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Gleichzeitig mit dem Rufen des Posthorns rumorte und klingelte es in dem altmodischen Uhrkasten, der sich in der weißen Stube breit machte.
Diese Kastenuhr, langbeinig und verschnörkelt aufgepflanzt und mit galanten Marqueterien versehen, war eine Rarität erster Ordnung, von der die Sage ging, sie sei von Vredeman Vriese erbaut und durch einen Zufall von den Niederlanden in die hiesige Gegend gekommen – und wenn die Erzählung des weißen Mynheers nicht trog, so war die Überführung folgendermaßen geschehen.
Als die alte Orgel in Sankt Nikolai abständig wurde, beriefen Magistrat und Kirchenvorstand den Meister Arnold Thormanns aus Utrecht, willens, ihm eine neue in Bestellung zu geben. Dieses geschah auch. Meister Arnold nun, ein gewaltiger Könner und Pfeifensetzer, schien den Weibern nicht abhold, und da die Frau des Küsters nicht zu den alltäglichen Frauen gehörte und wiehern konnte wie ein jähriges Füllen, begab es sich, daß der niederländische Orgelmann mehr bei dieser Gefallsüchtigen anzutreffen war als bei der ihm aufgetragenen Arbeit.
Der Küster und Kerzenzieher jedoch, schwach bestellt im Weinberge des Herrn, dafür aber ausgerüstet mit einem polternden Maulwerk, auch sonst gut beschlagen in allen Dingen und Obliegenheiten, die einem wohlbestallten Kirchendiener geziemen, bekam Wind in die Nase, ertappte die beiden bei ihrem vergnüglichen Schaffen, und da die Zeit der kleinstädtischen Phryne sich zu erfüllen begann, das Orgelwerk jedoch nur erst wenige Pfeifen aufgesteckt hatte, rumpelte er los, wetterte wie der Olympier im Donnergewölk, bezähmte sich aber und machte nach einigem Überlegen schließlich diesen Vorschlag: entweder gegen ein erkleckliches Schweigegeld die abwegige Frau in Ehren bei sich zu behalten oder aber Spektakel im Kirchspiel zu machen und zu schreien wie ein abgeschlagener Hirsch auf der Brunftstätte.
Entweder – oder! und dieser dringlichen Alternative war Rechnung zu tragen.
Damals hüpften indessen die blanken Speziestaler nicht wie die Spatzen umher, waren so rar wie die unbeschnittenen Juden, und da Meister Arnoldus es hinsichtlich der klingenden Münze mit jedem Kirchenmäuserich aufnehmen konnte, kam er auf den verzweifelten Einfall, die ihm durch letzten Willen zugefallene Kastenuhr von Vredeman Vriese dem tollwütigen Hahnrei in den Rachen zu schmeißen.
Sie wallfahrtete denn auch von Utrecht in die hiesige Gegend, wurde in der Besten Stube montiert und betickte von nun an den ehelichen Frieden.
Der Küster rieb sich die Hände. Er hatte gut kalkuliert, behielt seine gierige Henne und bekam noch die Uhr und 'nen pausbäckigen Jungen als Draufgeld. Meister Arnoldus, obgleich noch habeloser als früher, wußte sich weidlich zu trösten, rieb sich gleichfalls die Hände, baute gemächlich an seinem Orgelwerk weiter und genoß ein vorsichtiges Glück in den Grasgärten und benachbarten Roggenfeldern, die voller Mohn standen und voll himmelblauer Zyanen. So war denn alles wieder in promptester Ordnung. Die christkatholische Gemeinde war um ein Spektakel ärmer geworden, und der befriedigte Kantor schrie nicht wie ein abgeschlagener Hirsch auf der Brunftstätte.
Durch Erbschaft gelangte das seltene Prunkstück in die Familie Terstegen.
Nun stand es in der kalkigen Stube des weißen Mynheers und sagte die Zeit an.
Auf dem merkwürdigen Kasten selber hatte der Künstler die lieblichsten Dinge verewigt, meistens biblische Szenen. Da waren zu sehen: Joseph und die lüsterne Frau des ägyptischen Kämmerers, Loth und seine geschäftigen Töchter, David am Fenster, das badende Weib seines Feldherrn betrachtend, die beiden Herren mit den Hängelöckchen und den wulstigen Lippen, ein Brennglas vor den eingekniffenen Blicken, um Susanne bequemer vor Augen zu haben, und anderes mehr . . . und dennoch das beste: jedesmal wenn die Stunde voll ausschlug, spazierten die vier Evangelisten am Zifferblatt vorüber, wobei jeder einen Buchstaben stammelte; so Markus ein A, Matthäus ein M, Lukas ein E und Johannes ein N, was man, alles zusammengenommen, als ›Amen‹ ansprechen konnte. Dann verschwanden sie wieder . . . eine sinnige Ovation für die vier Historiographen, die der alte Herr in Gestalt von Fuchsienstämmchen in glasierten Scherben hegte und pflegte.
Kurz, Vredeman Vrieses Meisterschöpfung hatte soeben achtmal geschlagen, und die aus Messingbronze getriebenen Herren hatten ihr ›Amen‹ dazugesprochen, als Johannes Terstegen seine Zipfelmütze durch den Türspalt schob und in den bitterkalten Hausflur hinauskrähte: »Dores, wir müssen jetzt anrichten und das Gastmahl bestellen!«
»Gleich!« gab van Bommel zurück, und keine fünf Minuten vergingen, da wurde das frischgewaschene Tischtuch über die lange Tafel gespreitet, mit Tannenzweiglein und Stechpalm geziert, saftgrün und mit knallroten Beeren besprenkelt, eine Anleihe aus dem benachbarten Gemeindebusch, die der Kalfakter auf sein Konto genommen hatte, ohne dabei von der bewaffneten Macht, in der Person des Feldgendarmen, erwischt und ins Kittchen gesteckt worden zu sein.
