei Stunden lang in rasendem Tempo die Kreuz und Quer.
Es war spät Nachmittag, als er nach Hause kam.
Er trug dem Diener auf, dafür zu sorgen, daß er bis zum Abend ungestört blieb. Er ging in sein Zimmer, löschte das Licht und warf sich auf die Chaiselongue. Jetzt wollte er denken und versuchen, sich über die Lage klar zu werden, die nun plötzlich eine ganz andere war.