Joseph von Lauff
Springinsröckel
Joseph von Lauff

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11

Inzwischen begab sich der Aktuarius heimwärts.

Er wollte nichts mehr hören und wissen, nichts mehr sehen und in sich aufnehmen. Er hatte genug von dem, was ihm die flüchtigen Augenblicke bei Röschen Jungklaas eingebrockt hatten. Nur vergessen, das wollte er, untertauchen wie ein Fisch im kühlen, grünlichen Wasser, in die tiefste Tiefe hinein, wohin keines Menschen Laut und keine Glocke zu dringen vermag, wo alles so andächtig und verschwiegen ist wie in einem gläsernen Tempel und die Geister mit den grätigen Zähnen sitzen, ähnlich den Lemuren, undurchdringlich in ihrem Sinnen und Trachten, verschlossen in ihrem Wirken und Weben – das war der einzige Wunsch, den er hatte. Alles übrige war ihm ›tabu‹ wie den Inselbewohnern der korallenreichen Südsee.

Hellauf ging sein Bambus über das sonnenbeschienene Pflaster.

Er hörte den Ton nicht.

Etliche Spatzen priesterten von einer bräunlichen Pyramide rundlicher Pferdeäpfel herunter. Sonst ergötzte ihn ihr harmloses Treiben. Jetzt fehlte ihm jeder Sinn für das Tagewerk der gefiederten Schelme.

Selbst der Herr Bürgermeister, der Anstalten machte, seine Hand an den grauen Zylinder zu legen, sah das Zwecklose seines Beginnens ein und ließ den Arm wieder fallen.

»Was er nur hat?« fragte er sich selber, schüttelte den Kopf, stakelte weiter und ging dem Problem nach, welche Art die beste wäre, den Bürgern die neu geplanten Steuern aus der Tasche zu ziehen.

Mit Gott denn! – Springinsröckel war bereits in den grüngoldigen Schein der breitausgelegten Linden getreten, die mit ihrem Schatten ein lichtes, ansehnliches Haus bedeckten. Bunte Reflexe glitten darüber hin. Gerippte Jalousien gaben der Fassade ein freundliches Aussehn. Violette Fliederbüsche standen am Eingang. Tief im Garten schluchzte eine Nachtigall. Weiter davon, in der Nähe der alten Windmühle, dem Wahrzeichen der kleinen niederrheinischen Stadt, eine zweite. Neben der Haustür hing ein schwarzgestrichenes Brett, auf dem mit weißer Ölfarbe geschrieben stand: »Peter Joseph Hackenbroich. Königlicher Notar und Justizrat.« Darüber klebten Affichen amtlichen Inhalts.

Als der Aktuarius gesenkten Hauptes vorüber wollte, wurde das erste Bürofenster, gleich neben dem Hausflur, geöffnet. Ein würdiger Herr mit breitem Pomeranzengesicht, steifen Vatermördern, Augenbrauen wie Wattebausche und kurzverschnittenem Haar, das an eine graumelierete Keilerschwarte erinnerte, beugte sich vor und lärmte durch das Vorgärtchen: »Holla, heda! Herr Aktuarius!«

Der Anruf wirkte so plötzlich, knatterte so unvermittelt in die kleinstädtische Traumwelt hinein, daß die Spatzen, einen Schrotschuß vermutend, aufschnurrten und sich in das dichte Blätterwerk der stattlichen Lindenbäume verloren.

»Bin hier! Bin hier!« fuhr der Angeredete aus seinem lethargischen Zustand auf, ebenso verdammelt wie die rebhuhnfarbige Gesellschaft, die jetzt in den Zweigen hockte und fürchterlich schilpte. Er bekriegte sich aber und sagte: »Ah! sieh da, der Herr Sekretarius Tibus! Was soll's denn, Gestrenger?«

»Im Namen des Gesetzes! Sind Sie heute Abend zu sprechen?«

»Allemal! und wann kann ich das Vergnügen haben, Herr Tibus?«

»Zwischen sechse und sieben.«

»Herzlichst willkommen! Habe die Ehre, habe die Ehre!« und der einsame Herr im braunen Leibrock nahm wieder seinen früheren Schritt auf.