Hierauf setzte der würdige Herr mit dem Straußeneikopf den Wasserkessel aufs Herdfeuer, brachte neue Scheite zu und begann eifrigst zu blasen, während der Alte in seiner Anrichte kramte, um die verschiedenen Ingredienzien und Gläser zusammenzustellen.
Dabei äugelte eine milde Lichtquelle von der weißgekalkten Decke herunter, grüßte die illuminierten Kupfer und rückte die biblischen Fabeln auf dem schmucken Uhrkasten von Vredeman Vriese in die rechte Beleuchtung.
Die ganze Stube des weißen Mynheers war in eine weiße Silvesterstimmung getaucht. Weiß waren die Winde, weiß das Tisch- und Tafelzeug, weiß die Vorsetzer, und ein weißer Schneeabend sah mit weißen Augen durch die blanken Scheiben ins Zimmer, woselbst die weiße Zipfelmütze des weißen Mynheers auf- und niederpendelte, als gölte es, den sanften Pendelschlag, der so viel des Heimlichen vom Meister Arnold und der üppigen Küsterfrau zu erzählen hatte, sachlich und schön zu begleiten . . . und über Spreite und Stechpalm, über Kessel und Herdfeuer schwebte die weiße Seele des weißen Mynheers, alles segnend, alles begrüßend, wie die schleierweiße Taube aus dem Himmelreich, die gekommen war, um die reine Jungfrau aus dem Stamme Davids freundlich und still zu beschatten. Der ganze Aufbau nahm seinen regelrechten Verlauf, und als nun das Feuerchen immer lustiger prasselte und sich bereits ein feines Sumsen im Kessel erhob, als Johannes Terstegen wie ein Geier mit ausgeblaßten Augen über die Tafel vigilierte, ob alles der Ordnung gemäß sei, fragte van Bommel: »Mynheer, wie soll die Placierung angesetzt werden?«
»Dorthin,« sagte Johannes, und er deutete mit der Messerspitze, womit er die letzte Zitrone abgeschält hatte, auf das äußerste Tischende, »dorthin den Stuhl für Moritz van Dornick. Er ist aus schierem Eichenholz, hat eiserne Bänder und geht nicht aus Leim und Furnierung, selbst wenn sich ein Rheinschiffer drauf setzt.«
»Wird gemacht,« entgegnete Dores und stellte den Stuhl hin. »Jetzt aber man weiter,« und erwartungsvoll sah er den Gastgeber an.
»Hier, dem Kapitän gerad gegenüber, komme ich hin und zwischen uns beide Nellecke und Lambert Terstegen.«
»Und kommen?« fragte Dores van Bommel.
»Warum nicht? Mein Sohn ganz bestimmt, denn er hat mir noch gestern geschrieben; ein fünftes Gedeck wird für den Aktuarius in Reserve gehalten.«
»Er soll ja in Millendonk sein.«
»Ist er; macht aber heute Abend retour, und ich will Kopf und Kragen verwetten: er wird zu meinem Gastmahl erscheinen wie ein Gerechter des Herrn, denn er ist gläubigen Sinnes und simuliert eifrigst darauf, Frieden mit mir und meinem Hause zu machen; denn geschrieben steht: Unfried verzehrt, Friede ernährt. Wir wollen einen neuen Freundschaftsbund schließen; und aufsteigen soll er wie ein Rauch vom Ofen, wie Christus seinem Grabe entstieg, um mit 'nem Heiligenschein gen Himmel zu schweben. So werden wir Geist und Klugheit finden, die Gott und Menschen gefallen. Der Aktuarius ist bedachtsam und voll des Verstandes, und verzeichnet ist im Buche der Sprüche: Wer mit den Weisen umgehet, wird weise; wer aber der Narren Geselle wird, der wird Unglück haben. Ich will nicht ins Unglück geraten. Und somit: halte Stuhl und Gläschen bereit; er wird schon erscheinen und soll gefeiert werden wie der Besten einer, so meiner Tafel die Estimierung erweisen.«
Die lange Erwägung hatte einen blinkerblanken Tropfen an die Nasenspitze geschoben.
Kurzer Hand knipste er ihn fingerfertig herunter.
»A la bongkör!« sagte Dores, rückte die Stühle zurecht und stellte das vorgesehene Gedeck sorglich beiseite, als es gegen die Stubentür polterte und Moritz van Dornick mit einem ›Allright‹ und einem kräftigen ›Melde mich gehorsamst zur Stelle‹ ganz unvermittelt die adrette Stube beehrte.
Und wie sah er aus! Völlig in Gala: in bester Montur, die goldbetreßte Kapitänsmütze schief auf dem Kopf, ein Bordmesser im Gurt, mit Perspektiv und blankgeputzten Ankerknöpfen und in jedem Arm eine extrafeine Bouteille mit Arrak.
So gut er konnte, versuchte er es, die rechte Hand an den Rand der galonierten Mütze zu bringen.
»Johannes, hier bin ich.«
»Was Teufel! so früh schon?«
»Allerdings etwas zeitig, und außerdem habe ich noch zwei Komparenten ins Schlepptau genommen. Johannes, nimm's mir nicht übel, aber die Macht der Verhältnisse, über die ich keine Kontrolle besitze, der Umstand, der mir zwei Angestellte aus dem Hause Harkopp & Söhne unter die Sparren schneite, machte es mir zur heiligsten Pflicht, ja, ich darf wohl sagen, zur äußersten Notwendigkeit, deine bewährte Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Aber drum keine Bange, mein Lieber. Die Tatsache besteht. Das Haus Harkopp & Söhne hielt es für nötig, mir zwei Abgesandte zu schicken. Damit nun aber dein vorgesehener Pegelstand, um hierbei eine seemännische Benennung flott zu machen, keinerlei Abbruch erleidet, habe ich mir gestattet, dir zwei Bouteillen Arrak, prima Qualität, und zwar Batavia-Arrak, zu stiften. Hier sind sie. De Koning van Holland trinkt immer von der nämlichen Sorte. Kapitale Ware! Nicht mehr zu haben. Selbst nicht in den feinsten Destillen . . .« und er schob die beiden Flaschen auf das gespreitete Tafeltuch.
