Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

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17

Das Psalmodieren und Predigen ließ nach. Mit einem Gemisch von Verwunderung und Verachtung zerging es.

Nichts mehr zu hören. Nur noch das Näseln im Lampenzylinder. Es ähnelte dem Wispern im Röhricht, das einsetzte, um schnell zu verstummen, das aufs neue begann, um lautlos in das atemlose Schweigen des Nichts zu gleiten.

Draußen machten sich Schritte bemerkbar. Gedämpft gingen sie durch die weitläuftigen Flure. Sie verloren sich in den zunächst gelegenen Kammern. Das Altmännerhaus hatte seine Missionsgänger wieder, verharrte jedoch in seiner tiefen und mystischen Ruhe.

Der Aktuarius stand neben dem Kapitän, konnte aber den richtigen Zuspruch nicht finden. Jedesmal, wenn er ansetzen wollte, verließ ihn die Sprache. Was bewegte ihn so? Warum denn mußte er immer wieder an Nellecke denken? Warum denn hatte er ein so selbstloses Mitgefühl mit diesen heimgesuchten und geschlagenen Menschen? Was hatte er nicht alles durchlitten! Welche Enttäuschungen, welche Irrtümer! Nellecke war ihm verloren und blieb ihm allzeit verloren. Auf dem Dreifaltigkeitsdeich war ihm nicht die weiße Taube erschienen. Gott, diese Taube! Und wo befand er sich jetzt? Er wähnte sich mitten im Herbstwald. Das Säuseln der Resignation umfröstelte ihn, machte ihn stumpf für die Welt, für alles Geschehen. Blatt um Blatt drehte sich raschelnd von den Bäumen herunter. Kein Blühen mehr, kein Flimmern im Gras, nicht der sehnsuchtsvolle Ruf irgendeines schluchzenden Vogels . . . und dennoch konnte er von den van Dornicks nicht los, fühlte sich immer mehr in ihren Bannkreis gezogen, dachte immer an sie, ungefähr so, wie man gezwungen ist, an eine geliebte Tote zu denken . . . und nun noch diese Katastrophe im Hause.

Er legte die Hand auf die Stuhllehne.

»Moritz . . .!« sagte er leise.

Der Kapitän hob langsam den Kopf. Seine Augen flackerten.

»Äh! du . . .!« rief er ihn heftig an, fast abstoßend. »Alle sind von mir gegangen. Nur du nicht. Was willst du noch hier? In meiner Koje ist nichts mehr zu holen. Das könntest du wissen. Am Hechelkreuz liegt meine schönste Hoffnung begraben, eingescharrt wie 'ne Königskrone, der man ihr Leuchten nicht gönnen wollte. Und das erst mit Ewert! Der Saukerl hatte die forsche Kurasch, den ersten Nagel in meine Totenlade zu treiben . . . aber 'nen schmutzigen Nagel. Wer lacht da? Ich selber. So moralisch verrecken zu müssen! Pfui Teufel! es wäre schon besser gewesen, ich hätte mir damals auf Deck statt des Schienbeins den Hals gebrochen. Ehre verloren, alles verloren! Man sollte ja in einen Spiegel hineinsehen und sich selber die Visage bespucken. Ah! das sollte man machen.«

»Moritz, das sind keine Worte.«

»Was?! keine Worte!«

Wie ein bereits Totgesagter hatte sich der Kapitän in die Höhe gewuchtet.

»Wo mir die Geschichte bis hier steht« – er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Kehle – »da soll ich mir auch noch die Worte verkneifen? Aloys, du bist der beste Kerl von uns allen, aber in dieser Beziehung . . . ich lasse mich auch von dir nicht beschwatzen. Wenn's dir nicht gefällt, was ich sage, dann bitte . . . Ab nach Kassel! Mir ist doch nicht zu helfen, denn ich habe das Gefühl, als wenn ich aus 'ner Blutschale tränke.«

Dem Aktuarius grauste.

»So sei doch vernünftig!«

»Wie gerne, wie gerne, mein Junge! Aber da ist nichts mehr zu machen.«

Sein Blick stierte zur Decke. Von einem Querbalken hing das Modell seines Fahrzeuges, in voller Takelage, alle Segel hoch und die Stinnessche Flagge am Hauptmast.

