Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ungefähr in der Mitte der Kirche von Sankt Nikolai, vom hohen Gewölbe herunter, schwebt ein gewaltiger Leuchter. Jahrhunderte kamen, und Jahrhunderte gingen – er ist derselbe preziöse, heilige und wundersame Leuchter geblieben. Sie brachten ihm keinen Schaden, verblaßten seine Farben nicht, hoben vielmehr seine eigenartige und seltsame Schönheit.
Meister Heinrich Bernts schnitzte ihn, und als er ihn schnitzte, mußten ihn die Worte der Offenbarung angeregt haben, die da lauten: »Und ein groß Zeichen erschien am Himmel, denn siehe: es war ein Weib, umkleidet mit der Sonne, und der Mond ruhte unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupte lag eine Krone aus zwölf köstlichen Juwelen.«
Und er bildete das Weib in der Fülle der Anmut, in rührender Einfalt, in Keuschheit und Reinheit, in ewiger Wahrheit, erhaben über allem Wandelbaren, die Trägerin der menschgewordenen Liebe und des menschgewordenen Leides, angetan mit dem Mantel der Gnade, in ihren schuldlosen Händen die Schale der Opferfreudigkeit tragend.
Und dieses Weib, so schien es, war aus dem Marienleuchter gestiegen und in die weiße Stube getreten, war gekommen wie die mit Dornen Gekrönte, die Brust siebenfältig mit dem Schwerte durchstoßen – und war doch nur ein einfaches Mädchen, die Tochter des Kapitäns, statt des Purpurmantels ein schlichtes Tuch um die Schultern, statt des himmlischen Diadems, von dem die Offenbarung erzählt, nur den glitzernden Rauhreif der Frostnacht im Haare – und war doch so voller Gnade und Reinheit und Entsagung wie die hehre Jungfrau aus dem Muttergottesleuchter in Sankt Nikolai.
»Nellecke! Nellecke . . .!«
Wie ein erlösender Jubel ging es durch das Zimmer Terstegens.
Alle sahen auf sie und ihren Begleiter, Hoffnung, Freude und Zuversicht im Herzen.
Nur Lambert war noch bleicher und verstörter geworden.
»Ja, Nellecke,« sagte Aloys Furtwanger und hob die Hand, glitt damit über die Augen und senkte sie wieder. »So hört denn und wisset. Sie tat, was noch keine getan hat. Die Schuld der Dankbarkeit machte sie der großen Mittlerin ähnlich. Sie war wie eine Herzogin, die alles hinter sich ließ, ihre Füße entblößte und über Dornen einherging, um ihr Volk loszusprechen. Ihr Sinnen war auf Sühne gerichtet, und diese Sühne berührte mit wehen Fingerspitzen die eigenen Wundmale und die Barmherzigkeit Gottes. Sie kam zu mir, um dieses Opfer zu bringen, und ich nahm es an, aber nur, um es in die zuständigen Hände . . . Lambert Terstegen, um es in Ihre Hände zu legen. Ach, du! sie schien dir in den letzten Stunden verloren, und ist dir in den letzten Stunden niemals näher gewesen. Ihr Einsatz war groß, aber ihre allesumfassende, entsagende Liebe war größer; denn nichts ist reiner und stolzer, als ein Weib sein eigen zu nennen, so das Kreuz auf sich nimmt und mit der Dornenkrone umhergeht. Ach, du! ihre Seele erinnerte mich an ein schönes, weißes, irrendes Segel, das den Hafen suchte und den Hafen nicht finden konnte. Nun hat sie den Hafen gefunden, und es steht bei dir, diese Seele aufzunehmen und in das stille Reich deiner Tage zu führen.«
»Lambert . . .!«
Und dann ein Schrei von drüben: »Nellecke, Nellecke . . .!« Zwei trunkene Stimmen, die zu einer einzigen wurden . . . und er lag vor ihren Füßen, und seine Hände tasteten sich an ihrem Leibe empor: »Ach, du! jetzt begreife ich alles. Kannst du vergeben? Wer bist du? Wie heißt du? Wie soll ich dich nennen?!«
»Eine Heilige,« sagte Aloys Furtwanger und richtete ihn auf und führte ihn an die Brust der Geliebten.