Der silberbeknopfte Bambus klimperte weiter, die Linden säuselten, und hoch aus den dunkeln Laubmassen rokuzte der wilde Tauber herunter.

»Im Namen des Gesetzes! Nanu, was habe ich überhaupt mit den Gesetzen zu schaffen? Mein Häuschen ist hypothekenfrei, Pfandbriefe und sonstige Besitztitel habe ich keine, Schuldforderungen stehen nicht aus . . . also was will denn Herr Tibus? Oder sollten vielleicht . . .« Er dachte an die tausend Taler, die ihm alljährlich zufielen, wie den Juden das Manna zuträufelte, als sie die steinichte Wüste durchirrten. »Sollten diese vielleicht . . .? Sollte der großgünstige Spender plötzlich und gegen alles Erwarten auf den ingeniösen Gedanken verfallen sein, sie mit dem heutigen Tag zu sistieren? Möglich, alles schon möglich! Gott läßt Völker erstehen und sie wieder verschwinden. Was wollen da lumpige tausend Taler besagen? und ich bin nur ein kleines, nichtiges Korn in seinem unendlichen Sandmeer, ein glimmendes Fünkchen in seinem Planetenfeuer. Na, wir werden ja sehen. Herr Tibus wird kommen,« und er versenkte sich abermals in die tiefste Tiefe hinein, wohin keines Menschen Laut und keine Glocke zu dringen vermag, wo alles so andächtig und verschwiegen ist wie in einem gläsernen Tempel und die Geister mit den fischgrätigen Zähnen sitzen, ähnlich den Lemuren, undurchdringlich in ihrem Werden und Wollen, verschlossen in ihrem Wirken und Weben . . .

»Schön denn! 'ne amtliche Sache. Der Herr Sekretarius Nikola Tibus wird vorstellig werden. Mag er vorstellig werden. Mein Gewissen ist rein, meine Seele ist lauter. Ich hänge nicht am Besitz wie die Zöllner und Wucherer. Und sollte das Befürchtete eintreffen, sollten die schönen Taler dahingehen wie ein glänzendes Meteor in warmen Sommernächten – ich nehme es hin wie eine Fügung des Herrn. Er wird weiter helfen und seinen Wurm nicht zertreten. Außerdem bleibt mir das Höchste: der Glaube an meinen Erlöser und die Hoffnung, dereinstens der ewigen Gefilde teilhaftig zu werden.«

Damit hatte er seine Wohnung erreicht, drückte geräuschlos das Schloß auf und trat in den Hausflur.

Eine Viertelstunde später saß er behaglich am Fenster, wieder ganz ruhig, abgeklärt und Herr seines Geistes.

Die ganze Umgebung heimelte ihn an.

Heute war Samstag; Drüke Anstoots hatte aufgeräumt, die Kasten und Kästchen abgestaubt, die Möbel poliert und die Fenster mit frischen Gardinen versehen. Wie ein Weltweiser fühlte er sich zwischen seinen Sammlungen und Büchern. Alles gute und liebe Bekannte! Wie sie ihm zuwinkten – diese verkieselten Farne und Moose, diese Abdrücke von Rädertierchen und Echinodermen! Zeichen versunkener Weltperioden! Beschaulichen Blickes übersah er die stattliche Reihe der Glaskästen, angefüllt mit den Präparaten von Käfern und Immen, von Netz- und Gitterflüglern, von Spinnentieren und Asseln . . . und dort der geräumige Wasserbehälter, sein Aquarium – welch reiches Leben und Werden zwischen den resedafarbigen Algen und schwimmenden Linsen! Die seidenfadige Gondel mit dem zierlichen Hörnchen, die Kinderwiege von Hydrophilus piceus die er im Frühjahr sorglich aufgefischt hatte, sie hatte schon längst ihre Bestimmung erfüllt. Die heißersehnten Lärvchen waren ausgekrochen, waren zu Larven geworden und durchkreuzten als gefräßige Haie die Tiefen, alles verzehrend, alles verschlingend, was ihre gierigen Zangen erwischten – jede Larve ein Behemoth, ein riesenhaftes Untier, ein Schrecken des durch spiegelblanke Scheiben gebändigten Ozeans. Bald kam ihre Stunde, bald mußten sie in den eingebetteten Rasenhügel hinein, um sich hier zu verpuppen . . . und wenn später die Sensen aufblitzten, eine heiße Sonne die Stoppelfelder versengte, wenn dann der erste Hydrophilus piceus . . . sollte das eine Freude werden, eine köstliche Freude!

