Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Frühling am Niederrhein! Nicht der Frühling weiter stromaufwärts, wo die Sieben Berge aufragen, die weißen Landhäuser sich selbstgefällig widerspiegeln, in den abgezirkelten Gärten Magnolien und ähnliche Exoten blühen und an allen Sonn- und Feiertagen die Bewohner der benachbarten Großstädte herden- und hordenweise auftauchen, ›Grüß' mir das blonde Kind am Rhein‹ zur Zupfgeige singen oder auch gröhlen und befriedigt nach Hause ziehen, wenn es ihnen gelungen ist, das schöne Stück Erde mit leeren Flaschen, Stullenpapier und zerbröckelten Eierschalen zu verschandeln. Nein, der Frühling am Niederrhein ist anders, ganz anders!

Da geht ein stiller, vornehmer Mynheer, schwarzgekleidet und mit grauem Zylinder, über die Deiche, behutsam, gemessen, ohne Geräusch, nur freundlich lächelnd und blaue Rauchwölkchen aus seiner langen Kalkpfeife blasend. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen. Jetzt am Vorwerk dahinten und sieht in die Landschaft . . . und er hebt die Hand und lächelt wieder und deutet um sich, und wohin er deutet, ist es so ernst und groß und erhaben wie in einem Gottesgarten. Die Wässerchen gurgeln durch die Niederung, die Erlentröddelchen schaukeln sich im laulichen Wind, und die Wiesen sehen aus, als wären in warmer Sommernacht unzählige Sterne darüber gefallen, so reichlich und wundersam sind alle Fernen mit gelben, leuchtenden Dotterblumen gesprenkelt. Weißröckige Windmühlen, schwarze Barette auf den ehrwürdigen Häuptern, stehen tief in der Ebene, drehen ihre langen Arme und schlappen behaglich mit ihren Segeltüchern. Über den Weihern, die bereits ihren Schilfkranz umgelegt haben, ist ein Singen und Rufen. Die Rohrdrossel schlägt. Ihr Ruf dringt weit in die Gegend und weckt die weißen Teichrosen ins Leben, die schon beginnen, ihre grünen Hüllen zu brechen. Rohrgeflüster und verträumtes Säuseln in den verschlafenen Pappeln! Stimmen des Frühlings, selige Stimmen, die nur die vernehmen, die am Niederrhein wohnen oder dort ihre Jugend verlebten.

Es ist wie ein Sonntag in der Kirche . . . und durch diesen Kirchenfrieden ging auch Herr Aloys Furtwanger spazieren, über die Deiche, an den Schleusenwerken vorüber, durch die verschwiegenen Feldgehölze und Triften, um sich das Sirren der Heupferdchen und das Gaukeln der Bläulinge, der in der ›Goldenen Kugel‹ verlebten Stunden gedenkend.

Alle die Bilder und Ereignisse standen ihm noch so lebhaft vor Augen, als wären sie erst gestern gewesen, und doch waren Wochen darüber vergangen, lange und köstliche Wochen, Wochen der Erinnerung und des stillen Genießens; aber diese Erinnerungen waren so zart, so duftig und mimosenhaft, daß er kaum wagte, sie gründlich durchzudenken, aus Furcht, sie könnten ihm verschwinden wie der irisfarbige Schein einer Seifenblase.

Ewert saß schon längst als wohlbestallter Kommis auf seinem Drehstuhl im Hauptkontor der Firma Harkopp & Söhne, fühlte sich wie ein Gewaltiger und hatte noch innigere Freundschaft mit dem Korrespondenten Herrn Fleutgen geschlossen. Moritz sielte sich in Hoffnungsfreudigkeit, ließ seinen Zukunftsteig, den er mit einer gehörigen Portion Hefe versetzt hatte, quellen und schwellen, des Augenblicks gewärtig, die mit Rosinen, Kardamomen und Korinthen gespickte Kuchenmasse in den heißen Ofen zu schieben, um sie bei Gelegenheit, knusperig und feinüberzuckert, auf 'ne große Porzellanassiette zu legen und sie mit Genuß zu verzehren. Sein frostiges und abweisendes Verhalten Nellecke gegenüber war vor der Hand das alte geblieben. Nicht er, sondern sie mußte ihm kommen, mußte pater peccavi sagen, sich fügen und alles daran setzen, sich wieder wohlig und heimisch bei den väterlichen Laren zu fühlen. Mit dem weißen Mynheer stand es nicht besser. Entweder oder! war hier seine Parole. Entweder er kam, tat Buße in Sack und Asche, oder aber er blieb, was er war – ein Eigenbrödler, ein Ausgestoßener, ein krätiger, verlorener und einsamer Mann, der schließlich in den Spinnwebenetzen seines eigenen Unverstandes ersticken mußte.