»Unmöglich! wo das hängt: das reine, jungfräuliche Schiff da! Mein Schiff, mein Kredit, mein Stolz, meine Zuflucht! Das knackt mir den Hals ab.«

Er bäumte sich zurück, warf seine Arme aufwärts, spreizte die Finger, hielt sie flehend dem Rheinschiff entgegen, das schemenhaft durch einen bläulichen Nebel zu schwimmen schien.

In wütiger Qual schrie er es an: »Du da oben, bin ich nicht immer spurig durchs Leben gegangen?! Nicht direkt mit 'nem Galopp aus dem Stall, sondern allzeit bedächtig und sicher? Bin ich nicht toujours prachtvoll und mit vollen Bunkern gefahren – von Duisburg-Ruhrort nach Rotterdam, von Rotterdam wieder retour? ohne Leckage, ohne dem Herrn Stinnes und dir jemals Molesten zu machen?! Ja, du – und Wenn ich vor Anker ging, riefen da die Kaufleute nicht, riefen die Reeder da nicht: Da kommt Moritz van Dornick, der ehrliche Moritz?! A votre santé, Moritz van Dornick! und sie sprachen mir zu und ließen mich leben. O du, mein Schiff, du, mein Kredit, mein Stolz; meine Zuflucht, du kannst es bezeugen: bin ich nicht allzeit mit geradem Gewissen und aufrechten Knochen unter deiner Flagge gesteuert?!«

Er suchte nach Atem.

Seine Fäuste ballten sich, krampften sich ein, stemmten sich gegeneinander.

»Nun aber . . . ein fieser, schmieriger Kerl steht am Backbord und brüllt von den Planken herunter: Moritz, wo hast du deine rechtschaffenen Knöppe gelassen?! Dein Sohn ist ein Lump, und wie der Bock, so die Wolle. Moritz, wie kannst du noch vor dem alten Herrn Stinnes bestehen? wie vor der Firma Harkopp & Söhne? wie vor dem armseligen Weib in Emmerich, das kaum Kartoffelschalen noch hat, und wie vor dir selber? Halt's Maul, du da oben! oder kannst du die Fresse nicht halten?!«

Er sprang auf, riß sich herum und packte den Knotenstock hinterm Wandschrank, den er stets mit sich führte, wenn er durch die Wiesen spazierte, über Wisselward bis zum Rhein hin, um aus alter Gewohnheit den Kähnen und Schleppern zu folgen, wie sie in weißem Segelzeug zu Berg und Tal gingen oder braunschwarze Straußenfedern hinter sich herzogen.

Der Stock reckte sich auf.

»Moritz, was willst du?!«

Der Aktuarius suchte ihm in die Arme zu fallen.

Es war zu spät.

Die grandige Stimme knatterte wie Pelotonfeuer: »Halt's Maul, du da oben!« und von der kräftigen Faust durch die Luft gewirbelt, krachte der Bakel in die Takelage hinein, in die zierlichen Planken und Balken.

Mit einem lauten Schrei stürzte das Modell aus der Höhe herab, überschlug sich und zerschellte am Boden.

»Aus!« stöhnte Moritz! pfefferte den Dorn in eine Ecke des Zimmers und rieb mit heiserem Lachen die Hände zusammen. »Damit ist auch mein Haus in die Wicken gegangen. Von Rechts wegen. Ich habe nichts mehr zu sagen.«

»Aber ich,« fiel der Aktuarius ein. Er zitterte vor tiefster Entrüstung. »Du solltest dich schämen, solche Torheit zu machen! Das ist brutal und hundsmiserabel und deiner nicht würdig. Ja – ich verstehe dein Unglück, aber ein Kerl wie du sollte sich in solchem Malör ganz anders benehmen. Was du hier betreibst, ist Feigheit von der niedrigsten Sorte . . . und hast mir doch immer damit in den Ohren gelegen: ich, der Kapitän von ›Maria, sei mit uns‹ . . .«

»War ich. Bin ich nicht mehr. Kann es niemals mehr werden. Meine Reputation hat die Schwindsucht bekommen, und Schwindsüchtige haben's nicht gern, daß man ihren Atem belauscht, aus Furcht, die stickige Luft könnte auch gesunde Lungen verpesten. Das ist es.«

»Das ist es nicht. Du karriolst auf dem Holzweg. Wer sich selber aufgibt, verdient unter die Räder zu kommen. Verstehst du?«

»Gut reden, wo mir kein Kastemännchen mehr in die Hände hineinwichst. Der Bankrutt hat's Maul aufgetan und will Goldstücke haben. Jetzt heult das Biest und zerreißt mir die Ohren, denn ich kann es nicht füttern. Aus ist die Sache.«

Er zog einen großen Strich quer durch die Luft.

