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Der vergoldete Turmhahn von Sankt Nikolai, der während des lieben langen Tages sein hellstes Leuchten verstreut hatte, verblaßte allmählich.
Die Schwalben hatten niedrigen Flug. Schon längst waren sie aus ihrer blauen Höhe herunter gekommen. Unmerklich vollzog sich die Wandlung auf Erden. Das Gegenständliche verlor seine harten Konturen, und die Wiesen, die die kleine Stadt in weitem Kranze umzogen, begannen zu schwimmen.
Immer nachhaltiger senkte sich die Dämmerung hernieder. Die Leute machten Feierabend. Dunkle Vögel glitten dem tiefen Westen entgegen. Die Klever Post lenkte auf den stattlichen Markt ein. Das Lied vom ›Guten Kameraden‹ schlängelte sich wie silberne Bänder durch die einsamen Straßen.
Ob alle es hörten, die nicht mehr unter den Lebenden weilten? Ja, sie hörten es alle. Die Liebe macht nicht halt vor den Gräbern. Sie ist wie eine Flamme des Herrn, die sich nicht in sich selber verzehrt. Sie kränkelt nimmer und bedarf nicht des irdischen Öles. Sie dringt in die Fernen, schreitet über die Meere, gedenkt der Abgeschiedenen und hält Zwiesprache mit den Halmen des Feldes. Sie ist schon und groß und unendlich . . . und wohl dem Menschen, der dieser Liebe teilhaftig geworden.
Das Lied vom ›Guten Kameraden‹ hörten auch die, die schon aus dem Leben geschieden waren.
Zur Seite des hölzernen Kruzifixus, der den abgelegenen Kirchhof beherrschte, erhob sich ein schlichter, mit Efeu umwachsener Hügel. Zu Häupten ragte ein unscheinbares Kreuz aus der Erde. Daneben kniete die Gestalt eines Mannes.
Es war Aloys Furtwanger.
Nach der heutigen Konferenz war er weder nach Hause, noch in die ›Goldene Kugel‹ gegangen. Er vermochte es nicht. Er mußte sich sammeln, erst mit sich fertig werden. Ruhe, nur Ruhe! Das Wetter, das über ihn fortgebraust war wie ein Sturm in der Frühlingsnacht, zitterte noch in seinem Herzen nach. Überständige Äste lagen am Boden. Welke Blätter waren fortgefegt worden; in Bast und Borke des erschütterten Stammes war ein Kreißen und Gären. Ungleichartige Kräfte bekämpften sich wechselseitig. Er suchte nach Beilegung, nach einem befreienden Ausgleich. Ihm tat die Einsamkeit not, ein Leben in sich, der Sonnenschein beschaulicher Andacht. Die Nachwehen des Sturmes mußten sich geben. Eine Aussprache mit seinem Gott und Mittler führte ihn aus der Enge der Stadt in die verschwiegenen Winkel seiner heimatlichen Flur. Hier glaubte er das Arkan für seine bedrängte Seele zu finden.
Nachdem er eine karge Zehrung im benachbarten Moyland zu sich genommen hatte, machte er eine große Streife durch die angrenzenden Wälder. Schattige Hallen und sonnige Halden! In den Vorgehölzen flötete der Pirol. Wie ein schwefelgelbes Federspiel wiegte er sich durch die laubigen Kronen, um tief in einem dunkeln Föhrenbestand seinen wundersamen Ruf aufs neue ertönen zu lassen. Ein Apollofalter gaukelte vorüber, ließ sich nieder und klappte seine Zauberflügel gegeneinander. Im Brombeergestrüpp tackte ein Müllerchen. Hoch oben im Blau einer Lichtung zog ein Falk seine geruhsamen Kreise.
Aloys Furtwanger nahm seinen Weg durch Haselbüsche und verschwiegene Gründe. So vergingen Stunden um Stunden. Aus dem Rauschen der Bäume, dem Lispeln der Blätter hauchte ihm der Odem Jehovas entgegen. Alte Wettertannen in langen Flechtenbärten kamen ihm vor wie seine Leviten. Aus ihren Reihen strömte Weihrauch hernieder. Ihre Stimmen waren Psalmen – Psalmen an die Hoffnung und die Freude gerichtet. Wohin er auch hörte, wohin er auch schaute – überall webte und atmete die Allmacht und Allgegenwärtigkeit des lebendigen Gottes. »Der Herr ist mein Licht und Heil. Vor wem soll ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft. Vor wem sollte mir grauen?« Also sangen die hohen Leviten, nickten mit ihren ehrwürdigen Häuptern, strählten ihre Flechtenbärte und verstreuten Myrrhen und Balsam.
»Wie groß und erhaben,« sagte der einsame Waller. Er spürte die Flügelspitzen der Cherubim und Seraphim, die neben ihm herschritten.
Seine Hand legte sich auf das versiegelte Schreiben, das ihm auf dem Herzen ruhte. Seine Seele war heiter und seine Wirrnis zu einem geordneten Ganzen geworden, in dem er sich wieder zurecht finden konnte.
Als die Sonnenlichter schräg durch die Stämme fielen, trat er den Heimgang an.
Sein Pfad führte durch blumige Auen. Hier stellte er aus Salbei, Mariawindelweiß und Schaumkraut ein duftiges Sträußchen zusammen. Damit ging er der Stadt zu und trat alsbald in den Garten der Abgeschiedenen, just in dem Augenblick, als das Lied vom ›Guten Kameraden‹ zu klingen anhub.
Gleich darauf kniete er neben der niedrigen, mit Efeu umwachsenen Stätte, legte die Blumen an den Fuß des einfachen Holzscheites und betete lange. Wie lange – er wußte es selbst nicht. Mittlerweile wurde die Dämmerung immer stärker und stärker. Fast alles Licht hatte sich nach dem Westen gezogen. In den Lebensbäumen und Taxushecken war ein verlorenes Säuseln.