Und alle kamen heran, priesen die Stunde und setzten sich wieder, um sie gemeinsam zu feiern und das neue Jahr zu erwarten, und es war keiner unter ihnen, der sich der Stunde nicht freute, und dessen Mund nicht gebetet hätte für eine sonnige Zukunft.
Und Moritz van Dornick gedachte des Brautpaars, hißte in flammender Rede seine besten Flaggen auf die obersten Topps, kommandierte alle Mann auf Deck und schickte prächtige Salven über die beglückte Tafelrunde, während Johannes mit seinen weißen Kleidern nicht sparte und allen Häuptern es an Salbe nicht mangeln ließ. Ach! und Springinsröckel! In schlichter Weise zitierte er die Worte Ernst Moritz Arndts: »Der Väter Tugenden und Taten können nur als ferne Sterne über unserem Dasein leuchten, zu denen wir mit Sehnsucht aufblicken müssen; können wir nichts weiter, als sie anschauen und bewundern, so steht unser Leben unter ihnen still, und wir werden ratlos in die Irre getrieben, wenn Wolken ihren Glanz verhüllen,« und er knüpfte seine Lehren daran und sagte: »Nicht nur anschauen wollen wir die heiligen Feuer, die über uns reisen, sondern an uns ziehen wollen wir sie durch heiße Arbeit, durch Treue und Gottvertrauen, und in unsere Seelen versenken wollen wir sie, damit sie uns glänzen bis an das Ende unserer irdischen Wallfahrt . . .« und so gingen die Stunden dahin gleich Sabbatstunden, und die Vereinigten merkten es nicht, wie schon die letzte sich anschickte, der ersten im neuen Jahre die Hände zu reichen . . . und da sprach der gedrungene Herr in großgemustertem Buckskin in sein dampfendes Punschglas hinein, erst klamm und verschüchtert, dann freier und offener, um hierauf den Kopf zu heben, aufzustehen und mit beredten Worten zu sagen, wie er sich freue, diesen Kreis gefunden zu haben, wie er bewegt sei über die Erlebnisse des heutigen Abends, und wie er nicht umhin könne, dem Herrn Aktuarius seine vollste Hochachtung zu Füßen zu legen. Auch den Hydrophilus piceus erwähnte er in sachlicher Weise. Er sprach vom Hause Harkopp & Söhne, von Ewert, vom Kapitän und seiner stolzen ›Maria, sei mit uns‹, von Johannes Terstegen und den beiden, die sich gefunden hatten für immer. Stets aber kam er auf den Aktuarius zurück, ohne Ermüden, mit gütigem Zuspruch, während dieser versonnen in sich schaute und an jemanden dachte, an ein nettes, freundliches Wesen, das jetzt mutterseelenallein war und vielleicht eine heiße Träne zerdrückte . . . und Herr Archibald Pirrwitt schloß mit einem dreifachen Hoch auf ihn, der also sinnierte, auf ihn, der die Wohlfahrt des heutigen Tages begründet, und während die Gläser noch klangen, die beseligten Menschen ihrer Freude kaum Herr werden konnten, wandte sich der Aktuarius heimlich der Tür zu.
Nun war er draußen.
Drinnen jubelten und feierten sie noch in der Stube des weißen Mynheers.
Still und unauffällig hatte er sich von der Tafelrunde entfernt. Er wollte nicht stören. Und nun war er draußen, so ganz allein, so ganz für sich, inmitten der beschneiten Häuserzeilen, deren Fenster wie Lichtschäfte in der Dunkelheit standen, inmitten der uralten Schauer, der geheimnisvollen Fragen an die Zukunft, des Rückschauens in vergangene Zeiten.
Wie ersprießlich sich alles gewendet! Wie begnadet waren alle geworden in der Fülle des Geschehens.
Diese Silvesternacht!
Er erinnerte sich nicht, eine solche durchlebt und durchlitten zu haben, eine solche Nacht voller Tränen und Freuden.