»Totaliter aus und verbumfiedelt. Mir kann niemand mehr helfen.«

»Moritz, jetzt hör' mal. Ich kam, um mit dir ein vernünftiges Wörtchen zu reden. Aber ich seh': in deinen vier Pfählen spektakelt ein Narrenkasten herum und macht alles zu schanden. Nimm's mir nicht übel, wenn ich mich gehorsamst empfehle. Mit dir ist kein Auskommen mehr, wenigstens hier nicht; denn immer wieder treibt's einen hier in die Galle hinein oder springt einem 'n toller Hund zwischen die Beine.«

»Schnee auf den Kopp!« ächzte der Alte.

»Gar nicht so übel,« sagte der Aktuarius. »Hoffentlich hilft es!«

Er sah nach der Uhr, weckte den Stecher und ließ den Schlag repetieren.

»Erst sechse. Drum noch ein Letztes! Willst du mich um achte in meiner Wohnung beehren?«

Der Kapitän sah ihn fassungslos an.

»Bei dir?«

»Ja, bei mir.«

»Wenn ich dein Haus nicht verstänkere . . .«

»Darauf will ich's ankommen lassen. Also um achte.«

»Um achte,« wiederholte der Kapitän, ohne eigentlich zu wissen, was er sagte. Nur das wußte er: der Herdentrieb war auch bei ihm lebendig geworden. Die heutigen Abendstunden allein zu verbleiben, wäre furchtbar gewesen. Die freundliche Aufforderung kam ihm somit gelegen.

»Schön denn – um achte,« und er beugte sich nieder. Wehen Herzens raffte er die Brocken des zertöpperten Schiffes zusammen.

Inzwischen trieb der Aktuarius durch den ziehenden Schneestaub. Die Stirn brannte ihm von den glasierten Nadeln, die scharf durch die Straßen fegten. Kreisende Funken glitzerten in dem weißen Dunst der großen Laternen, deren Licht in dem dichten Geriesel fast erstickte.

Bevor er nach Hause ging, sprach er erst bei Röschen Jungklaas vor, um von Ewert und Nellecke etwas Näheres in Erfahrung zu bringen.

Als er hier völlig wissend geworden war, lenkte er seine Schritte zum Notar.

Trotz der vorgerückten Stunde fand er noch willige Ohren.

Die Unterredung war lang und eindringlich und endigte mit der Ausfertigung eines beglaubigten Schreibens.

Eine Stunde später saß er wieder in seinem behaglichen Zimmer.

Punkt acht erschien Moritz.

»Melde mich gehorsamst zur Stelle.«

Mit traurigen Blicken sah er sich um.

Der Aktuarius schlug einen heiteren Ton an. »Brauchst keine lange Nase zu machen. Punschbowle gibt's nicht. Aber 'nen Schnaps kannst du haben. Boonekamp of Magenbitter. Feinstes Destillat von dem braven Ohm in Rheinberg.«

»Merci.«

Der Kapitän winkte ab.