Der Aktuarius schlug einen Nebenpfad ein. Alles interessierte ihn, alles begeisterte und beseligte ihn. In diesem Zustand hätte er die ganze Welt, die wie ein warmer Julitag leuchtete, an sein übervolles Herz drücken mögen, an seinen braunen Leibrock und seine schneeweiße Weste . . . und dennoch: ungeachtet seiner gehobenen Stimmung – die üble Neigung der Deutschen, dann sentimental zu werden, wenn sie sich am glücklichsten fühlen, beherrschte auch ihn. Äolsharfenweich und lau zog es durch seine an und für sich heiteren Sinne, und er beschloß, ein Gedicht zu verfertigen, geeignet, seinem innersten Wesen Rechnung zu tragen. Zu diesem Behufe ließ er sich alle Strophen und Versformen durch den Kopf gehen, die ihm hierzu tauglich erschienen. Er verfiel zuerst auf eine Seguidilla; verwarf aber bald dieses spanische Versmaß. Auch Ritornell und Terzine lehnte er ab. Ähnlich erging es dem Madrigal und der Glosse. Schließlich erinnerte er sich des Formenmeisters August Wilhelm von Schlegel. Er zitierte daher die ersten Sätze von ihm, die das Wesen des Sonetts behandeln:

»Zwei Reime heiß' ich viermal kehren wieder
Und stelle sie, geteilt, in gleiche Reihen,
Daß hier und dort zwei, eingefaßt von zweien,
Im Doppelchore schweben auf und nieder.«

Nein, nein! trotz der Schönheit der Sprache, er konnte sich auch mit dieser Form nicht befreunden, wählte endlich die schlichte, einfache Strophe mit trochäischem Satztakt und begann eifrigst zu dichten, während er dazu Himmelschlüsselchen brach, sie zu einem Sträußchen vereinigte und dabei an Röschen Jungklaas dachte. Wirklich an Röschen? Eigentlich kaum. Dennoch nahm er sich vor, mit ihr ein Partiechen Sechsundsechzig zu spielen, wenn auch Nellecke . . . Immer wieder mußte er von Nellecke träumen. Er konnte nicht anders, er wagte es nicht, sein inneres Glücksgefühl ganz zu ergründen, aus Furcht, einer köstlichen Sache ihre feinste Emaille zu nehmen.

Nachdem er das hundertundfünfzigste Himmelschlüsselchen seinem Sträußchen einverleibt hatte, war er im großen ganzen mit dem Aufbau des Gedichtes fertig geworden. Die ersten Strophen klappten, und er deklamierte sie mit zarten Lippen:

»Wo ich jung war! Will's euch zeigen.
Sieben Linden, eine Laube . . .
Vor dem Hause in den Zweigen
Nistete die wilde Taube.

Ringsumher die grünen Wiesen
Spiegelten in klaren Fluten.
Weiße Mühlen, wahre Riesen,
Schlappten mit den Segelruten.

Wo ich jung war! Hinterm Ofen
Spann und summelte der Kater,
Und im räumigen Alkoven
Stand mein Kasperletheater . . .«

Getragenen Sinnes promenierte er hierauf nach Hause, stellte sein Poem fertig, begab sich alsdann zur ›Goldenen Kugel‹ und las seinem Tisch- und Tafelgenossen, dem emeritierten Schulmeister Pitt Kaldenhoven, zögernden und zagenden Herzens den versifizierten Erguß vor, gespannt auf die Kritik dieses in hohem Ansehn stehenden Mannes. Herr Kaldenhoven, obgleich ein Demokrat von lauterstem Wasser, gebildet in der Schule Heckers, des Achtundvierzigers mit Schlapphut und roter Hahnenfeder, ein Nörgler und Besserwisser, lobte den Reimsatz und sprach ihm eine gewisse Bedeutung zu, wiewohl stellenweise die Metrik noch hätte besser sein können. Im allgemeinen jedoch: 'ne gediegene Arbeit, was den Herrn Verfasser veranlaßte, zwei Gläschen Portwein kommen zu lassen, um diese auf das Wohl des geneigten Rezensenten zu leeren.

Nach dem herkömmlichen Dominospiel machte er sich auf den Weg zu Röschen Jungklaas, das Primelsträußchen mit sich führend, das im Grunde genommen für Nellecke bestimmt war, der Umstände halber jedoch auf Röschens Teetisch zu paradieren hatte.