Als er das Haupt erhob, fiel sein Blick auf das Kreuz und die verwaschene Inschrift. Im letzten Schimmer des sterbenden Tages las er die Worte: »Hier ruht in Gott Maria Emerentia Furtwanger, geboren am 10. Dezember Anno Domini 1798 zu Nürtingen. Gestorben dahier im Jahre des Heiles 1819 am 3. des Märzen. Ich harre des Rufes.« Und immer und immer wieder las er die verblichenen Zeichen, bis die Dunkelheit sie seinem Auge verhüllte.
Da nahm er den Hut, den er neben sich gestellt hatte, straffte sich auf und verließ gesenkten Hauptes, traurig und dennoch getröstet, die geweihte Erde, die der Engel des Todes bewachte. –
Eine halbe Stunde später saß er im sanften Glanz der grünlackierten Lampe, die noch aus seiner Studentenzeit stammte.
Das petschierte Schreiben, mit dem Wappen derer van Donselaar, lag vor ihm.
Noch immer hatte er den Mut nicht gefunden, die Siegel zu brechen. Die Scheu vor dem Unüberwindlichen hielt ihn zurück. Nachdenklich horchte er auf das Geklapper der Beutelmaschine, die aus dem Nachbarhaus zu ihm herübertönte, rastlos, unermüdlich, ohne aufzuhören. Alle Geschäfte ruhten; nur der Bäcker nebenan hatte noch für den andern Morgen zu schaffen.
Das monotone Geräusch tat ihm wohl. Er fühlte sich nicht mehr so verwaist und verlassen. Verschüchterte Menschen singen ein Lied, wenn sie allein sind und Furcht haben, einen dunkeln Weg zu beschreiten. Auch er fürchtete sich, durch die Pforte der Erkenntnis zu treten. Das einförmige Sumsen und Rappeln der Beutelmaschine vertrat bei ihm die Stelle des Liedes. Ein kaum merkliches Zirpen der Lampe begleitete die gedämpfte Musik aus dem Nachbarhause. Es mutete an, als würde in weiter Ferne eine Sense gedengelt. Da riß er sich zusammen, nahm ein Falzbein und setzte zum Schnitt an.
Nun war es geschehen.
Als er die einzelnen Blätter auseinander faltete, glaubte er, ein kalte, gespenstische Hand auf seiner Schulter zu spüren.
Er schreckte zusammen, dann tastete er sich durch das unbestimmte Bewußtsein hindurch: du befindest dich in einem nur matterleuchteten Raum, nur matt erhellt von einer einzigen Kerze, einer riesenhaften Wachskerze auf metallenem Leuchter. Stalaktite bilden sich an dem leichenfarbigen Schaft, dessen Flämmchen so schnurgerade aufragt, als wäre es aus feuriger Bronze gegossen. Nicht das feinste Geräusch unterbricht das heilige Schweigen. Nur dann und wann, in regelmäßigen Intervallen, tropft das überschüssige Wachs auf die messingene Schale. Es ist wie in einem Sterbegewölbe, so trostlos und tief feierlich. Selbst die Flamme, die das trübe Scheinen verbreitet, ist wie abgestorben. Sie hat ihr Knistern verloren. Ein hoher Mann steht neben dem Lichtstock. Er ist schwarz gekleidet und barhaupt. Sein Antlitz trägt die Spuren tiefen Verfalles. Es hat die Zeichen des Todes: solche des Schmerzes und solche, die an Verklärung erinnern. Seine gefalteten Hände liegen fest ineinander. Jonkheer Adrian van Donselaar beginnt leise zu sprechen, und also beginnt er:
»Geschrieben zu Millendonk in dem Jahre, da ich zu sterben gedenke.
Wer mir verzeihen will, soll mir verzeihen, und wer den Stein wider mich zu schleudern gedenkt, soll den Stein wider mich heben. Ich bin wie die, die nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen haben. Mag kommen, was wolle. Ich harre des Verzeihens, und ich harre des Steines. Diese Lehre ist billig, ist aber die Frucht eines großen und wahrhaftigen Schmerzes.
Seit Jahresfrist bin ich von Niederländisch-Indien zurück. Bin ich dort glücklich gewesen? Ja und nein; denn immer wieder sah ich in das Land meiner Jugend. Nicht in das der holländischen Krone, sondern in das stille Reich, in den traulichen Erdenwinkel, den meine Stammverwandten mit dem Kosenamen ›het hartje van Duitschland‹ bezeichnen. Man mag lächeln darüber. Die Besitzungen meines Vaters in seiner Heimat waren wie blühende Gärten, und dennoch: das auf deutschem Boden liegende Millendonk ist mir lieber gewesen.
Jahrzehnte hindurch sah ich das südliche Kreuz. Wie aus kleinen Sonnen zusammengestellt, stand es über Madura und dem javanischen Meer. Es mutete an wie ein Wunder des Himmels, und dieses Wunder, so erhaben und ergreifend es war . . . trotz all seinem Leuchten und Funkeln – es verblaßte vor den lieblichen Bildern, die über dem einsamen Gutshof kreisten.