Heute war Samstag, und es wollte Abend werden.

Der Aktuarius sah auf die Straße hinaus.

Weiße Wolkengebilde, licht wie blankgescheuerte Zinnkasserollen, standen hinter dem Altmännerhaus. Allmählich nahmen sie eine andere Tönung an, wurden rosenfarbig, dann blutig. Auf dem Kirchturm von Sankt Nikolai lag rotes Glühen, das immer höher und höher kletterte und schließlich den Turmhahn in goldenes Feuer verwandelte. Gleich blühenden Rosen senkte es sich auf Giebel und Dächer.

Drüben stand der weiße Mynheer in Zipfelmütze und abgetragenem Gehrock und mit brennender Kalkpfeife. Trotz des sommerlichen Wetters trug er Lammfellsocken und Holzschuhe, aus denen etliche Strohhalme hervorsahen. Mit seinen raschen Augen suchte er die Grabenstraße ab, bald hierhin, bald dorthin; ein Sperber, der über eine trostlose Heide revierte. Der Alte war menschenscheu. Als er alles sicher wähnte und keinen bemerkte, der ihm hätte unbequem werden können, verließ er seinen Auslug und spazierte gemächlich dem nahen Kesseltor zu, um sich noch in Gottes freier Luft zu ergehen.

Hinter ihm kräuselte sich ein bläuliches Wölkchen.

Das kleinstädtische Leben bröckelte ab. Die Arbeit ruhte. Nur vereinzelte Mädchen gingen noch vorüber. Sie kamen vom Bäcker, wo sie Mürbeteig, Korinthenwecken und andere Leckerbissen für den morgigen Sonntag eingeheimst hatten. Der gegenüber wohnende Nagelschmied löschte das Feuer auf der Esse, rückte einen bequemen Stuhl vor die Haustür und machte es sich auf den Binsen gemütlich. Er plauderte mit seinem Nachbar, dem Sattlermeister, über den Todesfall, der an der holländischen Grenze passiert war und bis weit ins Land hinein alle Gemüter erregte. Sie hatten's von dem Postillon gehört, der den gelben Wagen über Kleve nach Kranenburg führte. Scheinbar war's eine alltägliche Sache, ein Unglück, wie es häufig vorkam, aber die sonderbaren und geheimnisvollen Nebenumstände interessierten doppelt und dreifach.

»Ich meine doch, Kersken, Ihr habt ihn gekannt?« fragte der Nagelschmied.

»Das richtig,« versetzte der Nachbar mit sanftem Augenaufschlag, wobei er seinen langen Knebelbart streichelte, der ihm wie ein schmutziger Eiszapfen vom verwitterten Kinn hing.