Aber wie erstaunte der Aktuarius, als er sein Ziel erreicht hatte. Die Ladentüre war verriegelt, und hinter der großen Auslagescheibe zeigte sich eine Affiche folgenden Inhalts: »Dem wohlgeneigten Publikum zur gefälligen Nachricht. Verhältnisse wegen ist mein Plätt- und Spitzengeschäft für heute geschlossen. Ergebenst Röschen Jungklaas, Modistin.«

Was blieb ihm da übrig? Er sah sich genötigt, die Schelle in Bewegung zu setzen.

Christine erschien; aber wie erschien diese stattliche Jungfer, und was für Augen machte sie, als sie den Herrn Aktuarius gewahrte!

Sie präsentierte sich in einer opulenten Bänderhaube, die sie sonst nur am Auferstehungstage des Herrn zu tragen pflegte. Außerdem stak ihre obere Hälfte in einem dunklen Spenzer, der mit Schmelzkantillen verziert war.

»Mein Gott!« schreckte sie auf, »und besonders aufzuwarten, was verschafft uns denn heute die Ehre? Aberst ich sehe, ich sehe,« fuhr sie gleich darauf fort, und über ihr pontakrotes Gesicht lief ein heiteres Glänzen, »der Herr Aktuarius wissen bereits . . .«

»Was soll ich denn wissen?«

»Sie Schäker,« schmunzelte sie vergnügt vor sich hin, »ich bemerke doch die lieblichen Blümchens.«

»Primula veris«, sagte Aloys, ohne zu ahnen, was Christine eigentlich mit ihrem Schmunzeln bezweckte. »Ich habe dieses Sträußchen auf meinem heutigen Morgenspaziergang gewunden, mir zur Freude und in der Nähe des Vorwerks, Christine.«

»Das ist es ja eben, da steckt ja das Häschen im Pfeffer. Aberst Sie sind ein Schelm, Herr Aktuarius, ein kleiner und allerliebster Herzensschwerenöter. Nein, Sie wissen von gar nichts, oder besonders aufzuwarten, Herr Aktuarius, Sie wollen nichts wissen . . . mir gegenüber nichts wissen. Sie wollen Ihre Heimlichkeiten haben . . . Sie wollen Ihr niedliches Spezialpläsierchen ganz auf Ihre Weise verzehren . . .«

»Aber Christine . . .

»Nu tun Sie nicht so,« versetzte die Alte, und sie lachte dabei ihr fettestes und herzlichstes Lachen. »Das steht Ihnen nicht an. Ich kucke doch in Ihren innersten Menschen. Ich weiß, was Sie denken, und was Sie denken, das sollen Sie auch aus meinem Munde vernehmen: Mamsell Röschen feiert heut ihren Geburtstag. Die Damen vom Pergamentenverein waren schon da, auch der Herr Dechant, die Gemahlin des Herrn Forstpraktikanten und die übrigen alle. Die Fräuleins von's Geschäft haben sich soeben gratulierender Weise verdunstet. Jetzt aber sind Sie an die Reihe gekommen, und da kann ich wohl sagen: Endlich blüht die Aloe, endlich trägt der Rebstock Früchte, denn das Beste erscheint immer am hintersten Ende. Gute Birnen wollen ausreifen, die saftigsten Schinken befinden sich am längsten im Schornstein. Nu aber man vorwärts. Mamsell Röschen ergeht sich in ihrem oberen Zimmer . . . ganz solo . . . intimer Weise bei ihrem Täßchen mit Kuchen . . . Sie können gleich mittun . . . und hören Sie bloß: sie erfreut sich mit's Spielen . . . Ihnen zu Liebe . . . bloß Ihnen zu Liebe . . .«

Und richtig: die ›Klosterglocken‹ begannen ihre ersten Takte zu läuten, und unter den getragenen Klängen komplimentierte Christine den Verdutzten nach oben, schob ihn sacht und sanft in Röschens Gute Stube hinein und schloß lautlos die Türe, wobei sie noch sagte: »Der Herr Aktuarius hat's hinter den Ohren. So'n niedlicher Schlingel! So'n kleiner und allerliebster Herzensschwerenöter!« um dann kichernd und unauffällig in die Küche zu gleiten.

Die ›Klosterglocken‹ verstummten.