»Bitte, dann setz' dich, denn ich habe mit dir unter vier Augen zu sprechen. Drüben ging's nicht. Da war ja alles verstört und aus dem Leimtopf gegangen. Meine Angelegenheit will, um mit deinen Worten zu reden, ruhiges Fahrwasser haben. Kein Schlingern und keinen Sturm in den Segeln. Ich möchte einen erlösenden Trunk tun – einen langen und tiefen. Selbstverständlich auch du. So nur können wir beide gesunden, und wenn es dir recht ist . . . Aber vorab sei gesagt: Unterbrich mich nicht, halte deinen dicken Schädel im Zaum, reiße dich zusammen und gib erst Antwort, wenn du gefragt wirst, sonst kann ich meine richtige Trift nicht halten und das nicht in den Hafen bringen, was in den Hafen hinein will. – Moritz!« – und er setzte sich dem Kapitän dicht gegenüber, schlug die Beine übereinander und sagte: »Moritz, wir beide, du und ich, wir kennen uns lange. Ich kann deine Freundschaft nicht missen. Sie wurde nicht auf kärglichen Boden gesät, sondern in die fette, niederrheinische Scholle hinein, und ging auf unter einem fruchtbaren und warmen Landregen. So was hält vor und gibt immer eine reichliche und erfreuliche Ernte. Schade nur, daß ich diese Ernte nicht noch besser ausnutzen konnte. Ich will hiermit auf Nellecke hingewiesen haben. Bitte, mich nicht unterbrechen zu wollen. Denke an meine aufgestellte Prämisse. Ich weiß, du hast das Beste gewollt und bist nicht schuld daran, was sie mir antat. Wenn wir lieben, so stellen wir das Weib, das wir lieben, über alle Geschöpfe, die uns hienieden begegnen. Ich tu' es noch heute. Hier, das hier« – und er preßte seine Hand auf die Herzgrube – »war krank nach ihr, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Sie konnte es heilen und ihm alle Sehnsucht in einen breiten und schönen Strom des Glückes verwandeln. Sie tat es nicht, wandte sich ab und ließ mich bettelarm stehen. Ich denke, die Blume, die ich ihr bot, war zu dürr und unansehnlich für sie. Sie konnte bessere haben . . . und hat sie gefunden. Nur traurig für mich, nicht traurig für Nellecke, denn jeder ist sich selber der nächste, hat das Recht und die Pflicht, auf seine Art selig zu werden. Gewiß, eine geraume Zeit hindurch hoffte ich auf die köstliche Welle einer erwiderten Neigung. Ich glaubte, den Ton eines verheißungsvollen Echos zu hören. Er beherrschte mein Leben und mutete an wie fernes Abendläuten. Ich wollte die Hände unter ihre Füße legen, sie feiern und ehren und zu meiner Maienkönigin machen. Wie schön, wie schön! sagte ich öfters, ganz benommen von ihr, von ihrer Güte und Reinheit . . . aber Nellecke wollte nicht meine Maienkönigin werden.«

»Satt und genug!« fuhr Moritz dazwischen. »Du drückst mir den Verstand aus dem Hirnkasten. Gott verdammich nochmal! sie soll es noch werden . . . sonst: mit diesen zwei Fäusten – ich erwürge das Weibsbild. Herr Jeses . . .! Herr Jeses . . .

Stur und wie verdröhnt stierte er in den sirrenden Docht der kleinen Tischlampe.

»Weshalb die Aufregung? Ich bin doch der leidende Teil, und siehe: ich bin gefaßt und ruhig geblieben. Es ist nicht wohlgetan, dem Geschick in die Speichen zu fahren. Schon um ihretwillen nicht. Ich hätte den Mut nicht, ein junges, hoffnungsvolles Glück aus dem Senkel zu heben. Wenn es auch weh tut, das in fremden Händen zu wissen, was man selber gern hätte – ich gehöre zu denen, die resigniert und ohne Groll im Herzen dem Verlorenen nachsehen, es mit heißen Augen verfolgen, wie sie das Gleiten eines stillen Vogels verfolgen, wenn er dem Westen zustrebt, um ganz allmählich im Dunkel des sterbenden Tages zu schwinden. Ich trage nicht nach . . . ich habe kein Leid mehr . . . ich segne den Mund, der mich küßte . . . ich beneide die Hand, die mich abwies. Möge ihr alles werden, was sie bei mir nicht finden zu können glaubte. Es wird einsam um mich. Die Blätter fallen, aber ich hoffe: auf Millendonk wird mir das Vergessen schon kommen.«

Der Kapitän erhob sich. Seine Blicke schwammen.

»Nichts mehr,« sagte er fahrig. »Ich kann nicht mehr folgen. Solche Auslassungen passen nicht für Moritz van Dornick; denn offen gestanden, ich rechne mich nicht zu den selbstlosen Menschen, die geduldig die Backe hinhalten, um den zweiten Streich zu empfangen. Allerhand Achtung! Das ist ja recht schön in der Bibel geschrieben, ist hinsichtlich der Praxis aber man bloß für besondere Leute hingelegt worden. Für mich läßt sich das an wie: friß Vogel oder krepiere . . . und so was hat niemals in meinem Reglement und meinem Katechismus gestanden. Aloys, ich gehe.«

Zwei gütige Hände drückten ihn nieder.