»Wann war das?«

»So vor sechsunddreißig oder vierzig Jahren herum, in Kleve, als er bei meinem Meister 'nen Sattel bestellte.«

»Und Ihr habt ihn geliefert?«

»Ja, nach Millendonk hin. Ich selber besorgte die Sache, 'ne prima Arbeit, aber auch 'ne prima Behandlung. Alles vom nobelsten Ende herunter. Überhaupt Millendonk! Da kann ich nur sagen: 'n Schatto wie im Buche.«

»Und er wohnte da immer?«

»Bloß man zuzeiten. Meistens im Haag, denn sein Vater war Jonkheer van de Koning in Holland. Später ist er bei die Indianers und weiß Gott wo noch gewesen.«

Und jetzt: mortuus est, wie der Kaplan sagt.«

»Mortuus est,« bestätigte der Sattlermeister, machte eine schmerzliche Handbewegung und sah steif in den Abend.

Aloys Furtwanger hatte sich vom Fenster erhoben. Ein letztes, aber schönes und solennes Licht vergoldete den einsamen Mann und das einsame Zimmer, in dem allgemach die einzelnen Gegenstände wie verwunschen erschienen.

Zittrige Fädchen glitten über des weisen und hochgelehrten Johannes Fischart trefflich gebundene ›Flohhatz‹, die stets handgerecht lag, um aufgeschlagen und gelesen zu werden, rückten gegen die überkleisterte Berglehne und die Nürnberger Holzbäumchen vor, die diesen Hügel belebten, erklommen die Höhe, putzten sich besonders vornehm heraus und tauchten die Villa ›Springinsröckel‹ in einen Sprühregen von perlenden Fünkchen.

Hinter dem Türchen wurde ein lautes Klopfen vernehmbar.

Der Aktuarius lächelte.

»Gott ja, Springinsröckel!« meinte er still vor sich hin. »Vesperzeit! Das Kerlchen hätte ich ja beinahe vergessen. Kling, Klang und Gloria! wollen den Riegel mal forttun.«

Kaum war er damit fertig geworden, als die Hausglocke anschlug, gleich darauf ein bescheidener Finger anpochte und Drüke ihren Kopf ins Zimmer hereinschob, aber ganz zaghaft, behutsam, um ja keinen Anstoß zu geben.

»Herr Aktuarius . . .!« hauchte sie kaum hörbar, als gingen ihre Lippen auf Selfkantpantoffeln.

»Drüke, so offiziell?«

Ich bitte, gütigst exküsieren zu wollen, aber jemand ist draußen.«

»Wer ist denn gekommen?«

Sie stellte Daumen und Zeigefinger zusammen. Ihr fleischiges Züngelchen schnalzte.

»Was Extraordinäres, was ganz Extraordinäres und Feines. So was ist nicht alle Tage zu haben. Prall wie 'ne Forelle. Direktemang aus dem Sprudelwasser geangelt.«

Ihre Stimme war wie die eines Kätzchens, das hinterm Ofen spann und seine Silbertönchen durch seine Nase drehte.

»Der Herr Bürgermeister vielleicht? Ich glaube, ihn bei meinem Heimgang übersehen zu haben.«

»Ach Gott, der! Viel höher hinaus. Nellecke van Dornick ist draußen.«

Obgleich er einen warmen Düffelrock anhatte und der Abend noch immer die Stube mit wohligem Behagen erfüllte – in diesem Augenblick fror ihm das Herz unter dem Vorhemdchen.

»Ich lasse bitten,« sagte er mit besonderer Andacht, so wie im Beichtstuhl, ängstlich, verschüchtert . . . und als sie eintrat, als sie vor ihm stand in der ganzen Herbe und Frische und doch in der Befangenheit ihrer stolzen Jugend und eigenartigen Schönheit, als sich ihre Blicke begegneten, da war es ihm, als begönnen die Mobilien seiner Eremitage zu kreisen. Dielen und Decken schlossen sich an; die gläsernen Kästen und Kästchen wurden zu Spiegeln, zu Flimmerkristallen, die sich mit der grotesken Hast der Prismen und Steinchen in einem Kaleidoskop bewegten. Er wähnte in einem Karussell hundert und aberhundert Touren zu machen. Seine Sinne schwindelten.