Da stand nun der Aktuarius in dem traulichen Zimmer ganz verbaselt, dem realen Boden entrückt. Er vermochte nur die Worte zu stammeln: »Primula veris!«

»Ja, Primula veris!« hauchte Röschen und schwebte ihm freundlich entgegen, heute nicht in einem bunten Kleidchen von Zitz, sondern in einem solchen von resedafarbener Seide, das neckisch mit der weitausgelegten Krinoline auf und nieder wippte. Ihre Honiglöckchen nickten dazu. In dem gealterten, aber noch immer lieblichen Gesichtchen kräuselten sich die Lippen zu einem gütigen Willkomm, »Primula veris! Wie froh und zukunftsfreudig das klingt, Herr Aktuarius,« und sie streckte ihm beide Hände entgegen.

»Ach, Fräulein Röschen . . . ich wollte . . . ich dachte . . . Hier diese Blumen . . . wenn auch nur ein seltsamer Zufall . . .«

»Nein, es gibt keinen Zufall, mein Bester. Es gibt keinen Zufall; aber wie gut und lieb von Ihnen, daß Sie auch heute meiner gedachten.«

»Ich möchte nochmals bemerken . . .«

»Schweigen Sie, bitte. Stören Sie nicht diese heilige Stunde. Sie bleiben natürlich, trinken ein Täßchen echten Peking mit mir, ein ganz echtes Täßchen . . . zur Feier des Tages . . . um mir eine Freude zu machen. Es sind schon verschiedene Angebinde zur Stelle, aber Ihre Frühlingskinder übertrumpfen sie alle,« und sie nahm das Sträußchen, führte es an ihr Näschen, befestigte es mit zierlichen Händen am bescheidenen Ausschnitt ihres Kleides, der einen Teil ihres schmucken Halses entblößte. »Nein, diese Aufmerksamkeit! und ich muß immer wieder betonen: Ihr Besuch ist mir doch der angenehmste von allen.«

Ihr zuversichtliches Gehaben brachte seinen ganzen inneren Menschen in Aufruhr.

»Aber Mamsell Röschen, ich möchte dringend festgestellt haben . . .«

»Warum diese Formalitäten?« lachte sie schelmisch. »Sie sind kein Mann von Äußerlichkeiten und getragenen Worten. Sie sind wie ein Bächlein, das unter Blumen plätschert. Das weiß ich schon lange. Um so höher habe ich die sinnige Art und Weise Ihres Besuches zu schätzen. Selbst mein Vater . . . wenn er noch lebte . . .« und Röschen führte den wie auf heißen Kohlen stehenden Herrn an ihre Glasservante, an die opulente Glasservante, die mit einem ausgestopften Kakadu, etlichen Ammonshörnern und großzinkigen Seemuscheln bestellt war, deutete auf das darüber hängende amtliche Schriftstück und sagte: »Laut Diplom wurde dem Herrn Franz August Kasimir Jungklaas in Anbetracht seiner großen Verdienste um Staat und Vaterland der Königliche Rote-Adler-Orden vierter Klasse verliehen«, und dieser Franz August Kasimir Jungklaas ist mein Vater gewesen, und wäre es ihm verstattet worden, noch weiter zu leben und seinem wohlgeneigten König zu dienen, den Roten-Adler-Orden dritter Klasse hätte er sich zweifellos auch an die Brust heften können, sich selber zur Freude und seinem König zur Ehre . . . und wenn er noch unter uns weilte, es wäre ihm ein inniges Bedürfnis gewesen, Sie in diesem Raum zu empfangen. So! und nun nehmen Sie Platz, dort in der Ecke, während ich den Tee zurecht mache und alles vorbereite, um ein angenehmes Plauderstündchen in die Wege zu leiten.«

Das war so nett und unbefangen gegeben, so ohne Großtuerei, plauderte so liebenswürdig in den Tag hinein, war von einem so herzerquickenden und sonnigen Schimmer begleitet, daß der Aktuarius wähnte, von einem weißen Angorakätzchen umschmeichelt zu werden. Ach, und die rosigen Samtpfötchen! Sie wiesen ihm die behagliche Sofaecke an, betteten sein immer noch verwehtes und wirbelsinniges Haupt auf das bequemste Schlummerröllchen, das sie selber bestickt und beperlt hatte. Hierauf begann sie den Teetisch zu spreiten, den Wasserkessel lauter brodeln zu lassen, Zuckerschale und Porzellantäßchen zu richten, die schmucken Damastserviettchen neben jedes Gedeck zu legen und den Kuchen, der sich in Form eines mit Kandis übergossenen Herzens präsentierte, in angemessene Teilchen zu zerlegen . . . und da mußte sich der Herr Aktuarius gestehen: ein adretteres Persönchen und flinkere Pfötchen waren ihm noch niemals begegnet. Ach, diese Pfötchen! wie sie es verstanden, den Tee aus der Büchse zu nehmen, ihn säuberlichst dem Kännchen einzuverleiben, mit kochendem Wasser zu übergießen, die Täßchen zu füllen und ein Gefühl des Behagens aufkommen zu lassen, das an selige Gefilde erinnerte. Und Röschens Allerheiligstes selber! Kein Stäubchen vorhanden, nicht ein Atom, das das Auge beleidigen konnte. In netten Schildereien grüßte es von den Wänden herunter. Die Dielen spiegelten. Jedes Inventarstück war wie just vom Schreiner gekommen, und doch waren es Schränke, Tische und Stühle, die noch dem vorigen Jahrhundert entstammten, Möbel aus Birnbaumholz und mit eingelegten Messingstäbchen versehen.