»Also nichts für ungut, Johannes.«
»I, wo werde ich denn! Äußerst willkommen. Immer man zu, meine Herren. Dores, zwei frische Gedecke!« und als der Kalfakter den Auftrag besorgte und dabei die bunten Etiketten der Neuangekommenen Pullen studierte, stellte Moritz mit einer gewissen Grandezza vor: »Hier – Ewert, mein Sohn.«
»Ah! auch mal wieder im Lande!« krähte Terstegen. »Ich sehe: alles vom obersten Ende. Ja, ja, den Seinen gibt's der Herr im Schlafe. Nur immer zugegriffen, und der Erfolg wird nicht fehlen.«
»Ich danke,« entgegnete Ewert und drückte sich etwas scheu in die Ecke, in die Nähe der großen Kastenuhr von Vredeman Vriese, die so angenehm tackte.
»Und hier,« sagte Moritz, und ein untersetzter, verschüchterter Herr in großgemustertem Buckskin, der eifrigst dabei war, seine spärlichen Sardellen ordnungsgemäß nebeneinander zu pflastern, ließ sich gottergeben von dem derben Kapitän in das Fahrwasser des weißen Zimmers bugsieren . . . »und hier,« meldete Moritz mit selbstgefälliger und erhobener Stimme, »mein Freund und Gönner . . . aber bitte, wie heißen Sie doch?«
»Pirrwitt, Archibald Pirrwitt, gütigst zu sagen.«
»Natürlich!« rief Moritz. »Und hier mein Freund und Gönner Herr Pirrwitt, der Stamm und die Stütze des Hauses Harkopp & Söhne, wohlbewandert in allen Zweigen des großen Hauses und eine Koryphäe des binnenländischen und überseeischen Handels.«
Herr Pirrwitt krümmte sich wie eine Weidengerte, die ein Korbmacher hin und her zwirbelte, um sie geschmeidig zu machen.
»Selbstverständlich! Wozu diese Bescheidenheit? Ihr Ruf ist bekannt. Den ostindischen Maskopeien standen sie vor. Waren in Makassar und Java, und wo Sie Hand anlegten, blühte die Sache.«
Dem weißen Mynheer fuhr die Ehrfurcht direkt in die Knie, während der Mann im großgemusterten Buckskin Blutstropfen schwitzte.
»Aber, Herr Kapitän, ich möchte ergebenst darauf aufmerksam machen . . .«
»Gewiß, gewiß,« sagte Moritz. »Man kann ja die verzwickten Namen nicht alle behalten. Aber auf den Faktoreien von Jamaika und Kuba sind Sie sicher gewesen. Auch haben Sie im Interesse des Hauses Harkopp & Söhne mit den Gebrüdern Schlagintweit den Popocatepetl bestiegen. Zwanzigtausend Fuß über der ebenen Erde, wenn nicht noch höher.«
»Herr Kapitän, das ist ein begreiflicher Irrtum,« wehrte Herr Pirrwitt ab. »Ich habe niemals den Popocatepetl gesehen, bin niemals in seinen Regionen gewandert.«
Wie zähes Öl liefen ihm die Schweißtropfen von den Schläfen herunter.
Moritz legte ihm großartig die Hand auf den Scheitel.
»Möglich, daß ich mich irre, denn in meinen Jahren kann man die Berge verwechseln. Aber das ist gewiß: auf dem Mount Everest und dem Kilimandscharo sind Sie gewesen, haben dort nach mühseligem Kampfe und forschem Voran die schwarz-weiße Flagge gehißt, um auf diese Weise das so eroberte Land für das Haus Harkopp & Söhne als Tabak- und Kaffeeplantagen pflichtig zu machen. Und das ist eine Tat, eine heroische Tat . . . die wird Ihnen niemals vergessen.«
»Mein Gott, mein Gott!« stöhnte der Weitgereiste und sah verzweifelt zur Decke.
»Kurzum und trotzalledem,« beschloß Moritz seine Vorstellung, »ein positiver Mann, ein Mann von Bedeutung steht vor uns, eine Stütze des Handels, eine Säule Merkurs, ja, man könnte ihn einen Königlichen Kaufmann nennen, wenn er es annehmen würde. Aber er ist zu bescheiden dazu. Denn wahre Größe ist immer bescheiden. Ich aber, ich tue es dennoch, ich reihe ihn der Kategorie derjenigen Kauf- und Handelsherren an, die das schmückende Beiwort ›Königlich‹ beanspruchen können, und halte zu ihm bis zum letzten Knochensplitter. Und du, Johannes, kannst dich glücklich schätzen, ihn zwischen deinen vier Pfählen zu wissen.«
Das tat auch der weiße Mynheer.
Beide Hände hielt er ihm freudig entgegen und hieß ihn herzlich willkommen.