»Nellecke – Sie?!« stammelte er durch dieses Schwanken und Schaukeln hindurch, noch völlig betäubt von dem jähen Wandel der Ereignisse. Erst Röschen Jungklaas, dann sein stilles Alleinsein, die Spiegelungen und Spiegelbilder, die es vermocht hatten, ihm das Gleichgewicht der Seele wieder zu geben, und nun . . . Das Glück, sie zu sehen, war zu unverhofft und unvermittelt gekommen, um von ihm noch als Glück geschätzt zu werden; es war wie ein Schrecken, der ihm die Glieder entkräftete.

»Nellecke . . .?!«

»Ja,« nickte sie ernst vor sich hin, »und 'nen schönen Gruß von Mamsell Röschen . . . und Mamsell Röschen schickt hier diesen Kuchen . . . und ich sollte bestellen, Sie möchten ihn in Fröhlichkeit und Gesundheit verzehren . . . und dann sagte sie weiter . . .«

»Nellecke, ich danke auch vielmals,« unterbrach er sie hastig, indem er seine Hand auf die ihrige legte, aber scheu und zögernd, wie ein Priester es tut, wenn ihm die Pflicht gebietet, mit reinen Fingern die geweihte Kapsel des Allerheiligsten zu umschließen. »Diese Güte und Aufmerksamkeit! Und Sie selber, Fräulein Nellecke, Sie selber haben sich der Mühe unterzogen . . .«

»Es ist gerne gegeben. Mamsell Röschen sagte: Tun Sie es mir zu Gefallen. Warum also nicht? hoffe aber: ich bin nicht ungelegen gekommen.«

»Das wäre noch schöner!« brach es freudig aus ihm heraus. »Mein Gott, das wäre noch schöner!« und er nahm dabei das zierliche Paket in Empfang, um es beiseite zu legen. »Wie kommen Sie nur auf diesen Gedanken? wo ich Ihnen zurufen möchte: ›Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht.‹«

»Ich versteh' das nicht, was Sie meinen,« sagte sie mit rührender Einfalt, »denn ich bin wohl nicht studiert und gebildet genug, den Sinn zu begreifen, aber ich sehe« – und ihre Blicke hafteten an den Wänden und Bücherregalen – »hier ist alles mit Sorgfalt zusammengetragen und mit Liebe geordnet. Es muß etwas Großes und Wohlgefälliges sein, auf diese Art sein Genügen und seinen Frieden zu finden. Nur fromme Menschen . . .«

»Nellecke, lassen wir das,« wehrte er ab, »wenn es mir auch Freude macht, solches aus Ihrem Munde zu hören. Aber in anderer Hinsicht . . . es erhebt das Herz und fördert die Andacht, Gott im Kleinsten zu suchen und seine Allmacht in ihm zu erkennen. Ach! und taten die Menschen mir weh, stieg irgend etwas in mir auf, das mein Gewissen bedrängte – ich gürtete mich, ging in die Felder hinaus, durch Ried und Röhricht, wo ich allein war und nichts zu mir redete als nur die Stimmen der großen Einsamkeit, und siehe: im Säuseln der Blätter fand ich befreundete Laute, im Schillern des hingehenden Tages leuchtete mir die Erkenntnis entgegen, in jedem Lebewesen, selbst im geringsten, erkannte ich meinen Herrn und sprach mit ihm als mit meinem Schöpfer und Heiland – und ging getröstet nach Hause.«

»Ach, wer das könnte!«

»Und das können Sie nicht?«

Sie schüttelte kaum merklich ihr Köpfchen.

Da fühlte er, was in ihrem Innern vorging.

»Nellecke, sind Sie denn noch immer nicht mit Ihrem Vater ins Klare gekommen?«

»Nein,« versetzte sie traurig, »und es ist auch nur geringe Hoffnung vorhanden. Sie kennen ihn ja. Ein Entgegenkommen meinerseits würde die Sache nur verschlimmern und den Riß noch vertiefen. Ich kann nicht mehr zu ihm. Er schweigt sich gegen jedermann aus und hat seine Pläne. Worin sie bestehen, ist mir verborgen geblieben.«

»Nellecke, bin ich vielleicht . . .

