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15.

Im Fluge bin ich schon bei Tristan und Isolde, auf der höchsten Zinne unserer modernen Musik und Opernideale angelangt und muß zurück zur Erde, um Staffel für Staffel, die Himmelsleiter der Kunst zu ersteigen, auf jeder Sprosse vorsichtig meine Kräfte wägend, vorbereitend für die nächste, um mein Ziel sicher, wenn auch langsam zu erreichen.

So führe ich den nachsichtigen Leser nochmals zurück ins Ursulinerkloster, zu einem kleinen, alten Nönnchen: Mater Angela, der Triebfeder unserer jüngsten Kinderkomödien. Sie war der weibliche maître de plaisir des Klosters, das durch seine ausgezeichnete Schule mit allen anderen Kindergärten und Töchterschulen in Verbindung stand. Mater Angela klimperte auch ein bißchen Harfe, und so oft Mama sich frei machen konnte, mußte sie ihr eine Stunde geben. Das Kloster besaß ein Pariser Instrument, das von Marie Antoinette dorthin geschenkt und selbst gespielt worden war. Mater Angela schien sehr lustig und weltkundig. Obwohl es den Nonnen streng verboten war, aus dem Fenster zu sehen, so beobachtete sie gerade dort alle Leute, – wie sie selbst erzählte, – und wußte in deren Schicksalen besser Bescheid als viele, die mitten im Leben standen. Über Theater und die Mitglieder desselben erfrug sie sich alles bei meiner gar nicht zum Schwätzen aufgelegten Mutter, denn dafür ließ sie ihr Leben. Darum auch arrangierte sie Komödien und Tanzereien, so oft es nur anging. Sie hingegen erzählte Mama von allen Skandalen und Streitigkeiten des Klosters, und wie sie selbst den Nonnen fortwährend Schnippchen schlug. Sehr oft mußte ich mitkommen und ihr sogar die »Madrilena« und »El Ole« vortanzen, welche Pepita di Oliva, – eine spanische Tänzerin, die eben in Prag gastierte und das Publikum enthusiasmierte, – aufgebracht hatte und die ich ihr – nicht ungeschickt – nachhopste. Dafür beschenkte sie mich mit Kuchen, Zuckerln und Heiligenbildern.

Auf das allererste Stück, welches wir dort aufführten, weiß ich mich noch zu besinnen; es wurde nur von zwei Personen gespielt. Die kleine, siebenjährige Satori saß als »Hausherr«, mit Schlafrock, Mütze und Pantoffeln, einer großen Brille auf der kleinen Nase und der langen Pfeife im Munde, in einem kleinen Lehnstuhl, sagte allerlei Verse her, deren Refrain lautete:

»Nein, sitzen bleibt die Frau und strickt!«

worauf ich, als Hausfrau, passend dazu angetan, mit einem großen Strickstrumpf hantierend, ebenfalls Verse sprach und mit dem Refrain antwortete:

»Nein, sitzen bleibt der Mann und raucht!«

(Was auch heute noch passen würde.)