»Nur noch fünf Minuten, mein Lieber. Die wirst du einem alten Freund wohl noch gönnen. Ich verspreche dir: von Nellecke ist nicht weiter die Rede. Das wurde vorhin in bester Weise erledigt und mit Stumpf und Stiel aus meinem Acker gerodet. Ein schöner Stern ging mir auf, ein schöner Stern ist für mich untergegangen. Was weiter? Darüber sieht die Welt hinweg, als wäre gar nichts gewesen. Möge es ruhen. Du aber . . . Moritz, ich sagte dir schon: Ich habe mit dir unter vier Augen zu sprechen. Das soll hiermit geschehen. Bevor ich heute Abend bei dir anpochte, ist Röschen Jungklaas bei mir gewesen. Sie redete verständige Worte, und das, was ich von ihr nicht herausbringen konnte, habe ich in deinem Zimmer und gleich darauf von Ewert erfahren. Du brauchst mir nichts mehr zu sagen. Ich kenne dein Unglück und weiß, was im Hause Harkopp & Söhne passiert ist.«

»Dann weißt du auch, daß ich ein unhonoriger Kerl bin.«

»Trage diese Behauptung bei solchen herum, die ins Irrenhaus wollen. Ich für meine Person lehne es ab, mich mit derartigen Menschen identifizieren zu lassen. Ich komme auf Ewert. Würde ich dein vorgefaßtes Urteil über ihn zu meinem eigenen machen, ich käme mir vor wie der erbärmlichste Hehler – und das wirst du nicht wollen. Was ich von ihm halte, braucht mir niemand zu predigen. Ich kenne mich selber und lasse mich in der Bewertung meiner Ansicht von keinem beirren. Was gilt mir die Umwelt? Auch deine Hypothesen sind mit Fieberaugen behaftet – dir gegenüber und deinem Sohn gegenüber. Moritz, sei ruhig! Deiner Antwort bin ich später gewärtig. Ankläger und Verteidiger sind verschiedene Leute. Jetzt hat der Anwalt zu sprechen, und als solcher sage ich dir ehrlich und offen: Replik wider Replik! Du hast ihn zum alten Eisen geworfen, gibst ihn verloren und glaubst deine eigene Ehre gefährdet. Das ist verbriefter und gestempelter Unsinn. Gut, sein Leichtsinn hat ihn auf die Rutschbahn geworfen, ließ ihn Dinge betreiben, die bedenklich nach Ärgernis schmeckten. Aber Gott sei gedankt! der Kern ist gesund, und es gibt noch Mittel und Wege, ihm den begangenen Leichtsinn vom Leibe zu schütten, Sühne zu schaffen und hierdurch sein Verschulden zu tilgen. Damit ist allen geholfen. Ein Sohn von Moritz van Dornick geht mir nicht vor die Hunde . . .« und der eifrige Sprecher reckte sich auf, beide Fäuste gegen die Brust klemmend, gleichsam um den wilden und heißen Pulsschlag nieder zu halten: »Nein, der geht mir nicht vor die Hunde! Das soll meine Sorge sein, und dafür lege ich meine Hände ins Feuer. Moritz« – und seine Worte nahmen wieder ihren zielbewußten und bedächtigen Schritt an – »ich danke meinem Herrn und Schöpfer, daß er mich für würdig hielt, ihm hierbei als Werkzeug zu dienen.«

Mit einer raschen Bewegung nahm er von einem Nebentischchen ein amtliches Schriftstück.

»Hier! mit diesem Kreditbrief gehst du morgen, oder wenn es dir paßt, zu Harkopp & Söhne, bestellst 'ne schöne Empfehlung von mir und 'nen besonderen Gruß für den Seniorchef des geachteten Hauses. Das Weitere wird sich dann finden . . . und ist Ewert so weit, hat er den alten Rock vom Leibe gerissen und sich mit 'nem schönen neuen bekleidet, dann wird er nicht anstehen, das überwiesene Darlehn mir prompt zurück zu erstatten. So, Moritz, das wär' es. Es ist gerne gegeben, denn nichts ist schöner, als helfen zu können und eine unsichere Existenz wieder auf die richtige Fährte zu bringen.«

Der aufgetaumelte Kapitän umgriff seine Schläfen.

»Bin ich verrückt, oder höre ich richtig?! Christus! was tust du, und was bedeutet das alles?!«

»Nichts weiter als: Freundschaft zwischen zwei Menschen, die sich fanden im Leben.«

»Aloys . . .