»Aber, meine Herren,« dienerte Archibald Pirrwitt im Kreise herum, »wie komme ich dazu, so gefeiert zu werden?! Wo soll ich das hintun? Das wurde mir nicht an der Wiege gesungen. Herr Kapitän, dieser Dithyrambus, der eigentlich zu vollkröpfig ist, um auf eigenen Beinen zu stehen – ich weise ihn von mir. Und Sie, Herr Terstegen . . . Einen wildfremden Menschen fangen Sie ein, so mir nichts, dir nichts, um ihn an ihrer wohlgespreiteten Tafel zu laben. Das ist äußerst, aber äußerst, Herr Terstegen, weil ich keinen andern Ausdruck mehr finde,« und nun erzählte der kurzgedrungene und gutmütige Herr in großgemustertem Buckskin, er sei zwar ein gewissenhafter und solider, aber nur ein bescheidener Angestellter der Firma. Er habe eine schwere Jugend durchlebt, habe den richtigen Dreh nicht finden können und sei dieserhalb Junggeselle geblieben. Das Geschäft sei ihm alles. Den gepolsterten Drehbock habe er von jeher als den springenden Punkt seines Daseins betrachtet. Er hantiere bloß mit Kaffee, Zucker und Tabak, wenn auch in mächtigen Ballen und Säcken. Allerdings, er sei in seinem Leben nicht müßig gewesen. Auch das wolle er hinnehmen: das Haus Harkopp & Söhne habe ihm manches zu danken, weil er allzeit darauf sähe, das Interesse des Geschäfts in jeder Beziehung zu wahren. Im allgemeinen jedoch sei er nur ein kleines Rädchen im großen Betriebe der Handlung. Herr Harkopp selber führe das Zepter, und er wolle nur hoffen, daß auch Ewert sich bewähren möge, um dereinstens ein Mann wie der Chef des Hauses zu werden.
»Wollen wir, wollen wir!« rief Moritz begeistert dazwischen, »Platz genommen . . . eingeschunken . . . und Gläser heran . . .! Aber Kreuzkuckuck nochmal, Johannes, wer fehlt noch?«
Mit seinen lichten, vergißmeinnichtblauen Augen musterte er das Arrangement, die anwesenden Gäste, die Stühle, die aufgesetzten Gedecke und zählte sie immer wieder, um ja keinen Rechenfehler zu machen.
»Kreuzmillionen und kein ehrliches Ende! beispielsmäßig, mein lieber Johannes, wo ist Nellecke denn?«
»Je!« meinte Terstegen, »eingeladen ist sie, und ich denke auch, sie wird wohl noch kommen. Aber wie die Weiber so sind . . . immerzu Ausflüchte und Vorwände. Indessen: ich habe erst zu neune gebeten.«
»Und Lambert? Er kommt doch? Es jährt sich beinah, daß ich ihn und Nellecke unter dem gipsenen Nähr- und Pflegevater erwischte. Seitdem ist er nicht mehr über unsern Bordstein gestolpert. Ich denke jedoch, du hast ihm geschrieben, daß wir uns wieder in der alten Freundschaft befinden?«
»Moritz, das hab' ich und dabei noch mancherlei durchblenkern lassen.«
»Bonus! und was ich dir sagte, genau, was ich auch Nellecke sagte: Ich hebe nicht die Hand wider ihn . . . ich fluche ihm nicht . . . ich lege ihm keinen Stein in den Weg. Meine Tür steht ihm offen . . . das hast du ihm doch gleichfalls geschrieben? wenn ich auch hinzufügen mußte: es gibt eine Liebe . . .«
»Kein Wort ist vergessen.«
»Einverstanden! und wenn erst der Aktuarius anrückt . . .«
Und Moritz sah sich um, als sei er der Veranstalter des heutigen Abends, als sei er, abgesehen von den zugebrachten Buddeln Arrak, auch noch der Spendierer des prächtigen Rotweins, überhaupt der Donator. Und er streifte seine Kapitänsmütze so forsch in den Nacken und dabei so flott auf die Seite, als sei so ein niedlicher Sturm von Nordost zu erwarten, stellte sich steifbeinig hin, just so, als wenn er sich auf seiner Kommandobrücke befände, klatschte in die Hände und jauchzte: »Kinder, Kinder, Johannes, Dores und ihr zwei aus dem berühmten Hause Harkopp & Söhne, soll das heute 'ne Silvesternacht geben! Kinder, Kinder! und wenn die anderen erst kommen . . .« und er sah in den brodelnden Kessel und sog den Duft ein und schmunzelte: »Johannes, dein Weinpunsch ist fortepiano und von 'ner ganz besonderen Schwungkraft. Nur noch die beiden Bouteillen 'rin, die ich mitgebracht habe, und sei überzeugt, von deinem pompösen Gebräu würde auch der alte Herr Stinnes, Gott habe ihn selig, genießen. So! und jetzt an die Ramme, das heißt auf die Stühle, eingeschunken, und das erste Glas dem weißen Mynheer, unserm allverehrten und lieben Johannes!« und das erste Klingen lief frei und froh durch die warmdurchkachelte Stube und die weiten Flure des Altmännerhauses . . . und es war noch nicht neun . . . und es fehlten noch die, die vor allen Dingen bestimmt waren, das fröhliche Gläserläuten zu hören und ein gefährdetes Glück heil und ohne Schiffbruch zu leiden über die Schwelle der Jahreswende zu tragen.
* * *
»Muß i denn, muß i denn . . .«
Das Lied war längst verklungen, der gelbe Postwagen unter die Remise gezogen und das Rotschimmelpaar ausgesträngt und eingestallt worden. Der Postillon selber, nachdem er das schön gerundete Horn mit der schwarz-weißen Bequastung über den Nagel gestreift, die Gäule abgefüttert und getränkt hatte, machte auch seinerseits Anstalten, für heute bequem und gemütlich in das Paradies des wohlverdienten Nichtstuns zu gleiten. Mit verklammten Händen und Beinen stakelte er seiner kleinen Behausung zu.
Hier angekommen, fand er sein ärmlich, aber proper gekleidetes Weib vor und seine drei halbwüchsigen Kinder, die mit großen und verlangenden Augen in den Abend hinaussahen.