Mit sichtlichem Interesse wanderten die Blicke Springinsröckels von den fleißigen Händen durch die ganze Umgebung, freuten sich an dem Glanz der Mullgardinen, an dem leuchtenden Blau der Hyazinten, die in properen Scherben auf dem Fensterbrett blühten. Und siehe: die Stube des Kapitäns schleierte allmählich ein, als wären Nebel darübergefahren. Nelleckes Bild verblaßte, rückte in eine immer weitere Ferne, und als dann Röschen sich neben ihn setzte, ihm Sahne und Zucker anbot, ein Stückchen Kuchen auf sein Tellerchen schaufelte, ihre Hand auf die seinige legte und liebevoll fragte: »Nun, mein verehrter Freund, finden Sie hier Ihr rechtes Genügen?« – da war es ihm so, als wenn Nellecke sich in einem Schneegestöber befände, das dichter und feinmaschiger wurde, sie mit glitzernden Sternchen bedeckte und schließlich gänzlich verhüllte.

Er gab keine Antwort.

Da drückte Röschen seine Hand fester und inniger und sagte: »Woran denken Sie jetzt?«

»An den Wandel der Dinge,« versetzte er tonlos, »an das, was ist und hätte sein können, an die sonnigen Stunden, die ich heute morgen verlebte.«

»Das waren die Stunden,« erwiderte die Glückliche, »die Sie benutzten, die jungen Primeln zu brechen und zu einem Sträußchen zu winden?«

«Ja,« sagte er schüchtern.

»Und waren es ausschließlich sonnige Stunden?« fragte sie weiter.

»Vornehmlich sonnige Stunden, nur leise gestreift von den Schwingen der Wehmut. Mamsell Röschen,« fuhr er nachhaltiger fort, »denken Sie sich einen schilfumstandenen Wasserspiegel, der unter dem Mond liegt. Alles leuchtet und glitzert, ist eitel Glanz und Schimmer, bis ein dunkler Vogel erscheint und mit seiner Flügelspitze die klare Fläche stört und beunruhigt. Der nächtige Schatten bringt Fragen und Zweifel. Ähnlich so war es.«

»Wie schön das gesagt ist.«

»Nur so, wie meine Seele es fühlt. Im höchsten Behagen liegt auch der Keim des Schmerzes verborgen. Man muß ihn zu meistern versuchen, um das Gleichgewicht wieder zu finden.«

Nachdenklich führte er die Tasse zum Munde, trank daran und stellte sie bedachtsam auf das Unterschälchen zurück.

»Und es gelang Ihnen, diesen Keim zu ersticken?«

Er sah ihr scheu in die Augen.

»Ja und nein,« versetzte er nach einiger Weile. »Heitere und traurige Saiten vereinigen sich gerne im Liebe und bringen eine gewisse Erlösung.«

»Und Sie fanden ein solches?«

»Ja,« nickte er still vor sich hin.

»Darf man es wissen?«

»Es ist nicht von Belang, ohne Feile und tieferen Inhalt; nur dazu angetan, meine eigene Stimmung wiederzugeben.«

»Aber wenn ich Sie bitte . . .«

Da legte er die Hände zusammen und begann zögernd zu sprechen, erst zögernd und schüchtern, dann zuversichtlicher und mit warmer Inbrunst, begleitet von einer kaum hörbaren Kantilene des Kanarienvogels, die silberfein durch das trauliche Zimmer zwitscherte:

»Wo ich jung war! Will's euch zeigen.
Sieben Linden, eine Laube . . .
Vor dem Hause in den Zweigen
Nistete die wilde Taube.

Ringsumher die grünen Wiesen
Spiegelten in klaren Fluten.
Weiße Mühlen, wahre Riesen,
Schlappten mit den Segelruten.

Wo ich jung war! Hinterm Ofen
Spann und fummelte der Kater,
Und im räumigen Alkoven
Stand mein Kasperletheater.