Hier war nichts mehr zu schaffen.
Hinter ihm lag das hehre Gefühl, Gutes getan, Herzen vereinigt und die graue Sorge von der Schwelle verscheucht zu haben, vor ihm das Ungewisse, das Suchen und Tasten nach dem eigenen Herdfeuer, bewacht von lieben Händen, die es vermochten, auch ihm die Sinne zu heitern und das unstete Grübeln von den Schläfen zu streicheln.
Hier war seine Berufung zu Ende. Sollte eine neue beginnen? War auch er nicht wert und würdig, des irdischen Wohlergehens teilhaftig zu werden und heimlich zu sagen: »An der Brust eines hingebenden Weibes findest du alles: Segen und Sälde, die schöne Mittagsruhe des Lebens, das sanfte Niedergleiten in den Frieden des Abends!« Sollte auch ihm das nicht werden?
Ein feines Knistern war bei ihm. Es war wie das feine, einladende, unnachahmliche Knistern von Seide – jenes heimliche Knistern, das die Sinne erregt und das Gemüt erfreut, wenn es sich mit den Bewegungen eines geliebten Wesens verbindet. Es umschmeichelte ihn. Er hörte es deutlich, und dazwischen rief das zarte Scherzo eines Kanarienvogels von weither herüber – kaum vernehmlich, wie hingehaucht, als hätte der Vogel aus einem verwunschenen Garten gesungen. Er sah ein schlichtes, aber behagliches Zimmer. Er gewahrte den warmen Hauch eines Ofens mit glühenden Bäckchen. Zwei Schlängelchen aus Messing ringelten sich um den gußeisernen Aufsatz. Aus den Röhren kam der einladende Duft von schmorenden Äpfeln. Es wölkte sich durch die gemütliche Stube wie Weihrauch, und dieser Duft mutete an wie ein Gruß aus den Kindertagen. Er sah alles mit wahrhaftigen Augen und fühlte jede Einzelheit mit wachsender Erregung. Der ausgestopfte Kakadu schien lebendig zu werden. Die Ammonshörner und großzackigen Seemuscheln, die in allen Farben des Regenbogens Perlmutterten, wurden zu seltsamen und bizarren Blumen und begannen zu rauschen, wie der Wald es tut, wenn der Herr ihn mit seinem Odem berührt und den Wipfeln gebietet, ihre Psalmen zu singen. Das Diplom des wohlachtbaren Steuerempfängers Franz August Kasimir Jungklaas sah ernst und gravitätisch von der Tapete herunter. Ein Glanz ging von ihm aus, als wäre es das Leuchten des Königlich Preußischen Roten Adler- Ordens vierter Klasse gewesen – der Glanz der Selbstachtung, der monarchischen Treue, der Ordnung und des unentwegten Festhaltens an Zepter und Krone . . . und in diesem sonnigen Glanz stand ein nettes Persönchen in bauschigem Reifrock, mit Honiglöckchen und schmucker Wespentaille, stellte die rosigen Fingerspitzen gegeneinander und betrachtete mit feuchten Augen das amtliche Schriftstück. Als sie es zum fünften Male gelesen hatte, trat sie ans Tafelklavier, zündete die Wachslichter an und setzte sich nieder. Gleich darauf riefen die ›Klosterglocken‹ durch das wohnliche Zimmer.
Der Aktuarius hörte darauf wie auf eine neue Weihnachtslegende.
Er mochte sich nicht von der Stelle bewegen, so verheißungsvoll und traulich bimmelten die ›Klosterglocken‹ weiter und weiter.
Über ihm kreisten rätselhafte Bilder, goldene Zeichen und Runen, die unerforschlichen Hieroglyphen des ewigen Gebieters.
Sein Blick haftete an den blitzenden Punkten.
Da sprang es plötzlich in seinem Herzen auf, warm und erlösend, als hätte der Stab Mose dort eine zaubermächtige Quelle geschlagen.
»Ich tu's,« sagte er entschlossen und setzte sich rasch in Bewegung.