»Sie?« fragte sie ängstlich.

Er deutete auf eine kleine Wandkonsole.

»Dort,« sagte er mit sanfter Betonung, »steht Ihr Bild. Er hat es mir am Silvesterabend gegeben, und ich mache kein Hehl daraus: es ist mir wert und teuer geworden. Doch falls Sie es wünschen: wenn auch schweren Herzens . . .«

Seine Worte erstickten.

»Wäre Ihnen vielleicht gedient, wenn ich durch die Rückerstattung des Angebindes . . .«

»Nein,« versetzte sie ruhig. »Das nicht. Es würde Sie kränken, und was sich in lieben Händen befindet, soll auch in lieben Händen verbleiben. Ich muß schon alles der Zukunft und meinem Geschick überlassen.«

»Nellecke, Nellecke . . .

Mit seliger Inbrunst hatte er ihre Hände ergriffen. »Wenn ich doch helfen könnte . . . wenn ich doch dürfte . . .! Sehen Sie, Nellecke . . . wenn die Nebel sich zerteilen wollten . . . wenn ein freundliches und barmherziges Fatum . . . Nellecke, auf Händen würde ich Sie tragen . . . hinaus würden wir gehen . . . in Gottes freie Natur, wo die Ährenfelder aufrauschen und in den Wäldern des Ewigen Stimme wie eine Domorgel ruft . . . Nellecke, Nellecke! alles das würde uns mit dem Born seiner Liebe erquicken!« und er begann immer heißer zu stammeln, immer süßer und beschwörender . . . und doch waren seine Worte wie die eines Strauchelnden, eines Betörten. Die Stunden der letzten Silvesternacht warfen sich an ihn, auch die, die er mit dem Kapitän und Ewert in der ›Goldenen Kugel‹ in hellem Taumel verlebt hatte. Er sah den lieblichen Schein, der den mittleren Stammtisch umspielte. Er vernahm das Summen der Fliegen, das Klingen der Gläser. Moritz van Dornick stand vor ihm, in seiner ganzen Selbstgefälligkeit, mit feiertägigem Gesicht, in seinem blauen Jackett mit den vergoldeten Ankerknöpfen. Er hörte ihn sprechen, genau dieselben Worte wie damals: »Hier steht der Mann! Aktuarius a. D. . . . studierter Beamter . . . Jurist . . . pensioniert und alljährlich tausend Taler noch extra . . . Ewert, jetzt deine Meinung, aber offen und ehrlich.« Und Ewert erhob sich: »Ich kann mir nicht helfen, aber das muß ich sagen: Aloys Furtwanger for ever! Hoch soll er leben!« – und in dieses ›Hoch soll er leben‹ tönte jählings ein verzweifelter Angstruf, ein lautes sich Wehren und Sperren.

»Um Himmels willen, Nellecke, was ist denn?! Was haben Sie nur?«

Sie stand wie entgeistert neben der hellen Kommode aus Kirschbaumholz und stierte entsetzt auf die Villa ›Springinsröckel‹, die in den letzten Farben des müden Tages erglühte.

Er sah, was passiert war.

»Bitte, warten Sie, seien Sie ruhig! Keine Erregung. Warten Sie, bitte!« und er streckte die Hand, wobei er Daumen und Mittelfinger sacht gegenüber stellte, ganz in Andacht versunken vor der Schönheit des lieblichen und verängstigten Mädchens.