* * *
Ich bin wieder in Millendonk. Mein Amt als Resident legte ich nieder, die Gnade des Königs, mich dem ›Rat der Viere‹ einzuverleiben, lehnte ich ab. Als ich den geweihten Boden betrat, küßte ich die Erde mit heiliger Inbrunst. Meine Seele nahm den Pilgerstab und wanderte in längstverklungene Zeiten zurück. Es war ein langes und beschwerliches Reisen, denn die Stationen der Erinnerungen sind mit Dornen umhegt und die Blumen, die am Straßenrain stehen, mit Tränen gefeuchtet. Und siehe: ich befinde mich plötzlich wieder im Alter des Frühlings. Meine Universitätsstudien liegen hinter mir. Nur noch wenige Monate, und ich werde berufen sein, mich dem Verwaltungsfach und der diplomatischen Laufbahn zu widmen. Mag es geschehen. Ich füge mich dem strengen Willen, der in unserm Hause regiert. Aber das ist gewiß: noch viele Wochen des Alleinseins und des stillen Genießens sind mir beschieden, bevor ich mich veranlaßt fühle, unter Segel zu gehen. Das südliche Kreuz wird mir noch früh genug blinken.
Es ist um die Zeit, wo die Vögel mit den langen Gesichtern ins Land kommen und in den laulichen Dämmerungen zu murksen beginnen. Die Erde duftet nach befruchteten Keimen. Die ersten Leberblümchen stehen im Holz. Die blassen Anemonen erscheinen bereits zwischen dem abgeworfenen Laub des verflossenen Jahres. Ich mache weite Spaziergänge und kehre abends müde und dennoch gekräftigt nach Hause.
Die Pächtersleute sind treffliche Menschen. Was sie mir von den Augen ablesen können, geschieht, um mir den Aufenthalt so angenehm wie nur möglich zu machen. Sie stehen noch in der Blüte des Lebens und sind nicht viel älter als ich. Mit ihnen verbringe ich angenehme und beschauliche Stunden. Noch schönere begehe ich mit dem Kaplan im benachbarten Kranenburg, der vorgesehen ist, in die Pfarrerstelle eben dieses Kirchspiels zu rücken. Kornelis Lommen ist ein Samaritan der Bedrückten und im wahrsten Sinne des Wortes ein hoher Priester des Herrn. Seine Worte sind süße und fließen wie Honig. Ganze Gesänge des unsterblichen Homer weiß er ohne zu stocken im Urtext zu bringen. Er spricht mit feurigen Zungen, wie Thomas von Kempen es tat, der die ›Nachfolge Christi‹ verfaßte. Er ist weise und gerecht, hilfreich und gut. Die Sünden und Fehler seiner Mitmenschen rügt er nach Billigkeit, deckt sie aber auch mit dem Mantel der christlichen Liebe. Das ihm Anvertraute ist geborgen bei ihm wie in einem Reliquienschrein. Er sieht weder rechts noch links, sondern geht zielbewußt und klar seines Weges. Das ist Kornelis Lommen in seinen Worten und Werken, dem ich Dank schulde aus tiefstem Grunde meines Herzens.
* * *
Nun sind sonnige Tage über Millendonk gekommen, Tage, wie sie am Niederrhein zu den Seltenheiten gehören. Die Wälder stehen im Schmuck ihrer grünen Fahnen. Die Wiesen hauchen einen würzigen Ruch aus, in dem kleinen Gehölz, das den Gutshof umlagert, schluchzen die Nachtigallen. Der Roggen blüht, und es ist, als zöge schon jetzt der Duft nach warmem Brot über die Felder.
Es ist Abend geworden, die Weite aber noch sichtig. Dieser Abend soll über vieles entscheiden. Ich war bei Kornelis Lommen gewesen. Er hatte heute seine klassische Stunde und hatte prächtig gesprochen. Die Lieder des Horaz gingen mir nach. Ich sagte still vor mich hin:
›Ille terrarum mihi præter omnes
Angulus ridet, ubi non Hymetto
Mella decedunt viridique certat
Baca Venafro . . .‹
Ja, es ist schön! Ich schlenderte durch den kleinen Ort, um das Gut zu gewinnen. In Kranenburg rüsteten sie auf Kirmes. Die Leute, die noch damit beschäftigt waren, ihre Tenten und Buden aufzuschlagen, grüßten mich freundlich. Als ich die Wirtschaft zum ›Blauen Karpfen‹ passierte, stand der Besitzer vor der Haustür und zog sein Troddelkäppchen herunter.
›Herr Baron,‹ sagte er schmunzelnd, ›der Puppenmeister Herr Furtwanger ist hier. Morgen um diese Zeit wird die schöne Magelone gegeben, und es wäre die Meinung . . .‹
›Ja, es wäre die Meinung . . .‹
Ein großer Mann, den ich nicht bemerkt hatte, erhob sich von einer Bank neben dem Eingang. Ich seh' ihn noch heute. Sein Kopf war wie aus einem Holzklotz geschnitten, kantig und eckig, dabei einnehmend und kindlich. Ein eisgrauer Knebel schmückte sein Kinn. Dennoch schien er in den besten Jahren zu sein. Allerdings, etwas ungewollt Gravitätisches lag in seiner ganzen Erscheinung. Er trug einen Anzug von abgeschliffenem Velvet und ein knallrotes Halstuch. Zwischen den ringgeschmückten Fingern hielt er einen landfremden Glimmstengel. Seine Sprache hatte einen süddeutschen Anflug. Er wiegte sich selbstgefällig in den Hüften.
›Grüß Gott, Herr Baron! Mein Name ist Xaver Anastasius Furtwanger. Ich bin kein Unbekannter in hiesiger Gegend. Die besten Referenzen stehen zu meiner Verfügung. Wer den Wurstl besser als ich auf die Bretter stellt, den möchte ich sehen.‹
›Stimmt‹, fiel der Gastwirt dazwischen. ›Die schöne Magelone und so . . . und es wäre die Meinung . . .‹
›Ja, es wäre die Meinung,‹ nahm Herr Furtwanger wieder das Wort auf, ›daß auch Sie, Herr Baron . . . Ich habe meiner Tochter Auftrag gegeben. Sie ist nach Millendonk hin, um das Programm für den morgigen Abend . . . Herr Baron, es wäre mir ein auserwähltes Vergnügen . . .‹
Ich sagte zu und nahm lächelnd meinen früheren Schritt wieder auf.