Was wir später noch dort aufführten, ist mir entfallen. Als ich aber im Jahre 1903 nach Prag kam und alle Plätze unserer Kindheit aufsuchte, ging ich auch ins Ursulinerkloster und frug nach meinen alten Lehrerinnen, von denen nur noch Schwester – jetzt Mater – Bernhardine lebte. Ich ließ sie bitten herunterzukommen, und ohne nach meinem Namen zu fragen, ging man sie zu holen. Ich wartete in einem kleinen gewölbten Raume, der, von hereinbrechender Dämmerung nur schwach beleuchtet, mich in einen großen Saal blicken ließ, wo an langen Tischen eine Menge Pensionärinnen, von Nonnen stumm bedient, nachtmahlten. Auch drinnen war es dunkel. Manchesmal glitt ein schwarzer, lautloser Schatten an mir vorüber. Da ich schon lange harrte, fürchtete ich, man möchte mich vergessen haben und frug zwei der schwarzen, vorüberhuschenden Gestalten nach Mater Bernhardine und ob ich gemeldet sei. Wie Blödsinnige sahen sie mich an und verschwanden schweigend. Draußen und drinnen wurde es immer dunkler und unheimlicher. Endlich ein leiser Schritt von der Tür her; ich wende mich um und erblicke, oder ahne vielmehr, ein kleines schwaches Wesen, und vor mir steht eine gänzlich fremde »Mater Bernhardine«. So dunkel war's im Raum geworden, daß ich sie nicht erkannte, sie mich gar nicht sehen konnte. Nach der ersten Begrüßung zwischen zwei fremden Frauen riet sie lange hin und her, wer ich sein könne, – die Stimme käme ihr bekannt vor! Es lagen ja auch fast vierzig Jahre dazwischen! Schließlich nannte ich ihr meinen Namen, den sie leise, wie verklärt, nachsprach. »Die Lilli Lehmann!« Sie bekreuzigte mich, küßte mich auf die Stirne und fing nun an, sich an alles zu erinnern. Meine Stellung in der Welt kannte sie wohl; bei dem Erinnern an meine Kindheit aber, mochte sie vielleicht auch ihrer – verlorenen – Jugend gedenken. Sie, die einst so Schöne, Gesunde, war kaum noch ihr Schatten, nie hätte ich sie wieder erkannt. Sie paßte in diese immer dunkler werdende Dämmerung, als sei es ihr verlöschendes Lebenslicht. Schwere Tropfen fielen uns beiden aus den, fast nichts mehr unterscheidenden, Augen, und wehmütig sagten wir uns Lebewohl. Da ich sie noch gebeten hatte, in ihrer Klasse für Tierschutzlehren Sorge zu tragen, schrieb sie mir noch einige Zeilen, um sich für diesbezügliche Bücher, Schriften und mein Bild zu bedanken. Als ich aber zwei Jahre später wiederkehrte und sie zu sehen verlangte, hatte sich ihr lieber Schatten bereits verflüchtigt. –

Durch meine Lieder weht manchmal ein Erinnern, der Duft eines so poetischen Fleckchens, wie ich wenige kennen lernte. Der alte Judenkirchhof Prags, mitten im Ghetto gelegen, angelehnt an die älteste Synagoge, die »Alt Schul« genannt. In diese Gegend kamen wir allerdings selten; nur wenn Freunde oder Bekannte die Stadt besuchten, führten wir sie auch in diesen abgelegenen Teil des hunderttürmigen Prag. Im Frühling aber fanden wir Mädchen doch den Weg dahin. Dann war der kleine Friedhof übersät mit Veilchen, die unter den großen Grabsteinen, die kunterbunt übereinander gefallen waren, aus ihren grünen Blättern hervorleuchteten. Ein Bild voll Poesie, Duft und Frieden. Die alten, längst vermoderten Juden, die darunter geschlafen, hatten keinen Teil mehr am Gedanken des Todes; sie waren längst übergegangen in friedlich duftendes Leben der blauen Veilchen und der alten Hollundersträucher. Als sie einst hier eingescharrt wurden, lagen sie hart aneinander, wie sie auch im Leben auf die engsten Plätze angewiesen waren, in ihren engen Ghettoräumen, wo drei bis vier Familien oft in einem einzigen Zimmer, nur durch Kreidestriche voneinander getrennt, hausten. Als ich dieses Viertel vor einigen Jahren, aller kindlichen Naivität entblößt, wiedersah, standen nur noch ein paar kleine, elende Wahrzeichen zum Abbruch bereit. Das andere war verschwunden, dem Boden gleich gemacht, der, wie überall der unteren Moldaustadt entlang, um mehrere Meter erhöht werden sollte. Sie sagten aber noch genug von all dem, in Geduld und mit fanatischem Glauben getragenen Elend eines menschenunwürdigen Lebens, und mit Schauder wandte ich mich ab von dieser, einst so lebendigen Einfassung des kleinen, toten Friedhofsplätzchens, das erhalten bleibt und mit seinen blauen Veilchenaugen der Poesie freundlicher Herzen nach wie vor weitere Nahrung zuführen wird.


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