»Na, Frau,« sagte er lachend, »was soll aus uns jetzt werden, aus dir und mir und den Gören?«
»Wie meinst du das, Welm?«
»Frau, ich sollte doch denken . . . sechs Stunden auf dem Bock . . . hin und retour . . . bei dieser barbarischen Kälte . . . und außerdem, wenn ich nicht irre: das alte Jahr geht zu Ende, und ein neues will kommen . . . und da wäre es doch so zu sagen bekömmlich, wenn wir fünf all' miteinander . . .«
Er schwieg, aber sein Blick lief nach dem spärlichen Herdfeuer hin, das nur ängstlich knisterte und nicht die Freude hatte, die Wandungen eines blankgescheuerten Kessels verheißungsvoll zu umspielen.
»Mutter, ich meine . . .« und er tat so, als wäre es ihm vergönnt, ein dampfendes, steifes und duftiges Punschglas hinter die Binde zu gießen.
Die Frau lächelte bitter. Helle Tränen waren ihr dabei in die Augen getreten.
»Ach, du! wie gerne! wie gerne hätte ich dir und mir und den Kindern dieses Pläsier zukommen lassen. Aber wir stehen am Ende des Monats. Die Zeit ist erbärmlich, und mein letztes Nähgeld kann ich erst übermorgen empfangen. Den ganzen Tag habe ich darüber nachgedacht, irgendwas Blankes aufzutreiben. Indessen, wie die Kunden so sind: sie wollen erst im nächsten Jahre bezahlen. Und so kam es denn: ich habe nichts mehr im Kasten.«
»Aber ich!« rief Welm, so hell wie der Klang seines Posthorns, griff in die Tasche und warf drei harte, blitzneue preußische Speziestaler auf die Tafel des Hauses . . . Alle erstaunten.
Die ärmlich, aber proper gekleidete Frau wurde zu Salz, schmolz aber gleich darauf in seliger Freude dahin und legte dankbar die Hände zusammen.
»Welm, wer war es?« fragte sie glücklich. »Wer ist der Spendierer?« und alle wohlgesinnten Notabeln des Städtchens, vom Notar über Herrn Nikola Tibus bis zum Plümeranten hinunter, hatten vor ihren geistigen Blicken Revue zu passieren. Aber sie fand keinen Ausweg, und wiederum bat sie: »Nun sag' mal, wer war's denn?«
»Ratet mal, Kinder!« rief der postalische Krösus, klemmte ein Geldstück als Einglas ins Auge und ließ die übrigen gegeneinander klimpern wie silberne Glöckchen.
»Der heilige Mann!« erklärten die beiden ältesten wie aus der Pistole geschossen.
»Falsch!« lächelte er und ließ das Einglas herunter.
»Der Herr Polizeidiener Brill,« rief der jüngste, der knirpsige Drickes. Er hatte eine besondere Anschauung und einen gewaltigen Respekt vor der Omnipotenz der bewaffneten Macht im karmoisinroten Kragen, denn er war einmal Zeuge gewesen, wie dieser Herr Gelegenheit hatte, einen versiegelten Beutel mit Geld vom Rathaus zum Postamt zu tragen. Aber auch er war des Rätsels Lösung nicht auf die Sprünge gekommen, und als Welm dann seine verhärmte, aber noch immer anmutige Frau anschaute, da legte diese den Kopf an die Brust ihres Mannes und sagte ganz leise: »Du, ich glaube den lieben Geber zu kennen. Vor einer halben Stunde ging er vorüber. Er kam von der Post, war ein kleines Männchen und hatte einen Reisesack bei sich. Für gewöhnlich wird er von den Leuten Springinsröckel geheißen. Habe ich recht?«
»Recht hast du, klares, offenes und sonniges Recht! Springinsröckel heißt er . . . und Aktuarius war er . . . und ein Menschenbeglücker ist er und bleibt er für immer. Kinder, und wenn nachher die warmen Gläser zusammen klingen, wenn die Glocken läuten und zwölf ernste, dumpfe und feierliche Schläge über die Stadt gehen – Kinder, was werdet ihr dann singen und rufen?!«
Und wie auf Kommando jubelte es durch die vier kahlen Wände: »Der Aktuarius – Hurra und vivat! Alles Schöne im neuen Jahre, Glück und Gesundheit! Gott segne uns samt und sonders und all' miteinander!« und während noch die frohen Kinderstimmen ertönten und Welm und Frau des gütigen und wohlwollenden Mannes in inniger Verehrung gedachten, beschäftigte sich der Gefeierte damit, seinen Reisesack auszupacken, die entnommenen Sachen an Ort und Stelle zu legen und die während seiner Abwesenheit eingegangenen Briefschaften zu lesen und zu sortieren.
Auch eine Einladung von Johannes Terstegen lag vor.
Gut! ein Stündchen oder zwei wollte er hingehen, den eigentlichen Glanzpunkt des heutigen Abends jedoch mußte er bei Röschen Jungklaas verbringen; das war seine Absicht. Darüber hatte er schon während der Rückfahrt nachgesonnen, tat es auch jetzt noch, und als er so nachsann und gerade dabei war, die Läden vorzulegen, sah er, wie eine weibliche Gestalt am Fenster vorbeihuschte, in den Hausflur trat, und hörte auch, wie sie gleich darauf an die Stubentür klopfte.
Mitdem war auch schon Nellecke van Dornick still und ruhig ins Zimmer getreten.
Ihre Augen waren seltsam geweitet, ihre Wangen von einer wächsernen Bleiche. Um ihre Nasenflügel war ein leises Zucken, das aber ihre kühle Sicherheit nicht ausschalten konnte.