Wie lange ich dahinschlenderte, weiß ich nicht mehr.
Plötzlich . . . vor mir in der zunehmenden Dämmerung tauchte es auf . . . eine Mädchengestalt . . . eine liebe Erscheinung . . . Ihre Haare liegen in dicken Flechten um ihre zierlichen Schläfen. Sie hat ein Medaillengesicht und Augen so sanft und weich wie die Hüllen ausgereifter Kastanien. Trotz ihrer Jugend – ihre Formen sind die eines schönen Weibes in üppiger Fülle.
Ich sehe es deutlich.
Ihr Mund blüht wie eine Rose in dem bleichen Gesichtchen.
Meine Sinne verwirren sich.
Ich spreche sie an, und sie sagt mir, sie sei auf Geheiß ihres Vaters auf dem Gutshof gewesen.
In ihrer Stimme ist ein Klingen, das ich nie mehr vergesse.
Wir plaudern noch lange zusammen. Sie ist schön wie ein Reh und zutraulich wie eine weiße Taube, die das Fürchten nicht kennt. Sie erzählt mir von ihrer Heimat auf dem Württembergischen Filder, von ihren Künstlerfahrten, die unstet sind wie die Reisen emsiger Stare. Der Saum ihres Kleides berührt mich, und durch dieses Kleid hindurch sehe ich das Geheimnis ihres geschmeidigen Körpers. Ich vermag es kaum, mich von diesem Mädchen zu trennen, so anziehend ist seine Nähe, so lieblich das Wort seines Mundes. Endlich gebietet es die Rücksicht auf Sitte und Anstand. Unsere Hände sind vereinigt, und ich frage sie schüchtern: ›Sehen wir uns wieder, Marie . . . hier auf dieser Stelle, Marie . . .?‹ Ich zeige dabei auf eine ehrwürdige Buche, unter deren Schatten wir stehen.
Sie gibt keine Antwort, nur den Druck ihrer kleinen Hände spüre ich deutlich. Gleich darauf wendet sie sich und geht eiligst nach Kranenburg zu, wo sie schon Vorkirmes halten.
Es ist mittlerweile dunkel geworden. Aber mir blinzelt es auf. Ein lichtschwaches Pünktchen löst sich vom Himmel und gleitet sprühend zur Erde. Bald darauf ist es spurlos verschwunden.
* * *
Ich sage zum andern: Ich bin wie die, die nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen haben. Mag kommen, was wolle. Ich harre des Verzeihens, und ich harre des Steines.
Die nächsten Tage gehen mir im Taumel vorüber. Tanzmusik und Karusselltrubel! Bis nach Millendonk rufen die bunten Klänge. Ich höre sie gerne, weiß ich doch: auch sie wird von ihnen umzittert. Ich bin häufig im ›Blauen Karpfen‹. Ich sah die Geschichte von der schönen Magelone und die Genovevenlegende. Meister Furtwanger gab sein Höchstes und Bestes. Selbst der ehrsame Herr Kornelis Lommen legte seine klassischen Autoren beiseite und freute sich der agierenden Puppen.
Für morgen ist das tapfere Stück von den Vier Haimonskindern angesagt. Zwei Tage später gedenkt der Alte seine fliegende Bühne abzubauen und weiterzuziehen. Der Abschiedsstunde sehe ich mit heimlichem Bangen entgegen.
Zwei verschlungene Herzen habe ich in ihrer Gegenwart in die glatte Rinde der alten Buche geschnitten. Als ich es tat, stand sie neben mir, den weichen Arm um meine Schulter geschlungen. Ich fühlte dabei ihre junge Brust und den Duft ihres Haares. Zum ersten Male gab sie mir ihre heißen Lippen zu kosten – und dieser Kuß wollte kein Ende nehmen. Der Engel des Lichtes stand uns zur Seite, aber auch der der Finsternis . . . und dieser war furchtbar.
* * *
Xaver Anastasius Furtwanger ist in rosigster Laune. Er jongliert mit Apfelsinen, mit Hühnereiern und läßt eine Pfauenfeder auf seiner Nasenspitze tanzen. Lachsalven umknallen ihn. Er strählt seinen Knebelbart, stürzt ein Glas Genever hinter das rote Halstuch und dankt für den gütigen Zuspruch. Auch verkündet er: ›Morgen geht's weiter. Wohin – weiß der Deibel! aber wenn der Saft wieder ins Holz steigt, kann's immer passieren . . . vielleicht auch schon früher . . . Warten wir ab, warten wir ab! Grüß Gott, meine Herren!‹ und dann schwenkte er sein Glas und sang über den Tisch fort:
›Bald gras' ich am Neckar,
Bald gras' ich am Rhein;
Bald hab' ich ein Schätzle,
Bald bin ich allein.
Künstlerlos, meine Herrschaften! Indessen, so Gott mir das Leben verstattet – der Xaver kommt wieder . . . zuerst in die Stadt, wo Seydlitz geboren, dann hier . . . Juchheißa die Puppen . . .!‹ und mit der ganzen Gravität, die ihm eigen, bestellte er sich einen zweiten Genever.
Das war um's Abendläuten.
Zwei Stunden später hielt ich ein liebes Geschöpf in den Armen. Willenlos schritten wir fort, bis wir zur großen Buche gelangten.
Traumhaftes Rauschen! Traumhaftes Leuchten! Es war so, als sei unsere Stunde gekommen.