Es war die äußerste Zeit für ihn, denn drüben im Altmännerhaus schienen sie kundig geworden zu sein und seine Abwesenheit bemerkt zu haben. Er horchte. Hastige Schritte gingen durch den Flur, die Haustür wurde aufgerissen, und eine wichtige Stimme rumpelte über die Straße: »Aloys, Aktuarius, Herzensjunge! Du willst mir doch die Schande nicht antun?! Ich, der Kommodore von ›Maria, sei mit uns‹ . . . Himmel Verdammich! ich kann den aufgesetzten Punsch doch allein nicht verdrücken!«
Der Angerufene trat schnell in den Schatten eines vorspringenden Hauses und verharrte in lautlosem Schweigen. Doch er lächelte und dachte still vor sich hin: »Nein, Moritz, den kannst du allein nicht verdrücken, aber dein vollgemessenes Deputat wirst du schon der Terrine entnehmen. Außerdem: deine Getreuen sind bei dir. Die werden dir helfen. Prosit Neujahr, lieber Moritz!«
Ein zweiter Anruf eilte zu ihm hin. Aber dieser Anruf krähte wie ein heiserer Mistkratzer, war schrill und gellend wie ein verrostetes Ofenblech, das angefeilt wurde, und lärmte durch den schneeblauen Abend: »Lasse deine Kleider immer weiß sein und deinem Haupte an Salbe nicht mangeln. Komme retour, Aloys, mein Hühnchen! Hier sind schneeweiße Kleider, hier ist köstliches Salböl. Punsch, Punsch, Aloys, mein Hühnchen! Wir warten, wir warten!«
Keine Antwort erfolgte. Dafür dachte der Aktuarius vergnügt vor sich hin: »Ich weiß, ich weiß. Indessen ihr habt euer Glück. Ich suche das meine. Prosit Neujahr, lieber Johannes!« und als sich die Stimme verlief, als alles mäuschenstill und seelenruhig wurde, trat er aus dem bergenden Schatten, segnete das verschwiegene Haus und verfolgte die Grabenstraße, die schnurgerade zum Großen Markt und zum Rathaus führte.
Ein Glockenzeichen ertönte und zerflatterte wieder.
»Ein viertel vor zwölf,« sagte er heiter, kicherte in sich hinein und schob seine Hände tiefer in die Paletottaschen. Er gedachte der Glocken. Nur eine Viertelstunde noch – und sie werden ihre Stimmen erheben, hoch von Sankt Nikolai herunter, und sie werden das neue Jahr einläuten und das Geschick der Menschen: ihr Hoffen und Lieben, ihr Wirken und Schaffen, ihr Leid, ihr Gedeihen – jubelnde, singende, trauernde, glückverheißende Glocken! Ach, wie oft war er in seiner Jugend bei ihnen gewesen . . . hoch oben . . . unter ihren summelnden Kelchen . . . im Dämmerlicht ihrer gewaltigen Schatten! Und wenn sie sich dann in ihren ehernen Krinolinen bewegten, erst langsam und feierlich, dann schwer ausholend und mit hartem Geschaukel, dann sah er sie an, als wären sie überirdische, dämonische Geschöpfe gewesen, zu Erz gewordene Mächte, Rufer des Unheils, Träger der Ordnung, Engel des Herrn, gewaltige Prediger und Mahner für Zeit und Ewigkeit. Und war eine darunter . . . die hatte einen ganz besonderen Gang und eine ganz besondere Zunge. Ihr Reifrock übertraf die anderen alle um eines Menschen Spannweite. Und wenn sie anhub zu rauschen, dann war es, als zöge ein Donner über die Stadt hin, als spräche der Herr selber aus dem zuckenden Blitz und der Wetterwolke . . . und dann legte Miekske Beiderwand, die gute Miekske Beiderwand, immer die Hände zusammen und redete in das laute Tönen und Dröhnen:
»Ich bin die Grieth vom Niederrhein,
Patrona sancta Sanctorum,
Und preise sie tagaus, tagein
In sæcula sæculorum.