Wie eine, die alles hinter sich ließ, ohne Bangen und Fürchten, wie eine, die willens schien, einem Mann das zu geben, was nur ein Weib zu geben vermochte, so war sie gekommen, ihr völlig gleichgültig, was die Welt über sie dachte – so merkwürdig gefaßt war sie, so in sich abgeklärt, so voller Würde und Andacht. Mochten alle es wissen. Die Tatsachen waren stärker geworden als sie selbst. Ende und Ziel lagen vor ihr. Keine Bedenken drängten sich ihr mehr auf, keine Zweifel und Ängste. Sie nahm alles und jedes hin, als wenn es etwas Selbstverständliches wäre. Sie machte sich keine Sorgen darüber. Nur ein Gedanke beherrschte sie: ihre Mission zu erfüllen, zu sühnen und die Schuld von ihrem Hause zu nehmen und darüber hin die wehen Saiten ihres dankbaren Herzens klingen zu lassen.
Sie rührte sich nicht von der Stelle. Mit erhobenem Kopf, das Umschlagetuch eng um ihren Körper gezogen, stand sie ohne jede Bewegung. Die festgeschlossenen Lippen hatten die Farbe von Lilien, und Lilien sind das Reinste auf Erden. Nur zuweilen hob und senkte sich ihre Brust unter einem kaum merklichen Atmen.
Zwei Menschen allein, ratlos und von einer leidvollen Ruhe umgeben. Zwei Menschen in Not und in tiefster Bedrängnis; denn keiner fand den Mut und den richtigen Ausdruck, das quälende Schweigen zu brechen, die große Stille zu lösen, um wissend zu werden.
Da endlich . . . Schon wollte sich ihr Name wie ein Schrei, von seinem Munde ringen, da hub sie an zu sprechen. Sie begann einfach und schlicht. Es war mehr ein Beten als ein Sprechen, und sie tat es in dankbarer Einfalt, als hätte sie das Sakrament der Buße und das des Altares empfangen.
»Alles an mir ist sterblich,« sagte sie mit einer Stimme, die mit einem tiefen und ergreifenden Dunkel umflort war, »nur mein Geist nicht und das nicht, was der Himmel mir auferlegte. Daß ich hier bin, ist seltsam, denn ich tue das, was sonst einem anständigen Mädchen nicht zusteht. Ich komme, ohne eine Bestellung zu haben, in das Haus eines Mannes und das zu einer Zeit, die man gewöhnlich vermeidet. Aber ich weiß, was ich herbeiführen muß, und weiß auch, daß ich eine Schwelle betrat und mich an einem Ort befinde, wovon es heißt: beide hat der Engel des Herrn gesegnet. Hier wohnt nur das Wohltun, und von hier aus ist so viel des Barmherzigen und Guten auf uns übergegangen, daß wir fast unter seiner Fülle erliegen.«
Sie unterbrach sich, während sie den Kopf leise bewegte.
Ihr Blick hob sich schmerzhaft. Sie wollte auf ihn zugehen, seine Hände umfassen, sie an ihre Lippen heben, sie mit ihren Tränen benetzen – allein ihre Kräfte versagten. Der furchtbare Ernst des Augenblicks hielt sie an der Stelle gefesselt. Nur leise vermochte sie seinen Namen zu rufen.
Das riß ihn empor.
»Nellecke, du . . .?!« und unwillkürlich zog er sie an sich, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte.
Sie warf sich in seinen Armen herum.
Mit traurigen Augen sah sie ihn an.
»Erinnere dich, du mußt dich erinnern! Das ist vor kurzem geschehen . . . am Hechelkreuz . . . damals, als ich von Emmerich kam . . . als die Schande über uns herfallen wollte . . . Damals – die Worte! ich entsinne mich ihrer, als wären sie erst heute gesprochen. Sie sagten mir damals, nein – du sagtest mir damals: Nellecke, ich bin ein Freund deines Hauses. Ich kenne dich . . . und kenne den Vater . . . und kenne auch Ewert . . . und für alle lege ich die Hände ins Feuer. Und dann sagtest du weiter: Zeit meines Lebens bin ich wie ein armes Kerzlein am Allerseelentage gewesen. Nichts blühte um mich, nichts grünte um mich. Jetzt aber: ich möchte durch ein Märchenland gehen, immer weiter und weiter, bis dorthin, wo ich dich finde, um dir ein Sonnenkrönchen auf die Schläfen zu drücken.«
»Nellecke, mein herzliebes Nellecke . . .!«
Sie wehrte ihn ab.
»Nein, ich bin noch nicht fertig. Erst muß alles klargestellt und festgelegt werden.«
Sie atmete schneller und schwerer. Ihre junge Brust klopfte mit harten Schlägen gegen die seine.
»Du . . .! und da sagtest du endlich: Dein Herz möchte ich nehmen . . . es aufheben, wie man ein Heiligtum aufnimmt . . . es aller Welt zeigen . . . und aller Welt zurufen: Seht euch dieses Herz an! Es ist mein geworden für immer und ewig.«
Einen Schritt trat sie rückwärts.
Das schlichte, einfache Mädchen, Nellecke van Dornick – einer Priesterin, einer Königin war sie ähnlich geworden.
Das neidische Tuch, das bisher ihre Kostbarkeiten verhüllte, hatte sie von den Schultern geworfen.
Straffen Leibes, die Arme gebreitet, stand sie ihm zuversichtlich und sicher gegenüber, und von ihrem Munde kam es wie ein Schrei hoch aus den Lüften: »Ja du – mit dir will ich durch ein Märchenland gehen. Tu's nur, setze mir das Sonnenkrönchen auf's Haupt. Nimm mein Herz und rufe der Welt zu: Seht euch dies Herz an! Es ist mein geworden für immer und ewig. Rette mich, hilf mir! und wenn ich jetzt noch in deine Arme hinein darf . . .«
Da war es aus mit ihr.
Erschüttert lag sie vor ihm und hatte seine Knie umschlungen.
Er erbebte vor dem Ausbruch dieser Leidenschaft.
War das das Glück, das er so lange ersehnte?