Ihr schmales Gesicht ähnelt dem einer Beseligten. Sie ist schwer an meiner Seite geworden. Die Natur hält den Atem an. Wir wähnen uns auf einem einsamen Eiland. Keines Menschen Ruf wird laut, keines anderen Wesens Stimme läßt sich vernehmen. Nur das Säuseln des geweihten Baumes und das Pochen unserer Herzen ist bei uns.
Immer heißer werden unsere verzehrenden Küsse. Alles geht unter vor unseren trunkenen Blicken: die Welt . . . wir selber . . . der Himmel . . . und die Gebote des Herrn. Sie gibt, ohne an sich und die Zukunft zu denken. Ich nehme, ohne die Heiligkeit des Weibes im Weibe zu achten. Und doch diese Liebe, diese Reinheit und Keuschheit! Dieses Opfern auf dem Altare, den uns das Schicksal bestimmte! Ich bete das Weib an.
Dann kam das Erwachen.
›Du . . .!‹ schrie sie auf, und dann – ich vergesse es nie mehr – mit stummer Gewalt hatte sie mich an sich gerissen. Der letzte Kuß brannte auf meinen Lippen, und eine Stimme war bei mir: ›Vergiß mich! Vergiß mich! Du mußt mich vergessen; denn ich komme nicht wieder. Folge mir nicht!‹
Ihre Augen zuckten auf, blitzten mich an, versengten mich und machten mich hilflos. Hoheit umgab sie.
›Folge mir nicht; du würdest mich nur noch unseliger machen, obgleich ich dich liebe, wie du nie mehr geliebt wirst. Hier haben sich unsere Wege zu scheiden.‹
›Sie scheiden sich nicht!‹
›Sie tun's.‹
Das waren die letzten Worte, die ich aus ihrem Munde vernahm. Ich sah sie nie wieder.
Tief am Horizont glitt eine züngelnde Flamme. Das erste Wetterleuchten, das mich in die Knie zwang und mich niedermähte wie eine blitzende Sense.
Nein – ich sah sie nie wieder.«
* * *
»Ah!«
Aloys Furtwanger hatte einen Fluch zwischen den Lippen, aber dieser Fluch bröselte ab wie kalter Schnee vor der Sonne. Seine Hände zerknitterten die einzelnen Bogen, um sie still und gefaßt wieder zu glätten, waren sie doch der letzte Appell eines Toten, ein Ruf aus dem Grabe . . . und noch immer tropfte das überschüssige Wachs auf die messingene Schale.
Er hörte es deutlich . . . und dort: genau wie vorher steht der hohe Mann seitlich der Kerze. Er ist schwarz gekleidet und barhaupt. Sein Antlitz trägt die Spuren tiefen Verfalles. Es hat die Zeichen des Todes: solche des Schmerzes und solche, die an Verklärung erinnern. Seine gefalteten Hände liegen fest ineinander. Jonkheer Adrian van Donselaar beginnt wieder zu sprechen, und also beginnt er:
»Was in ihr vorging, welchen Anlaß sie hatte, eine Trennung zu suchen, ist mir bis heute unerfindlich geblieben. Wer mag das Herz eines Weibes in seinen Tiefen ergründen! Möglich, sie ist zu zart und feinbesaitet gewesen, möglich, ihr Geist türmte eine unbarmherzige Wand hoch, die ihr unüberwindlich erschien, oder aber sie wankte bereits dem dunkeln Eingang zu, über dem geschrieben stand: ›Lasciate ogni speranza.‹ Ihre Herkunft . . . das Bangen um mich . . . die Furcht vor den Meinen . . . die Reise durch eine endlose Wüste der Bitternis, in der jedes Hoffen versandete – alles das mochte dazu beigetragen haben, ihr das ›Du siehst mich nie wieder‹ auf die Lippen zu drängen. Ich selber . . . mea culpa, mea maxima culpa! . . . ich fühlte mich sündig, schuldig, zu Boden geschmettert und hatte den Mut nicht . . .
Anderen Tages war sie in aller Herrgottsfrühe verschwunden. Der Wirt vom ›Blauen Karpfen‹ gab zu verstehen: so zwischen dem zweiten und dritten Hahnenkraht, wo alles noch grau war und die Elstern- und Krähennester noch lautlos in den Bäumen hingen . . . und schien mir jedes, die Welt und mein Leben, verloren zu sein und mit Trauerfloren umkleidet. Kaum Herr meiner Gedanken, schleppte ich mich zu der alten Buche, die so viel des Glückes gesehen. Nichts mehr, nichts mehr! Nur die beiden eingeschnittenen Herzen waren von all der Seligkeit übrig geblieben. Mein Gott! das war alles . . . aber auch alles . . .