Moritz wankte, hatte aber noch so viel Kraft, nach der Hand des Insichgekehrten zu tasten und sie an seine Lippen zu ziehen . . . und der harte Kapitän, der Mann mit der eigenartigen Gottesverehrung, der sich seinen Herrn und Heiland auf seine Manier klar gemacht hatte, fand sich mit einem Male wieder im Vaterunser zurecht, wenn auch nur ungelenk und in stoßweisen Sätzen. Aber er betete doch; er betete widerborstig, er betete grobzügig, er betete wie ein Frundsberger Landsknecht auf gewonnener Walstatt . . . nicht für sich, nicht für Ewert, nicht für Nellecke . . . nein, er betete für den, der ihm, nach seinem Begriff, die Ehre wiedergegeben hatte, der neben ihm stand, arm im Herzen, aber reich an Liebe und Wohltun. »Vater unser, der du bist in den Himmeln . . .«

Und jedes Wort war ein Trumscheit, kantig, eckig, von einer ganz besonderen Schwere. Und jedes Trumscheit machte es sich zum Grundsaß, mit aller Macht gegen die Himmelstür zu rumpeln, so daß sie aufpolterte und freien Einlaß gewährte. Und der Herr vernahm das knollige Rumoren und sagte: »Das ist Moritz van Dornick. Sein Beten ist wie starker Tobak und beizt in die Augen; aber er betet nicht übel. Moritz, geh' man trostvoll nach Hause . . . und was die Hauptsache ist: meinen Gruß deinem Donator. Er wurde gewogen und nicht zu leicht befunden. Ich werde mich seiner erinnern, wenn seine Seele sich vom Leibe scheidet. Im Hause meines Vaters ist ihm eine Wohnung bereitet.«

Der Kapitän faltete die Hände.

Von seinen schrundigen Wangen tropfte es nieder.

»Mehr kann ich nicht tun,« sagte er wie aus einem schweren Traum heraus, und sein Arm legte sich um den Hals seines Freundes, »denn ich bin nicht würdig, dir die Pfade zu ebnen.«

»Brauchst du auch gar nicht. Du brauchst nur Moritz van Dornick zu bleiben . . . der alte . . . der treue . . . der Mann im Ölrock . . . der Mensch mit dem barbarischen Zorn und mit dem Gemüt eines Kindes. Mehr will ich nicht haben. Die Wälder werden wieder grün werden, und die Lerchen über den jungen Kornfeldern werden wieder singen . . . auch für dich . . . für uns alle. Auch wir dürfen hoffen und wollen uns der heutigen Stunde erfreuen.«

»Glaubst du? Glaubst du das wirklich? Auch für mich? Ja, du, jetzt glaub' ich es selber: auch wir dürfen hoffen . . . nur mit dem Unterschied: du ganz anders als wir; aber ich bin auch hiermit zufrieden,« und er wandte sich dem Fenster zu, öffnete, tat so, als wenn er etwas hinauswürfe, und schloß wieder ab.

»Da liegt sie – die Blutschale. Du hast sie mir vom Munde genommen. Ich kann wieder Gottes Lebensluft atmen und Gottes Sonnenlicht trinken . . . und das ist was Großes . . . und das gebietet mir, dir auf den Knien zu danken. Unsinn! so was kann man im Leben nicht abtragen. Das wertet nicht, das gilt keinen Pfennig. Aber wenn ich mal tot bin, wenn ich mit spitzer Nase da liege und mit porzellanenen Händen – dann tritt an die schwarzen Bretter heran und horche. Aber höre genau zu. Du wirst meinen Dank unter dem Sargdeckel stammeln hören.«

Er machte eine stumme Handbewegung und schritt langsam zur Tür hin.

* * *

Draußen hingen weiße Festons . . . die ganze Nacht hindurch und bis zum andern Morgen.

In den ersten Frühstunden hellten sie auf, trieben zur Seite und ließen die Welt in ihrer ganzen kalten und stählernen Klarheit erglänzen.

Hüben und drüben weite Schneefelder, gepuderte Kopfweiden und in Watte gepackte Ansiedlungen, dazwischen das breite schwarze Band des sich träge vorwärts schiebenden Rheinstroms.

Ab und zu trieb eine Scholle vorüber, abgezirkelt und schaumig wie Schlagsahnentorten . . . die ersten Schollen in diesem Winter, die ins Niederland reisten.