Der leichtgewellte Ansatz ihrer jungen Brust hob sich verführerisch aus dem tiefen Ausschnitt ihres Kattunkleides. Er glaubte, ein Wunder zu sehen, das sich geheimnisvoll auf und nieder bewegte. Die seltsame Verknüpfung von Lust und Gefahr, von Seligkeit und scheuem Empfinden machte ihn trunken, umhauchte ihn wie der Duft von roten Rosen in schwülen Sommernächten. Er war nicht Herr mehr über seine fordernden Sinne. Er wähnte durch die Leidenswoche des Herrn und dann wieder durch einen weißen Sonntag zu taumeln. Aus einem verängstigten und geduckten Wesen war er zu einem begehrenden Menschen geworden, der die Geißelungen der Liebe doppelt und dreifach durchlebte. Nur – seine Willenskraft lag gefesselt am Boden. Dann aber . . .

»Bitte, warten Sie, bleiben Sie ruhig. Pulex irritans. Bitte, da sitzt er!« und als er ihre junge Brust berührte, um den braunen Kavalier aus der Villa ›Springinsröckel‹ von seinem elfenbeinernen Thron zu heben, hatte er das schmerzliche Gefühl eines elektrischen Schlages. Er war wie verstört, kaum fähig, sich auf den Füßen zu halten. Die Sünde erhob sich, drückte ihn in einen Sessel und stierte ihn mit gelben Augen an wie eine Harpyie. Mit kalter, leichenfarbiger Hand fuhr sie ihm über die Stirne.

»Mein Gott!« stöhnte er auf und bedeckte sein Antlitz. Seine Fibern brannten. Eine Flucht von wirren Ideen zermarterte sein Hirn. Nellecke war nicht Nellecke mehr; sie wurde zum Gefäß seines Verlangens, zur Göttin, zu einer strahlenden Buhle, die er mit heißen Gedanken zu entkleiden gedachte, um vor ihrer hüllenlosen Schönheit nieder zu knien und sie im Staube anzubeten. O domina mea! Er gehörte zu denen, die sterben müssen, wenn sie ein solches Weib verlieren. »Ach, du . . . du . . .!« stammelte er durch das Rauschen seines aufgepeitschten Blutes.

Nellecke, die in all dieser Zeit wie leblos gestanden, sah erregt auf ihn nieder, kaum wissend, welche Leidenschaften die Seele dieses Mannes durchwühlten. Nur ein verlorenes Ahnen stieg in ihr auf, ein Mitgefühl, ein leises Verstehen, das ihre Züge verklärte.

»Herr Aktuarius,« sagte sie, wieder gefaßt und ruhig geworden, »jetzt kann ich wohl gehen.«

Er sah sie mit toten Blicken an.

»Ja, das können Sie,« versetzte er mit einer traurigen Geste. »Gehen Sie nur . . . gehen Sie nur . . .« um mit einem herzzerreißenden Ton weiter zu sprechen: »Ich habe bereits zuviel geredet. Ein Wort hätte genügen müssen, ein einziges Wort nur. Ach, wenn Sie wüßten! Aber gehen Sie nur . . . es ist besser für heute . . . viel besser . . . und grüßen Sie alle!«

Er fiel in sein voriges Brüten zurück, doch hörte er noch: ihre Schritte entfernten sich langsam, wie zögernd. Dann nichts mehr.

Er war allein in der Stube. So ganz allein . . . und doch nicht allein . . . Glockenklänge waren bei ihm . . . Jubelrufe von Sankt Nikolai, die den Abend einläuteten. Und sie läuteten den ›Engel des Herrn‹: »Gegrüßet seist du, Maria! Der Herr ist mit dir; du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.«

Und »Amen!« sangen die Glocken, »Amen, Amen, Amen!«

Es war eine große und heilige Feier zwischen Himmel und Erde, und diese große und heilige Feier zwischen Himmel und Erde wäre noch versöhnlicher und schöner gewesen, hätte nicht jemand gegen die Scheiben geklopft und mit salbungsvoller Stimme gerufen: »Holla, heda, Kollege! ich melde mich gehorsamst zur Stelle.«

Der Aktuarius fuhr auf.