* * *
Lasciate ogni speranza! – Die Tage, die Wochen, die nun kamen, waren Tage und Wochen mit geschlossenen Augen und grauen Gesichtern, und wenn sie mich mit ihren Händen berührten, fühlte ich ein eisiges Frieren. Es gab Augenblicke für mich, die mich an den Rand der Verzweiflung stießen. Meine Sinne brausten. Mein Blut fand nicht Ruhe. Es war ein Aufbegehren in mir wie ein Aufbegehren gegen die Umklammerung des Todes, und wäre nicht Kornelis Lommen gewesen . . . Ich kniete vor ihm in einer furchtbaren Stunde, ich beichtete ihm, ich sagte ihm alles. Ich war wie ein Kind, das die Falten seines Herzens auseinander legt, als handelte es sich um die Blätter einer zerlesenen Fibel. Erst stand sein Haupt über mir, ähnlich dem des strafenden Gottes. Dann wurde es milder. Seine Züge verklärten sich, denn Kornelis kommen hatte die ›Nachfolge Christi‹ bis zur feinsten Tönung ergründet. Jedes Eifern lag ihm fern . . . und als er mich an seine Brust zog, sagte er duldsam: ›Es ist vom Übel, böses Gerede zu machen. Es würde dir nicht frommen und könnte ihr nur schaden. Hat nicht der Alte gepredigt: Wenn im kommenden Jahre der Saft abermals ins Holz steigt, kann's immer passieren . . . vielleicht auch schon früher . . . der Xaver kommt wieder . . . Waren das nicht seine eigenen Worte? Nie stellt sich die Reue zu spät ein, nie der Wunsch, Unrecht in Recht zu verwandeln. Drum harre und hoffe, gedulde dich, gib kein Ärgernis, mache kein unnützes Reden. Es fördert nicht und bringt uns nicht weiter. Heiliges Wollen liebt nicht das laute Geschrei des Marktes. Es will Zeit haben und im stillen wachsen und ausreifen. Liegt es in der Absicht unseres Vaters im Himmel, euch zusammen zu führen, er wird nicht ermangeln. Der Herr segne dich und segne auch sie. Er sei mit euch, jetzt und in der Stunde eures Ablebens.‹
›Unseres Ablebens,‹ sagte ich aus verwundetem Herzen und fügte mich dem Verkündiger der tröstlichen Worte und seiner Verheißung.
* * *
Was blieb mir noch übrig? Ich konnte nur eins tun und tat es. Als man in Millendonk den Roggen einbrachte, befand ich mich im Haag bei den Meinen. Hier lehnte ich mich auf gegen den starren Sinn meines Vaters. Ich suchte meine Sendung hinzuhalten, entschlossen, erst im kommenden Frühjahr unter Segel zu gehen. Er flammte mich an und drohte, mir seine Gunst und seine Hand zu entziehen. Endlich gelang mir's, seinen Zorn zu besänftigen und ihn gefügig zu machen. Aber seit der Stunde tat sich eine Kluft zwischen uns auf, die selbst die liebevolle Fürsprache meiner Mutter nicht zu überbrücken vermochte. Wir gingen stumm und eigenwillig nebeneinander, und als die ersten Tage im Advent wieder eine heftige Aussprache brachten, schrie er mich an: ›Steckt ein deutsches Weibsbild dahinter, dann mag der Stamm derer van Donselaar verdorren . . .‹ und hieß mich tun, was ich wollte.
Von ihr keine Nachricht.
Die Weihnacht verlebte ich gemeinsam mit Kornelis Lommen, der mittlerweile in die Stelle des Pfarrers gerückt war. Er hatte ein Tännchen geschmückt, Tabak und Pfeifen gerichtet. Als die Zeit vorrückte, sang er mit seiner vollen und tönenden Stimme: ›Harre, meine Seele, harre des Herrn . . .‹ und setzte heiter hinzu: ›Es wird alles schon werden.‹
Gott hat es anders gewollt, als es mein Freund sich dachte.
Neujahr und das Fest der heiligen Drei Könige verbrachte er auf Millendonk, sprach von alten Zeiten und freute sich jetzt schon auf das Sprießen der Veilchen.
Die Wetterkundigen erwarteten ein zeitiges Frühjahr. Die Stare waren bereits zurückgekehrt, und gegen alle Satzung in der Natur begannen schon die Haselkätzchen zu stäuben.
Als er spät abends heimging, begleitete ich ihn ein Stück seines Weges, bat ihn aber gleich darauf, stehen zu bleiben und auf meinen Anruf zu harren. Ich eilte voraus und machte mir an einer kleinen Fichte unmittelbar neben der mir geweihten Buche zu schaffen. Dann rief ich zurück. Als Kornelis herantrat, glänzten ihm zwei Lichtchen entgegen, die ich den grünen Nadeln aufgesteckt hatte.
›Was bedeutet das?‹ fragte er kopfschüttelnd, aber freundlich wie immer.
›Zwei arme Seelen, die sich nicht finden können‹, sagte ich traurig.
Da drückte er meine Hand und ging eiligst von dannen.
Seit dieser Stunde fröstelte ich und lag Ende des Monats im wildesten Fieber. Ein Engel stand neben mir, einer von denen, die ihr Antlitz mit den Schwingen bedecken.
* * *
Ich spüre es deutlich: es duftete nach Arnikageist und anderen Essenzen. Es war Nacht um mich; das Dunkel hielt an. Ich hörte verworrene Laute, und diese Laute verliefen sich wieder. Eine zügellose Flucht von Gedanken fiel über mich her. Sie entrückten mich in vergangene Tage. Ich sah Puppen in bizarren Bewegungen und Formen. Schattenhände schienen mit den Drähten zu spielen. Die Geschichte von den Vier Haimonskindern und die von der schönen Magelone flossen kraus ineinander, und was das Seltsamste war: alle Puppen standen auf den Köpfen, als wären sie Akrobaten gewesen, Tollhäusler, Schwarbelköpfe, Dämonen mit gläsernen Beinen . . . und dabei donnerte es aus der Höhe herunter: ›Dies iræ, dies illa!‹
Wo befand ich mich nur?
Ich wußte es nicht.
Wie lange schon währte dieser entsetzliche Zustand?
Mir fehlte jeder Sinn für das Zeitliche und Räumliche, jede richtige Auffassung von Sehen und Hören . . . und nur eines Abends . . .
Ich sah die Kringel eines Nachtlichtes an der Decke auf und nieder zittern und zwei runde Augen durch die Scheiben glotzen. Dann war draußen ein Wuchteln und Wiegen. Gleich darauf vernahm ich in den alten Bäumen den Totenvogel singen.