Der Turm von Sankt Aldegundis trug eine Zipfelmütze wie der weiße Mynheer. Pielgerade ragte sie aufwärts und stieß ein Loch in den Himmel, umschaukelt von dunkeln Vögeln, die wie graue, böse Gedanken ab- und zuflogen, um dann über Emmerich und seine verschneiten Dächer hinzugleiten.

Schneeblau sah der Tag in das große Kontor von Harkopp & Söhne. Er gab sich alle erdenkliche Mühe, zierliche Eisblumen gegen den unteren Rand der Fensterscheiben zu malen. Allein es wollte ihm so recht nicht gelingen, denn der großmäulige Ofen, der wie ein Moloch aus dem Tal Gehenna mit seinem heißen Odem nicht sparte, taute die sich bildenden Kristalle stets als Tränen herunter. Dazu knackte er Steinkohlen wie Haselnüsse, prüzelte das überschüssige Zeug in den Aschenkasten, spuckte und räusperte sich und tat überhaupt so, als stünde ihm allein die Befugnis zur Führung der Unterhaltung zu.

Und das war der Fall.

Außer dem feinen Gezwitscher der Federn ließen sich keine anderen Laute vernehmen. Schweigsam war alles, und wenn einer der Angestellten sein Sitzfleisch nur um Haaresbreite verrückte, gleich fuhr der Herr in großgemustertem Buckskin mit einem hingehauchten »Pst, meine Herren!« dazwischen, wies vielsagend auf das Privatkontor des Prinzipals und beglückte wieder die aufmarschierten Zahlenkolonnen mit den bedeutsamen Hakenzeichen.

Das Stummsein dauerte fort. Irgend etwas stimmte nicht im Hause Harkopp & Söhne, oder aber es war etwas im Werden begriffen, etwas Erfreuliches, dem die Angestellten der Firma mit Spannung entgegensahen.

Kein Geräusch, nicht das leiseste Mucksen! – nur der Magazinier des Kaffeelagers trat vorsichtig ins Zimmer, wandte sich auf Zehenspitzen an Herrn Pirrwitt und flüsterte ihm sacht in die Ohren: »Der Kapitän noch immer da drüben?«

»Noch immer.«

»Ja aber . . . der Agent mit seinen fünfzig Sack Cuba . . .«

»Hat's denn so eilig?«

»Er möchte Order empfangen.«

»Soll warten.«

»Gut – also soll warten.«

»Pst, meine Herren!«

In diesem Augenblick gellte die Klingel im Privatkabinett mit schrillem Lärmen dazwischen.

Der erste Prokurist und Buchhalter, Herr Archibald Pirrwitt, schreckte auf.

Er kannte das Zeichen.

»Für mich!« sagte er hastig. »Der Chef lassen bitten,« und mit der Behendigkeit eines geschmeidigen Wiesels glitt er vom Drehbock, strich mit einem Fünffingergriff seine Sardellen zurecht, tat drei schüchterne Klopfer, um auf das stramme »Herein!« in das Allerheiligste der Firma zu treten.

Mit einem raschen Blick orientierte er sich. Wohlig lief es über seine geängstigte Seele.

Der Seniorchef und Moritz van Dornick standen sich Hand in Hand gegenüber, schmunzelten sich an und schienen einig geworden.

»Das wäre geregelt,« hörte er den ersteren sagen, »und ich denke, mein Gestrenger, mit dem heutigen Tage können wir das Kriegsbeil vergraben.« Dann stellte er vor: »Herr Pirrwitt, erster Buchhalter und die Stütze des Hauses.«

Der gediegene Herr in großgemustertem Buckskin krümmte sich vor Devotion wie eine Aalraupe und schlug die Blicke zur Decke.