Wichtelmann im langen Fläuschen
Hieß ins Märchenland mich treten,
Während graue Zwitschermäuschen
Spielten hinter den Tapeten.

Wo ich jung war! Hoch vom Deiche
Flatterten zwei blonde Zöpfchen;
An die Brust, die überreiche,
Lehnte sich ein liebes Köpfchen.

Silbern kam in hehrer Feier
Das Mariengarn geflogen;
Waren bald von einem Schleier
Weißen Musselins umzogen.

Wo ich jung war! Stilles Grüßen
Tauscht der Herr mit seinen Toten,
Segnet alle ihm zu Füßen,
Die er ernst zu sich entboten.

Ach! und bin ich selbst im Hafen,
Sind geschirrt die schwarzen Pferde . . .
Nirgends kann man schöner schlafen
Als in seiner Heimaterde.«

Röschen sah bangend ins Leere. Dann schluchzte sie auf. »Wo ich jung war,« sagte sie still vor sich hin und fügte traurig hinzu:

»Nirgends kann man schöner schlafen
Als in seiner Heimaterde . . .

und das im Herrn,« und dann tastete sie wieder, ein helles Wasser in den Augen, nach der Hand ihres Freundes und meinte: »Und die auf dem Deiche . . . die mit den blonden Zöpfchen . . . als das Mariengarn heraufwehte . . . wer ist sie? oder wer war sie?«

»Die . . .?!« fragte er heftig.

Verstört war er in die Höhe gefahren. Der Zauber des kleinen Zimmers hatte sich plötzlich verändert. Das Sonnige war ihm genommen, das Anheimelnde und die Feier stillen Genießens. Er fühlte sich schuldig, wähnte seine einzige und wahrhaftige Liebe verraten zu haben, geriet in eine Wirrnis von Ängsten und Zweifeln, die er nicht zu überwinden vermochte. Das feine Schneegestiebe, das noch um Nellecke van Dornick flirrte, löste sich auf, teilte sich sacht auseinander, wurde zu einem silbernen Rahmen, der sein Harren und Hoffen und seine ganze Sehnsucht umspannte. Ja, er fühlte sich schuldig. Er klagte sich an, doppelzüngig gewesen zu sein und Wünsche gezeitigt zu haben, die er nicht zeitigen durfte. Ein kalter Rauhfrost fiel über ihn her. Schatten drängten sich an ihn heran, hüllten ihn ein und nahmen ihm das heitere Licht eines kindlichen Herzens. Wie sollte er vor Röschen bestehen, wie vor Nellecke van Dornick? Welche Antwort sollte er geben? Diese unvermittelte Frage! Er sagte sich: du bist nicht ehrlich gewesen. Sein Blut stürmte. Die beiden Messingschlängelchen, die Röschens blankgewichstes Öfchen umringelten, begannen lebendig zu werden, nahmen zu an Länge und Breite, wurden zu Untieren, zu veritablen Schlangen, züngelten gegen ihn vor und versuchten es, ihre gelben, unförmlichen Gliedmaßen näher zu schieben, während Röschen ihren Arm in den seinen legte und eindringlich sagte:

»Wo ich jung war! Hoch vom Deiche
Flatterten zwei blonde Zöpfchen;
An die Brust, die überreiche.
Lehnte sich ein blondes Köpfchen.

Nun, wer war diese Kleine?«

Liebevoll und zuversichtlich sah sie ihn an, sich inniger an ihn schmiegend.

»Dichtung und Wahrheit,« versetzte er kleinlaut und immer unruhiger werdend. »Eine poetische Lizenz mit Schmetterlingsflügeln.«

»Das genügt mir nicht,« meinte sie lächelnd, »und bringt mich nicht weiter. Ich möchte gern den Kern Ihrer Worte ergründen.«

»Mamsell Röschen, ersparen Sie mir, bitte, die Antwort. Schmetterlingsflügel soll man nicht mit alltäglichen Fingern berühren. Sie vertragen es nicht. Sie würden nur ihren Schmelz und ihre Anmut verlieren. Solche Dinge erscheinen wie gegen eine glatte Scheibe gehaucht, um spurlos zu schwinden. Möglich, daß sie wieder erstehen – zu einer Stunde, wenn wir stiller und ruhiger zu denken vermögen. Mein Gott, was soll aus uns werden! Meine Gedanken sind wie unstete Funken. Sie irren hierhin und dorthin. Es ist besser, ich gehe. Ja, es ist besser. Ich komme bald wieder. Nur heute . . . mir ist heute so seltsam . . . und ich möchte gern den Schmelz auf den Schmetterlingsflügeln behüten. Ja, es ist besser . . . und nochmals alles Gute und Liebe . . . ich komme bald wieder.«

Damit führte er ihre Hand an die Lippen, wandte sich dem Ausgang zu und legte seine Rechte sacht auf die Klinke.