Alle Geräusche versanken dann wieder in das Meer des Schweigens, das sich lautlos, aber mit bleierner, stumpfer Bewegung über mich wälzte.
Eines Tages begann es zu glitzern. Warme Sonnenstrahlen drängten sich durch die hellen Gardinen, fielen auf mein Bettzeug und ließen Myriaden von glimmerfeinen Stäubchen in ihrem schraffierten Lichtglanz auf und nieder tanzen. Ich wunderte mich, daß die Kastanienbäume schon mit geschwellten Knospen in mein Zimmer hereinsahen. Neben mir stand eine Scherbe mit braunen Aurikeln.
›Nun kannst du bald deine Indienfahrt antreten,‹ sagte eine trauliche Stimme.
Eine weiche Frauenhand glitt mir sacht über die Stirne.
Es war die Hand meiner Mutter.
* * *
Acht Tage später . . . Meine Mutter ist wieder in Holland. Ich stehe am Fenster und blicke über Wiesen und Triften bis tief in die Ebene hin. Die meisten Bäume sind noch kahl. Nur hie und da ein grünliches oder goldenes Schimmern. Aber den stattlichen Kastanien sah ich es an: es wollte schon lenzen, obwohl die Natur eigentlich trauern sollte, denn die Leidenswoche des Herrn hatte begonnen . . . und wie ich so sinne, war Kornelis Lommen zu mir getreten, in seiner gewohnten Art und die Worte auf den Lippen: ›Siehe, mich haben die dunkeln Schwingen gestreift, und ich bin dennoch genesen. Eine große Feier ist um mich: die Feier des Lebens,‹ und trotzdem glaubte ich, ein schmerzliches Zucken in seinem Antlitz zu schauen.
Zum ersten Male waren wir wieder allein, allein nach langen und bitteren Wochen.
Ich deutete auf das warme Sonnenlicht und sagte: ›Kornelis, jetzt regt sich der Saft in Bast und Borke, und da sollte ich meinen . . . Meister Xaver sagte doch im ›Blauen Karpfen‹: So Gott mir das Leben verstattet . . . und daher: ist noch immer keine Nachricht gekommen?‹
Erst keine Antwort; dann hob Kornelis die Hand und versetzte kaum hörbar: ›Drüben liegt die kleine Stadt, die sich rühmen darf . . . In ihren Mauern wurde Preußens größter Reiterführer geboren. Dort war sie und ist sie.‹
›Was heißt das?‹
›Adrian, dort hat sich ein Drama begeben, aber in meiner Brust und in der meines Konfraters da drüben liegt alles verborgen. Der Ärmsten ist wohl.‹
Der Boden begann unter meinen Füßen zu weichen.
Ein sorglicher Arm legte sich um meine Schulter und versuchte es, mich aufrecht zu halten.
›Wir wollen stark und gefaßt sein und kein Aufhebens machen. Es fruchtet nicht und kann nicht mehr helfen. Der Herr rief sie ab. Nun sitzt sie mit ihm an den ewigen Tischen und segnet uns alle.‹
Läutete da nicht eine Glocke, eine dumpfe Glocke, eine furchtbare Glocke . . . eine Glocke, wie sie denen läutet, die sich sagen müssen: ›Hier ist nichts mehr zu hoffen . . .‹ und durch das Läuten hindurch sprach da nicht jemand, der mir alles erzählte? Nun war ich wirklich der armseligste Mensch auf Erden geworden.
Wohl weiß ich noch, daß ich in dieses Läuten hineinredete . . . daß ich mich aufmachen wollte . . . daß man mir strengstens gebot: ›Du bleibst! Es ist alles geordnet. Du würdest das Unheil nur unter die Leute tragen. Es ist genug. Du hast gesühnt und den Kelch des Leidens bis auf die Hefe getrunken.‹
Das Antlitz des Sprechers begehrte auf, wie in der Stunde, als ich ihm meine Sünde bekannte.
Wohl weiß ich noch, daß ich mich beugte . . . meine Maßnahmen traf . . . alles in seine Hände legte und ihm Anweisung gab, nach bestem Ermessen zu handeln. Ich tat, was ich konnte, um dann in die Knie zu brechen und mein Los zu beweinen.
* * *
Endlose Jahre hindurch stand das südliche Kreuz über mir. Wenn es auch verblaßt vor den lieblichen Bildern, die über Millendonk kreisen, so ist es doch wie ein Mirakel zu schauen. Es ist das Kreuz des Erlösers und wurde, mit edeln Steinen und Perlen umkrustet, durch lichte Engel von Golgatha gen Himmel getragen, um denen zu leuchten, die zu den Irrenden und Strauchelnden zählen. Ich weiß: eine Schuld läßt sich nicht wegleugnen, allein die Zeit schwächt die Erinnerung an sie ab und rückt sie in eine immer weitere Ferne. Unter den blühenden Mangobäumen an der javanischen See fand ich wohl nach und nach meine Ruhe wieder, aber nicht das Vergessen, wenn es auch abgeklärter und bedachtsamer wurde. Schließlich wandelte es sich zu einem rinnenden Nebel. Die schöne Tochter des Residenten von Bantam wurde mein Weib. Sie gab mir zwei Kinder. Ich fand ein spätes, ein gesegnetes Glück; aber dieses Glück war, als trüge es eine Dornenkrone um die fieberigen Schläfen. Arbeit und Würden beugten mich nieder. Und Kornelis Lommen . . .? Ich sagte schon früher: Das ihm Anvertraute ist geborgen bei ihm wie in einem Reliquienschrein. So war es und blieb es. Seine übernommenen Verbindlichkeiten erfüllte er im Angedenken an sie und im Angedenken an meine furchtbaren Leiden. Ich selber war machtlos. Weib und Kinder hielten mich fest. Ich durfte nicht sehen und durfte nicht hören . . . sonst: ich wäre der Zerstörer eines neu geschlossenen Bundes geworden. Das durfte nicht sein. Möge das Bahrtuch über dem Vergangenen liegen bleiben . . . aber ich kann nicht vergessen. Eine Tote ist bei mir . . . und das ist unerträglich geworden. Sie ruft mich, sie winkt mir . . .