Wie ein Wettern und Blitzen war es über den Ärmsten gekommen. Aber er hatte noch so viel Kraft und Einsehn, die Zusammengebrochene aufzuheben, sie an sich zu ziehen und ihren Scheitel zu küssen.
Sie aber, den Arm um seinen Nacken geschlagen, begann unter Stammeln und Zittern: »Ich hab' es in der Bibel gelesen, ich hab' es im Katechismus gefunden: Wohl denen, die Gutes tun. Wohl denen, die die Sünde und die Schuld anderer tragen. Gesegnet die, die Liebe darbringen, um Liebe zu ernten der Barmherzigkeit wegen. Und das tatest du alles. Niemals noch hat einer so viel von seinem Herzblut gegeben, niemals noch einer so viel an Treue gespendet. Heute und damals! Jetzt ist alles anders geworden. Was du uns warst, das soll dir im Himmel vergolten werden – und wenn du willst: jetzt schon auf Erden. Ich will dein sein, wenngleich ich auch den andern noch liebe. Allein diese Liebe zu ihm – ich blase sie aus wie ein Lichtlein. Und wo du hingehst, da will auch ich hingehen, und wenn du stirbst . . .«
»Nellecke, Nellecke!«
»Willst du?!«
»Und Lambert . . .?!« fragte er heftig, obgleich er innerlich seine Ruhe bewahrte.
Sie erregte sich nicht, sie errötete nicht und sagte so gemessen wie möglich: »Er weiß, was ich denke und was ich zu tun habe. Ich handle nicht ohne sein Wissen. Nenne seinen Namen nicht mehr. Was liegt noch an ihm, was an mir? Ich gehe meiner Bestimmung entgegen. Verpflichtung steht gegen Verpflichtung. Wo ist die größere? Du hast nur zu wählen,« und zwei bleiche Lippen legten sich fest auf die seinen – und was sie ihm boten, waren lauter Kleinodien, rein und keusch, wie aus dem Krönlein der wundertätigen Gnadenmutter gebrochen – köstliche Perlen.
»Willst du, willst du? – und wenn du stirbst . . .«
Seine Pulse erregten sich; noch einmal begannen die Bronnen seines heißen Blutes zu fließen. Dann versiegten sie wieder. Er verstand ihre Worte, er begriff den Zusammenhang der Dinge, er fühlte, was sie hergeführt hatte: die Schuld der Dankbarkeit . . . und drüben, in einem traulichen Zimmer stand eine andere in stummer Ergebung, mit wehen Augen, und harrte und hoffte . . . und da war es ihm so, als winkte es mit weißen Händen herüber, als würde das große Evangelium der Entsagung und das der Liebe verkündet, als vernähme er ein verhaltenes Schluchzen und Weinen.
Und nochmals das scheue Fordern und Fragen: »Willst du, willst du? – und wenn du stirbst . . .«
Da sagte er gütig, indem er sacht über ihr Haar glitt und ihre Wange streichelte: »Was soll dieses Opfer? Ich brauche dieses Wort, weil ich annehme, du bist selber an dir irre geworden. Prüfungen und Anfechtungen, Hoffnungen und leere Hände, wie liegt ihr so dicht nebeneinander! Früher nicht, aber heute – ich müßte erröten, würde ich über dein Begehren nicht lächeln. Du Treue, du Wesensreiche, du hast mir gegenüber keine Verpflichtung. Eitel Schein und Nichtigkeiten. Nur die Herzen dürfen hier sprechen. Liebe gibt es nur in der innersten Tiefe. Ich kann sie nicht heben, bei dir nicht gewinnen, und hätte ich trotzdem den traurigen Mut, es dennoch zu wollen, ich müßte an einer langen und bangen Reue ersticken. Was der Himmel zusammengab, das widersetzt sich der Trennung, und wehe dem, der es wagt, Hand an traute Bande zu legen. Was heute geschehen ist, es wird mir eine selige Erinnerung bleiben. Ich küsse den Mund, der zu mir redete, die Augen, die mich ansahen in Ergebung und Trauer. Mir bleibt nur übrig, dir noch dieses zu sagen. Du sollst glücklich werden, wie nur eine auf Erden. In diesem Wunsch ist auch die Antwort auf deine Frage zu suchen . . . und dort liegt die Antwort,« und seine Hand hob sich langsam . . . »dort beim weißen Mynheer, bei Johannes Terstegen, wo Lambert jetzt weilt. Nellecke komm' jetzt. Wir wollen nun gehen.«
Er gewahrte das Zittern ihres jungen Leibes und die Freude, die in ihr war. Ihre Tränen flossen jetzt reichlicher als kurz zuvor. Aber es waren lichtere Tränen, und ihre Blicke flammten auf wie Osterfeuer, und ihre Lippen stammelten: »Ach, du, du . . .!« um sich lange und innig auf seine Rechte zu legen.
»Komm' jetzt,« sagte er gefaßt und vollkommen ruhig, nahm ihr Tuch, hüllte sie ein und verließ mit ihr das Zimmer, das so viel des Schmerzes, der Trauer und der Freude gesehen hatte.
Im Hausflur rief er über die Schulter: »Drüke, bringen Sie meine Sachen ins Altmännerhaus. Ich will zu Johannes Terstegen,« und er schlang den Arm fester um die ihm Anvertraute, bettete ihr Haupt an seine Brust und trat mit ihr hinaus – über die Schwelle – in den kalten Abend hinein – in die Nacht voller Sterne.
Von drüben winkten die hellen Fenster des weißen Mynheers herüber.
»Dorthin!« flüsterte er in gehobener Stimmung. »Nellecke, deine Sendung bei mir ist zu Ende. Eine neue beginnt, und sie wird glücklich werden.«
Und sie gingen durch den lichten Schnee der erleuchteten Tür und dem schmalen Portal zu, wo drüben um den gipsenen Joseph der Kranz von künstlichen Blumen im Windhauch knisterte.