Es blieb ihm erspart, sie in Bewegung zu setzen. Die Tür öffnete sich scheinbar von selber, und vor ihm stand Christine Jordans, mit hochrotem Gesicht und klingenden Ohrgehängen – im Arm einen Topf mit eingepflanztem Myrtenstämmchen.

»Nanu! Sie wollen schon gehn,« fragte sie mit wogendem Busen, »und das Plauderstündchen hat eben erst begonnen?«

»Man muß Haltung bewahren, Jungfer Christine, und liebe Gespräche nicht ins Unendliche dehnen, um so freundlicher wird man allzeit willkommen geheißen. Mamsell Röschen, Sie verstehen mich schon . . . Jungfer Christine . . .« und mit raschen Schritten hatte er sich zur Treppe begeben, gefolgt von den resoluten Blicken der energischen Dame, die wie Lots Weib versalzte, als der Herr gebot, Pech und Schwefel über Sodom und Gomorrha regnen zu lassen, sich dann aber bekriegte, die Tür hinter sich schloß, auf Röschen zutrat, sie sacht mit ihrem Finger betippte und sagte: »Na – und . . .? Wie weit sind wir heute gekommen? Aberst offen gestanden: seine Physiognomie hat mir gar nicht gefallen.«

»Daß ich nicht wüßte, Christine.«

»Aberst ich sollte doch meinen . . . denn in seiner Handlungsweise war gewissermaßen keine Pietät drin, und die Properté seiner Augen war auch nicht die beste.«

»Wie kommen Sie nur zu dieser Behauptung? Er blieb wie immer der vollendete Kavalier bis zur letzten Sekunde.«

»Was weiter?«

»Im Verlauf unseres angeregten Gespräches ließ er sich herbei, mir von dem Inhalt eines tiefempfundenen Gedichtes Kenntnis zu geben.«

»Besonders aufzuwarten, ich huste auf alle Gedichte.«

»Christine, wie können Sie nur . . .

»Mamsell, ich für meine Person befasse mich mehr mit reellen Geschichten oder mit solchen, die sich ins Traumbuch befinden, und andern, die 'nen gewissen Leitstern besitzen. Was weiter?«

»Er sprach in schönen Worten von dem zarten Schmelz der Schmetterlingsflügel, von Dingen, die gegen 'ne Scheibe gehaucht sind.«

»Das ist schon 'ne präzisere Sache.«

»Und hier dieses Sträußchen . . .«

»Allerdings! Allerdings!«

»Und er versprach wiederzukommen, zu einer gelegeneren Stunde, wenn wir, wie er sagte, ruhiger wären und es fertig bringen könnten, gelassener und stiller zu werden.«

»Das wäre ein Zeichen, ein schönes und erhabenes Zeichen! obgleich ich hoffte, wir hätten schon heute den heiligen Verlobungstempel betreten; denn hier dieses Bäumchen« – und sie stellte es zwischen all die zierlichen Tellerchen und Täßchen, die den Teetisch verschönten, deutete feierlichst mit der Hand darauf hin und sagte: »Das hab' ich extra von Grades Jansen bezogen, mit Mistus und Liebe ernährt und den lieben Herrgott gebeten, er möge bald ein Scherchen nehmen, die niedlichen Zweige abschneiden und ein nettes Kränzchen draus machen. Leider ist diese Hoffnung jetzt im Wurstkessel drin, und ich kann nu wieder von vorne an mit dem Mistus und der Liebe beginnen und dachte schon: heute wäre der Tag des Aweks und meiner größten Bekömmnis gewesen.«

Unter ihrem dunkeln Spenzer erhob sich eine kräftige Dünung. Ihre Bänderfladuse geriet ins Wiegen und Wogen. Eine große Träne rieselte einsam und klar ihres Weges.