»Wo bin ich?! Wer ruft mich?! Wenn ich nicht irre: das ist die Stimme des Herrn Sekretarius Tibus,« und als er ans Fenster stürzte, klang es ihm zu: »Wenn's Ihnen recht ist, können wir ja die amtliche Sache auf 'nem kleinen Spaziergang bereden.«

»Allemal,« gab der Aktuarius zurück, jetzt wieder der Alte, und das soeben Durchlebte hinnehmend, wie er es wünschte: als den Fingerzeig des Schicksals und eine Fügung des Unvermeidlichen. Dabei fiel sein Blick auf die Villa ›Springinsröckel‹, auf die niedliche Einsiedelei aus Kartenblättern, jetzt im schummerigen Licht des Abend ruhend und wieder bewohnt von dem kleinen Ausreißer, dem munteren Akrobaten und Feinschmecker, dem fidelen Kavalier im schnupftabakfarbigen Leibrock, der sich durch ein vergnügliches Klopfen bemerkbar machte und offenbar den Genuß seiner gewagten Exkursion noch einmal durchkostete.

»Der Glückliche!« meditierte Aloys Furtwanger mit geschlossenen Augen. »Springinsröckel, dir ist Heil widerfahren, denn dir wurde vergönnt, was noch keinem vergönnt war. Du setztest deinen Fuß in das Land der Verheißung, in ein köstliches Dorado, in ein seliges Eden, von dem uns das Hohe Lied Salomonis verkündet. Du konntest wandeln durch den Garten des Paradieses, der von Milch und Honig überfleußet. O diese Myrrhenhügel, dieses verschwiegene Tälchen, dieses bräutliche Tempe mit seinen Narden und Würzen! O diese Wonnen!« und er senkte nachdenklich den Kopf, nahm Stock und Hut, verließ sein trauliches Zimmer und gesellte sich dem Herrn Sekretarius Tibus, der draußen mit tönenden Schritten auf und ab patrouillierte.

Gemeinsam gingen die beiden Herren dem Kesseltor zu. Von dort aus gedachten sie ihren Spaziergang durch die blühenden Wiesen zu machen.

Hier angekommen, meinte Aloys: »Nun, mein lieber Herr Sekretarius, wie lautet Ihr Auftrag?«

»Pst!« sagte dieser. »Gleich, gleich! Warten Sie noch,« und seine Sprache, die sich im gewöhnlichen Leben höchsteigenhändig mit Benzoe und starker Pomade zu salben pflegte, wurde zu einem erzwungenen Flüstern. Dabei deutete er mit seinem eschenen Bakel auf einen ungeselligen Mann, der plötzlich vor ihnen auftauchte.

Von einer Weidendeckung gesichert, traten sie näher heran. Jetzt konnten sie sehen . . .

Es war der weiße Mynheer, der bei dem Vorwerk auf der Deichkrone wurzelte.

Alles Sonnenlicht war von hinnen genommen. Nur der Westen lag noch in einem matten schwefelfarbigen Leuchten. Wie ein Schattenriß hob sich Johannes Terstegen von der Goldfolie ab. Die schwarze Gestalt mit der weißen Zipfelmütze wuchs in den Himmel hinein.

Er sah in die Gegend, wo Obermörmter ungefähr liegen mochte.

Jetzt hob er die Arme, jetzt sprach er: »Tröste dich, meine Seele! Gedulde dich und harre des Herrn. Er hat noch keinen verlassen. Lambert, Lambert, auch deine Stunde wird kommen!« und dann – obgleich er ein Katholischer war, er sang das Lied, das Gustav Adolf und seine Schwadronen unter Paukenwirbel und Trompeten sangen, als die Aktionen bei Lützen einsetzten. Und also sang Johannes Terstegen:

»Verzage nicht, du Häuflein klein,
Obschon die Feinde willens sein,
Dich gänzlich zu verstören,
Und suchen deinen Untergang,
Davon wird dir recht angst und bang;
Es wird nicht lange währen.«

Hierauf ging er langsam der Stadt zu.

* * *


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