Vor dem gastlichen Zimmer machten sie halt.
Noch vor wenigen Minuten war hier eine herzerquickende Einigkeit und ein ausgesuchtes Behagen gewesen. Die prächtige Kastenuhr von Vredeman Briese hatte vergnüglich getackert, immer her und hin, auf und nieder, begütigend, besänftigend, und der duftige Brodem, der dem großen kupfernen Kessel entstieg, hatte ehrlich dazu beigetragen, die Sinne zu heitern und selbst das noch immer etwas verschüchterte Gesicht des Herrn im großgemusterten Buckskin vertrauensseliger und aufgeräumter zu machen.
Mit dem Eintritt Lamberts jedoch hatte sich eine merkliche Wandlung vollzogen.
Bleich saß er neben Ewert, berührte sein Glas nicht, brütete dumpf vor sich hin, nur dann und wann ein unverständliches Wort zwischen den Zähnen zerkauend.
Das ging immer so weiter.
Das Verhalten Lamberts wirkte lähmend auf alle, bis es dem Kapitän zu viel wurde und ihm der gebrannte Unmut aus allen Knopflöchern herausvigilierte.
Wie eine Rakete brannte er los, sah majestätisch um sich und verlangte zu wissen, was eigentlich los sei.
»Heiliger Taukranz und kein seliges Ende! Lambert, du willst uns doch nicht den heutigen Abend verbiestern – hier in der stolzen Bundeslade deines gastfreien Vaters verbiestern? Das wäre denn doch, um mit Jammer und Elend aus dem göttlichen Genuß einer meisterhaft gebrauten Silvesterbowle zu fahren.«
»Moritz,« begütigte Johannes Terstegen, »das kommt wohl daher, weil Nellecke noch immer nicht da ist.«
»Mir ganz egal, was die Weiber betreiben. Er aber, er soll unsre Genüge nicht stören, denn er sitzt ja da, als hätten ihm die Mäuse die Butter vom Weißbrot geknabbert. Das paßt sich nicht für halbgare Leute. Vor grauem Haar soll die junge Welt Estimierung besitzen. Das ist toujours immer so Mode gewesen. Und ich und du, mein lieber Johannes, wir sind mit den grauen Haaren eines edeln und auserwählten Alters umkleidet. Ein halbes Säkulum und mehr hat uns bereift und versilbert. Drum Achtung, junger Mann! Das will der Respekt so. Es ist ja zum Lachen. Weibsbilder besitzen ihre veritablen Zicken und Sprünge. Die müssen immer etwas Besonderes haben. Aber desungeachtet: ich lasse mir hierdurch meinen fidelen Gusto nicht nehmen. Prost, Lambert! In die Pinte gestiegen. Und das mit Nellecke . . .! Drum keinen Hängekopp nicht. Immer forsch durch Trocken und Naß. Die kommt dir noch immer früh genug in die Quere gelaufen.«
»Die . . .?!« schrie Lambert auf, wild und leidvoll, als wäre ihm eine brutale Faust gegen die Stirne gefahren.
Die Knöchel auf die Tafel gestemmt, bleich wie die Kalkwand, die Zähne in die Unterlippe geschlagen, stand er dem Kapitän schräg gegenüber.
Ihre Augen flammten sich wechselseitig an bis in die innersten Nieren.
»Das heißt also, junger Mann . . .?!« rief Moritz van Dornick.
»Das heißt,« entgegnete Lambert, »daß der Lehrer von Obermörmter ein Lump ist. Ich, ich, ich, wie ein Lump auf die Straße geworfen! Das heißt . . .«
»Lambert, du willst doch kein verrücktes Manöver entrieren?!« schrie Johannes dazwischen.
»Das heißt,« fuhr der Erregte wie ein Tobsüchtiger fort, »daß ich von ihr abgetan wurde wie ein weidewundes Stück Wild auf der Strecke.«
»Lambert, mein Junge!«
»Und das hier zertrat sie.«
Mit beiden Fäusten griff er zum Herzen.
»Aber so mußte es kommen,« lachte er gellend. »Was damals am Drei Königen-Tag in die Scholle hineinkam, hat Früchte getragen . . . vergiftete Früchte . . . und ich verrecke an dieser vergifteten Aussaat.«
Seine Worte zerstückelten . . . Alle sprangen auf.
»Ruhe!« gebot Moritz van Dornick, und seine Stimme rollte über den Tisch hin wie ein Kanonenschuß über geteerte Schiffsplanken. »Das also mit dem Drei Königen-Abend . . .! Das also wird mir in die Schuhe geschoben? Weißt du denn nicht . . . seit dem Tage hat vieles 'ne bessere Visage bekommen. Gott verdammich nochmal! ein Mensch kann sich irren, ein Mensch kann sich mit falschen Ideen umkleistern, aber ein Mensch kann auch seine Besinnung wieder empfangen. Johannes Terstegen« – und der Kapitän streckte sich und strammte seine blaue Jacke herunter – »Johannes Terstegen, leg' Zeugnis ab, steh' Rede und Antwort! Hier vor deinem Sohne steh' Antwort! In diesem feierlichen Momang frage ich dich: Habe ich dir bei unserm letzten Friedensbündnis nicht in die Rechte geschworen: Ich hebe nicht die Hand wider ihn . . . ich fluche ihm nicht . . . ich lege ihm keinen Stein in den Weg. Meine Tür steht ihm offen, wenn ich auch hinzufügen mußte: es gibt eine Liebe . . .?«
»Ja, Moritz, das hast du.«
»Das weiß ich,« rief Lambert, »aber sie . . .!«
In diesem Augenblick ging die Tür auf.
Nellecke van Dornick und der Aktuarius traten glückverheißend ins Zimmer.
* * *