»Ich danke Ihnen, Christine, ich danke auch vielmals,« und die zierliche Mamsell nahm die Hand ihrer Vertrauten und drückte sie innig. »Das Myrtenstämmchen haben Sie nicht vergeblich in Pflege genommen. Es wird seine Bestimmung schon verwirklichen, denn was aus guten und sorglichen Händen kommt, erfüllt seinen Zweck, gerät nicht daneben. Was langsam der Ernte entgegen reift, hat den Segen des Herrn. Rasche Entschlüsse sind nicht immer die Träger des Heils. Erst Wägen, dann Wagen. Der Herr Aktuarius ist ein sinniger und nachdenklicher Mann und wird schon das Richtige finden. Ich glaube, Christine; ich glaube an eine erquickliche Lösung, und so ein fester und froher und inniger Glaube kann Berge versetzen. Sein vornehmes und gesetztes Wesen nimmt ein, bietet Gewähr für die Zukunft. Ich möchte ihn glücklich wissen, seinen Lebensabend verschönen; und was mich selbst betrifft . . . aus seinen Aufmerksamkeiten und schlichten Worten hoffe ich schließen zu können . . .«

Sie führte ihr Batisttüchelchen gegen die Augen, um ihre Rührung zu bergen.

»Ich meine, Christine . . . ich sollte doch annehmen . . .«

»Natürlich, natürlich!« kam es dick und fett aus dem Munde der behäbigen Jungfer, die ihre skeptischen Anwandlungen fallen ließ und freundlichen Raum gab. »Das mit's Sträußchen und die Schmetterlingsflügel – von's Wiederkommen will ich gar nicht mal reden – aberst das mit's Sträußchen und mit die Schmetterlingsflügel ist doch 'ne bedeutsame Sache und steht auch als Orakel im Traumbuch geschrieben: So bin ich denn auch, besonders aufzuwarten, der Ansicht: der Kasus mit's Myrtenbäumchen wird immer noch werden. Man muß nur Sorge tragen, daß er sich bald übern Grenzpfahl befindet und nicht mehr retour kann. Mit anderen Worten: man muß Beobachtung halten, denn alle Männer, auch der Herr Aktuarius, besitzen ihre Mücken und Tücken, wenn sie auch dem weiblichen Animus gegenüber etwas Magnetisches haben, und so 'ne magnetische Anziehungskraft versteht es, uns auf die oberste Bank im himmlischen Garten zu setzen.«

»Das tut sie, das tut sie!« freute sich Röschen, »aber auch er soll dieser himmlischen Gnade teilhaftig werden, wenn ich nicht fürchten müßte . . . Im letzten Augenblick machte er so versonnene Augen und sagte ganz traurig:

Ach! und bin ich selbst im Hafen,
Sind geschirrt die schwarzen Pferde . . .
Nirgends kann man schöner schlafen
Als in seiner Heimaterde.«

»Das wäre auch ein Moment, ein sichtbares Zeichen,« konstatierte Christine, »und zwar ein starkes und großes.«

«Allerdings,« sagte Röschen, »aber er hat nicht mal das geringste Stückchen Kuchen zu sich genommen . . . und ich möchte so gerne . . . Christine, sind noch die Fräuleins zu Hause?«

»Alle sind ausgegangen; nur Nellecke van Dornick ist oben.«

»Und hat nicht ihren Vater besucht?«

»Keineswegs; denn die Harmonika ist zwischen sie und dem Alten total auseinander gegangen, weil er nicht will, daß sie sich mit dem jungen Lehrer aus Obermörmter verpflichtet. Aberst sie besteht auf ihrem weiblichen Standpunkt und gedenkt ihn zu einem erhabenen Ende zu führen.«

»So! dann packen Sie etliche Stückchen Kuchen zusammen. Nellecke kann sie zum Herrn Aktuarius tragen und ihm meine schönste Empfehlung bestellen.«

»Wie?! Was?! Wie komm' ich dazu?!« rief die Alte ganz bestürzt und von schweren Bedenken zermartert. »Das könnte ich ja besorgen. Aberst ausgerechnet Nellecke van Dornick . . . und das in die Höhle des Löwen . . .?! Man soll doch seinen eigenen Kladderadatsch nicht beschwören. Es wäre schon besser . . .«

»Nein, Christine, ich will Ihnen zeigen und dartun, ein wie großes Vertrauen ich habe, wie ich mich sicher fühle und nicht die geringste Spur von Eifersucht in meinem Herzen verberge. Der Mensch soll großzügig denken; nur auf dieser Basis läßt sich der Herd errichten, der die Flamme der Liebe nährt und ein häusliches Glück wohlig umleuchtet.«

»Auch 'ne Ansicht,« sagte Christine, »obgleich ich 'nen andern Status vertrete.«

Damit verließ sie die Stube, um einen zarten Seidenbogen aus dem Laden zu holen, während sich Röschen Jungklaas an das magere Spinett setzte und zu spielen begann.

Von einer feinen Kanarienrolle akkompagniert, klingelten alsbald die ›Klosterglocken‹ durch das friedliche Zimmer.

* * *


 << zurück weiter >>