»Nicht so! Ich möchte nicht gerne, Herr Harkopp.«

»Kennen wir,« lachte Johann Baptist mit fetter Stimme, und sich wieder seinem Besuch zuwendend, sagte er munter: »Sie müssen nämlich wissen, Kapitän: ohne diesen, meinen Freund und Gönner, wird nichts gemacht im Geschäft. Sie müssen mir drum schon gestatten, auch ihn von dem zwischen uns geschlossenen Pakt in Kenntnis zu setzen.«

»Soll mir angenehm sein.«

»Aber ich bitte, Herr Harkopp . . . unter keiner Bedingung . . . das wäre doch äußerst . . .«

»Hören Sie zu.«

Herr Johann Baptist spielte mit seiner schweren Berlocke, dann sagte er feierlich: »Geschehen zu Emmerich im Hause Harkopp & Söhne. In gegenwärtiger Stunde wurde zwischen dem Kapitän und mir folgender Friede geschlossen. Erstens: die unliebsame Angelegenheit ist mit dem heutigen Tage restlos geordnet. Zweitens: Witwe Fleutgen betreffend. Die von ihr leichtfertiger Weise entliehenen Gelder sind ihr mit Zins und Zinseszins zurückzuerstatten, und zwar noch vor Abend, und Sie, Herr Pirrwitt, werden die Liebenswürdigkeit haben, in dieser Sache den Vermittler und weißgekleideten Engel zu machen. Wollen Sie hingehen?«

»Gott, diese Freude . . .

In den Wimpern des Angeredeten hing ein glasheller Tropfen.

Herr Johann Baptist fuhr fort: »Drittens: Ewert van Dornick bleibt der Firma erhalten, vorausgesetzt, daß er einen Revers unterschreibt, das infame Pokern zu lassen, keine Differenzgeschäfte zu entrieren und Ihnen zu folgen, durch Dick und Dünn, mit heißem Atem und ganzer Seele. Was meinen Sie hierzu?«

»Ich sagte ja immer: Etwas windig veranlagt; im übrigen prima, Herr Harkopp. Ich denke: wir können's nochmal probieren.«

»Zum Letzten!« – und der alte Herr setzte das schönste, rosigste und gediegenste Gesicht von der Welt auf . . . »In Anbetracht des Dreimännerfriedens von Emmerich und in Anbetracht ferner, daß ich die Genugtuung habe, den besten und ehrlichsten Graukopf unter meinen Sparren zu wissen – 'ne Buddel Madeira. Kapitän, Sie trinken doch eine?«

»Wenn's denn nicht anders sein kann.«

»Oller Seebär!« lachte der Kaufherr, »du willst doch kein Rheinwasser saufen?! Also, Herr Pirrwitt – Madeira und drei piekfeine Gläser!«

Glückstrahlend taumelte das gedrungene Männchen aus der Friedenskammer, noch ganz benommen von dem soeben Durchlebten und willens, die ganze Welt an seinen großgemusterten Buckskin zu ziehen.

»Und nun, Kapitän, ein Letztes, aber unter vier Augen.«

Der Chef wurde ernsthaft.

»Ihrem Wohltäter meine besondere Achtung. Solche Menschen sind nur mit der Lupe zu finden. Kurz, die ganze Aufmachung – eine Männertat, die die Hände falten läßt und in die Knie zwingt. Hut ab und Respekt vor solcher Selbstverleugnung. Aber das lassen Sie sich gesagt sein: die Gelder der Witwe nehme ich an, indessen jedoch, was zu Lasten der Firma gebucht ist, bleibt gebucht für die Firma. Jede Diskussion hierüber weise ich ab. Ich werde ihm selbst drüber schreiben . . . noch heute . . . und wenn einem das Gewissen schlagen sollte, diese moralische Schuld zu begleichen . . . Kapitän, Sie verstehen mich schon. Ich hoffe: ihm wird's mit den Jahren gelingen.«

»Wird es und muß es,« stammelte Moritz.

Er wurde unterbrochen.

Von einem Stift begleitet, klingelte Herr Pirrwitt mit der bestellten Bouteille Madeira und drei Gläsern ins Zimmer.

Gleich darauf wurde der vollzogene Dreimännerfriede in altem Südwein gefeiert.

Es waren glückliche und erlösende Augenblicke bei Harkopp & Söhne.

Die Gesichter des Alten und des prächtigen Chefs leuchteten wie die Rosen um Pfingsten, und die Äugelchen Pirrwitts wurden so winzig und vergnügt wie die eines Blindmolls.

Eine Stunde später nahm Moritz einen rührsamen Abschied. Er fuhr mit der Post über Kleve nach Hause.

Als der gelbe Wagen sanft in das Städtchen schaukelte, läuteten die katholische und die evangelische Kirche den dritten Adventsonntag ein. Der jüdische Tempel schwieg. Er besaß keine Glocken.

* * *


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