Mein Singen, das geht bim, bam, bum!
Erfreuet Herz und Ohren . . .
Laudate, pueri, Dominum
In sæcula sæculorum!«
Nur eine Viertelstunde noch – und sie wird ihre Stimme erheben, hoch von Sankt Nikolai herunter, und sie wird das neue Jahr einläuten und das Glück der Menschen: ihr Hoffen und Lieben, ihr Wirken und Schaffen, ihr Leid, ihr Gedeihen – eine jubelnde, singende, trauernde, glückverheißende Glocke! – und an die Grieth vom Niederrhein und an Miekske Beiderwand denkend, an seine Jugend und an ein liebes Persönchen, das jetzt einsam war, so ganz einsam bei seinem Tafelklavier, dem ausgestopften Kakadu und den geringelten Ammonshörnern, rollte er immer rascher den schneeweißen Weg unter sich auf, der aussah, als wäre er mit gelben Streifen getigert – mit den Lichtbalken aus den benachbarten Häusern.
Diese Silvesternacht! Silvester am Niederrhein . . .! und drüben hing der Mond zwischen den Lindenbäumen, die vor dem Hause des Justizrats standen. Die überzuckerten Zweige glitzerten unter dem sanften Strahl der riesigen Leuchte, und waren Perlen dazwischen und eilige Funken, die vom Himmel kamen und wie ein kleines Feuerwerk durch das Filigrannetz der silberigen Äste purzelten.
Auch bei Justizrats feierten sie und im Hause des Notariatssekretärs Tibus, denn alle Fenster waren erleuchtet, und der Aktuarius hörte das ahnungsvolle Klingen von Gläsern.
Als er an der Destille von Hendrik Jaspers vorbeikam, sah er eine vermickerte Gestalt vor dem Auslagefenster stehen, die mit gierigen Augen die schnäpsernen Genüsse betrachtete, die dort ausgestellt waren. Noch immer gingen dort Leute ab und zu, die in letzter Stunde ihre Einkäufe machten. Sie hatten es eilig, denn nicht lange mehr: und sie glitten in neue Fragen und Rätsel hinüber.
Nein, diese delikaten Artikel!
Da waren weitbauchige Bouteillen mit Arrak und Jamaika-Rum, dem vielgerühmten Seydlitz-Bittern, mit Aquavit und Dornkaat, und andere wieder, auf deren Etiketten der animierende Name ›Ruhrperle‹ prangte. Und die vermickerte Gestalt in dem schmalen, abgewetzten Röckchen sah aus, als wenn ihr geboten worden wäre, die anpräsentierten Herrlichkeiten mit begehrlichen Blicken zu verschlingen.
Es war Peter Hartjes, der Zigarrenarbeiter, ein vortrefflicher Mann, reich gesegnet an Nachwuchs, aber nur schwach bestellt mit irdischen Gütern. Bei ihm sah die Not durch die Scheiben und wollte Brotschnitten haben. Aber Peter Hartjes und Brotschnitten! Die waren bei ihm so dünn gesät wie die Halme auf dem Lipperfurts-Berg; denn auf dem fließenden Sand wollten selbst Buchweizen und Dinkel so recht nicht gedeihen . . . na, und wie sollte da der brave Peter Hartjes mit Brotschnitten aufwarten?! aber seine Augen wurden so groß wie die eines Schellfisches.
Da trat einer schnell auf ihn zu.
»Na, Hartjes, Ihr möchtet wohl gerne . . .?«
»Und ob!« meinte Hartjes, »so'n Böwlchen aus Jamaika-Rum wäre für 'nen gewöhnlichen Menschen doch auch nicht so ohne. Aber es langt nicht.«
Da kicherte der Aktuarius wie ein fröhlicher Buntspecht und griff in die Tasche.