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Die letzte mir vom König zugedachte Gnade lehnte ich ab, nicht mehr fähig, diese Bürde zu tragen. Mit den Meinen kehrte ich heimwärts. Ein großes, weißes Schiff führte uns durch blaue Tage und sternklare Nächte. Mein Sohn blieb auf Java. Ich aber . . . nach langen vierzig Jahren wieder in Holland. Alle meine Lieben waren voll von Freude und Seligkeit, während ich selber langsam verblutete. Der Friede sei mit ihnen und segne sie und verleihe ihnen ein mildes Herz, wenn meine Schuld sie eines Tages anblicken sollte; doch wäre mir lieber, das Geheimnis bliebe ihnen für immer stumm.
Auf Millendonk und in seiner Umgebung hat sich nicht viel verändert.
Der Pächter lebt noch, er und sein Weib. Kornelis Lommen jedoch wurde abberufen. Maria Emerentia und er sind nunmehr zusammen. Er brachte ihr meine Grüße.
Wie lange noch, so werde auch ich . . . und Mahnung ergeht: Bestelle dein Haus, das Sterben trittnäher.
Du aber . . . du . . .! verzeihe mir, wenn du die Kraft und den Willen dazu hast. Liebe und verehre deine Mutter, denn sie war das schönste und reinste Wesen auf Erden. Ihr Geist weilt noch stets im Schatten der alten Buche, in deren Rinde ich zwei verschlungene Herzen geschnitten.
Suche das Glück auf Millendonk; du wirst es dort finden.«
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Aloys Furtwanger ließ die weißen Blätter sinken. Die kalte Hand spürte er nicht mehr. Das monotone Geräusch des tropfenden Wachses verlor sich. Aber der hohe, schwarzgekleidete Mann stand noch immer neben dem brennenden Lichtstock. Sein Antlitz trug die Spuren tiefen Verfalles, doch auch solche, die an Verklärung erinnern. Seine gefalteten Hände entwirrten sich. Seine Lippen verharrten in eisigem Schweigen. Sie hatten nichts mehr zu sagen. Die Sendung Adrians van Donselaar war zu Ende. Seine Gestalt zerflatterte, umschleierte sich, um im milden Schein der kleinen Lampe mählich wie ein Schemen zu schwinden.
Der Wissende stierte in das zirpende Licht und wischte sich über die Augen.
»Es ist gut,« sagte er mit schmerzlichem Lächeln, glättete aufs neue die einzelnen Blätter und legte sie sorglich zusammen.
Ein Klopfen schreckte ihn auf. Ohne das ›Herein‹ abzuwarten, trat jemand ins Zimmer.
»Moritz, so spät noch?«
»Glaubst du denn, ich hätte Werg in den Ohren?«
Ein helles Lachen schlug ihm entgegen.
In voller Montur, mit blitzenden Ankerknöpfen, eine Bordeauxflasche, in deren Pfropfen bereits der Korkzieher steckte, unter der linken Achsel und zwei Gläser behutsam zwischen den Fingern haltend, trat der Kapitän auf ihn zu, stellte das Mitgebrachte auf den Tisch, entstöpselte, schenkte ein und ließ abermals ein prächtiges Lachen erschallen.
»Glaubst du denn,« rief er durch dieses Lachen hindurch, »der Sekretarius Tibus wäre ein versiegelter Brunnen? oder gar 'ne verstopfte Trompete? Menschenskind, diese gottssträfliche Freude! – und wenn auch man stehenden Fußes, aber in Anbetracht des heutigen Tages, in Wertschätzung deiner Person als Freund und Genosse – hier diese Bouteille . . . Sie stammt noch aus meinen Verhältnissen, als ich die Ehre hatte, ›Maria, sei mit uns‹ zu führen. Da kloppte mir der alte Stinnes vergnügt auf den Däts und sagte: Moritz, wenn du mal 'n großes Pläsier hast, dann mußt du diese hier trinken. Gott Verdammich! – und dieses Pläsier ist mir heute gekommen. Aloys« – und er nahm ein Glas und drückte das andere seinem Freund in die Hand – »du weißt, wie ich's meine . . . und wenn ich mich zur Stunde mit Nellecke auch man hundsmiserabel vertrage – das schert mich den Teufel! Ihr zwei beide . . .«
»Moritz, ich bitte . . . ich weiß nicht . . . mir sind seit einigen Tagen schwere Bedenken vor die Seele getreten . . . Das mit Lambert und so . . . ich möchte ein junges Glück nicht zerstören . . . ich möchte nicht schuld sein . . . ich weiß überhaupt nicht . . .«
»Was – mit Lambert und so?! Marotten! Pure Marotten! Selbst ist der Mann. Du mußt nur ordentlich Steuerbord nehmen. Holla! Du möchtest ihr Glück nicht zerstören? Unsinn! Dein Glück ist ihr Glück, und damit Prosit, mein Junge. Wie's reilt und seilt. Toppsegel hoch! und dem Herrn von Millendonk ein dreifaches Hurra. Er lebe!«
Da trat ein dünnes Lächeln auf die Lippen des stillen Mannes, der noch immer durch eine Wirrnis von krausen Gedanken und Vorstellungen taumelte. Aber in dem Geläut der Gläser wähnte er ein zukunftsfrohes Klingen zu hören.
* * *