»Natürlich, es langt,« sagte er lustig und drückte dem Erstaunten 'nen harten, blanken, veritablen Speziestaler in die Pfote hinein und lachte sein vergnüglichstes und herzlichstes Lachen. »Jetzt aber man schleunigst, sonst kocht bei Muttern der Teekessel über. Prosit Neujahr, lieber Hartjes!« und fort war er, wie ein Schemen gekommen, wie ein Schemen zerflossen, indessen Hartjes seinen Dank ins Leere hineinstammelte, den preußischen Taler besah, um dann wie ein Frettchen über die Schwelle von Hendrik Jaspers zu flitzen, während der Aktuarius . . .
Alsbald stand er vor einem niedlichen Häuschen. Im Schein der benachbarten Laterne las er die Worte: »Röschen Jungklaas, Modistin.«
Oben war alles erhellt, unten war's dunkel, und nur in der Küche . . .
Glitzerblumen, Eiskristalle, als Brabanter Spitzen frisiert, hielten die Scheiben umkrustet, und hinter dem weißen Flimmerwerk sah er Christine Jordans bei einer Lampe hantieren.
Ob er eintreten sollte? Ob er den Mut wohl hätte? Ob er auch willkommen dort wäre? alles Überlegungen, die seine Sinne zerquälten, die über ihn herfielen wie gierige Plagen.
Aber er besiegte sie alle. Nichts ist stärker als die Sprache des Herzens. Es war nun einmal Bestimmung, und Gott hat es wollen. Sein Stock klopfte gegen das Fenster.
»Holla, Jungfer Christine, wenn's noch erlaubt ist . . .!«
«Herr Jeses, der Herr Aktuarius! Natürlich, immer 'rein man! Nu wird das Pläsiervergnügen erst völlig!« und die Küche dunkelte ein, und ein frohes Licht begann im Hausflur zu scheinen.
In diesem Augenblick kam es von Sankt Nikolai herunter.
Ein, zwei, drei . . . fünf . . . acht . . . elf . . . zwölf dumpfe, laute, verheißungsvolle, glorreiche Schläge.
»Prosit Neujahr!«
Gleichzeitig ruderten schwere Gesänge über die verwunschene Stadt hin . . . Rufe von ehernen Sibyllen, von starren Wunschweibern und klingenden Schicksalsfrauen. Und eine war unter diesen sich schaukelnden und wiegenden Jungfern, deren Jubel war von einer eigenartigen Fülle und einem besonderen Wohllaut, und sie sang und sie tönte:
»Ich bin die Grieth vom Niederrhein,
Patrona sancta Sanctorum,
Und preise sie tagaus, tagein
In sæcula sæculorum.
Mein Singen, das geht bim, bam, bum!
Erfreuet Herz und Ohren . . .
Laudate, pueri, Dominum
In sæcula sæculorum!«
In weihevollen Akkorden fiel es aus der schwindelnden Höhe, hob sich wieder, berührte die Sterne, rauschte über die verschneite Erde, rüttelte über Stadt und Land mit ehernen Schwingen, um drüben mit den schneeblauen Wäldern von Moyland seine Grüße zu tauschen. Und Fenster wurden aufgerissen, und Menschen beugten sich vor und riefen und nickten sich wechselseitig ihre Wünsche zu, umknattert von lustigen Fröschen und Feuerrädchen, während die Glocken immer weiter läuteten und eine schöne, lichtweiße Rakete vom Markt aufknisterte, um droben am Himmel in einem hellblauen Funkenregen auseinander zu stäuben.
»Prosit Neujahr!«
An dem niedlichen Häuschen, in welchem Röschen Jungklaas wohnte, wurde die Tür geöffnet.
»Nein, ist das eine Freude! Besonders aufzuwarten, Herr Aktuarius, ich habe darauf schon den ganzen Abend gelauert. Endlich blüht die Aloe, wie ich immerzu sage. In Anbetracht dessen habe ich ja auch mit dem Pünschchen gewartet . . . nur um Ihretwegen, mein Lieber . . . um Ihnen und dem Myrtenstöckchen den richtigen Vokativus zu geben.«
»Ist sie auf ihrem Zimmer,« wisperte Aloys, »dann möchte ich gerne . . .«
»Endlich!« kam es schwer und erlösend aus einem glücklichen Busen. »Man zu, aberst ohne lange Redensarten zu machen. Das buttert am schnellsten. Kurz, aberst gründlich. Es muß ihr Neujahrpräsent werden. Sie ist ganz solo alleine. Gehn Sie man vor. Ich für meine Person werde mir schon den passenden Eintritt erlauben,« und er ging auf Zehenspitzen hinauf, begleitet von Christinens innigsten Herzensergüssen, legte die Hand auf die Klinke, drückte sachte darauf und steckte den Kopf in die Stube hinein.
Da sah er sie stehen: Röschen am geöffneten Fenster, in ihrem Seidenen und dem sich bauschenden Reifrock, das feine Köpfchen aufwärts gerichtet, wo sie kreisten, die goldenen Bilder, die Wunder des Unerforschlichen . . . Röschen, zierlich und graziös wie aus einer Vitrine genommen und umdröhnt von dem Triumphgesang:
»Laudate, pueri, Dominum
In sæcula sæculorum«
Und er, auch er umbraust von den Glocken, die schwer durch die Nacht riefen und den Raum mit ihren seligen Zungen erfüllten – er spürte noch etwas wie ein lautes Herzklopfen, wie ein ermunterndes Räuspern hinter der Türe, wie ein kaltes Fließen über Stirn und Wangen . . . dann aber: lautlos war er an ihre Seite getreten und hatte den Arm um ihre Hüfte geschlungen.
»Röschen, mein Röschen . . .!«
»Du . . .« schreckte sie auf, und sie wandte sich an seiner Brust herum und sah ihm fest in die Augen: »Wie lieb du bist, und wie ich dich liebe!« und ihre Lippen gingen den seinen entgegen . . . und sie küßten sich lange . . . und unter den heißen Küssen sagte er innig: »Röschen, nun ist sie ins Blühen gekommen: die Christrose – mitten in der Winternacht. Ach! sie hätte schon vor Tagen geblüht, wäre nicht damals der grelle Schein der Lampe über die junge Knospe gefallen.«
»Ich weiß, ich weiß!« hauchte sie glücklich, und ihr zarter Leib drängte sich an ihn. »Unsere Liebe: Gottes Christrose! nun ist sie endlich erwacht unter dem sanften Licht der Sterne da droben. Ach, du, du . . .! wie lieb du bist, und wie ich dich liebe! Unsere Christrose: nun blüht sie, nun blüht sie!«
Ihre Worte schwammen in Tränen.
»Und noch schöner wird sie blühen unter den goldenen Bildern von Millendonk. Röschen, mein Röschen . . .!« und die Glocken riefen den Abgesang, und als sie verstummten, da lief ein sanftes Klingeln durch die freundliche Stube.
Da wandten sich beide, Arm in Arm und Schulter an Schulter geschmiegt, und siehe: Christine Jordans stand in ihrem schmucken Spenzer neben der Anrichte, die Hände gefaltet und mit innigem Nicken. Und sie löste die Hände und deutete auf die weißgespreitete Tafel, wo neben den dampfenden Punschgläsern das Myrtenstöckchen sich aufhob.
Dann machte sie einen höfischen Knicks und sprach mit zitterndem Behagen: »Prosit Neujahr, meine Lieben! Wie ich gesagt hab': Nu kommt das Stöckchen doch nach Millendonk hin. Mög's ihm bekommen, und nochmals: Prosit Neujahr, meine Lieben!« und als sie hinausging, flüsterte sie bedacht vor sich hin: »Nu habe ich schon sechsundsechzig Silvestertage durchgekostet und denen, die ich für die glücklichsten ansprach, besondere Namen gegeben. Den fünfundzwanzigsten habe ich ›Endlich alleine‹ betitelt, weil ich mich freute, meinen Verlobten über die Grenze zu schicken, 'nen andern: ›Gott segne den Eintritt‹, weil ich mich in Konditschon zu Röschen Jungklaas begab, und den heutigen werde ich ›Springinsröckel‹ benennen, denn er ist doch der schönste von allen. Ich sage Amen dazu – Amen, Amen!«
Ende