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14

Als Amerika 1917 in den Krieg eintrat, war Ann Vickers nicht mehr gewöhnliche Insassin des Corlears-Hook-Wohlfahrtshauses in New York, sondern zweite Vorsteherin und hatte direkt unter sich: die Unterrichtskurse in Englisch, Stil, moderner Dramatik, Wirtschaftslehre, Physiologie und Kochen für die Armen der Umgegend, die Klubs für Mütter, junge Mädchen und kampflustige kleine Jungen, den Theaterverein und die Organisation der kostenlos gehaltenen Vorträge ernsthafter Verfechter der Einheitssteuer, des Forellenfischens, der Tibeterforschung, des Pazifismus, des Sammelns von Seemuscheln, des Essens von Krähen und der Geographie des Reiches Karls des Großen.

Sie war sehr rasch aus der gesellschaftlichen Einsamkeit des Fanning Mansion in einen für New York typischen, nicht zu umgehenden Wirbel von Bekanntschaften geraten, die ununterbrochen anriefen. Pat Bramble war, nachdem sie ein Semester lang in Denver unterrichtet hatte – offenbar wegen Untüchtigkeit entlassen – nach New York gekommen und war so etwas wie eine gehobene Stenotypistin bei einer Reklameagentur; Eleanor Crevecoeur war Hilfsredakteurin bei einer Branchenzeitung für Möbel geworden, für die sie lyrische Ergüsse über Toiletteneinrichtungen, Lobeshymnen über Wandbretter, und kriegerische Gesänge über die Vorteile zusammenklappbarer Gepäckständer in Fremdenzimmern schrieb.

In New York, unter den schäbigen Zeilenschmierern und den Verkäufern, die zu einander passende Socken, Krawatten und Taschentücher trugen, war Pat Bramble ebenso kühl, süß und eiskalt jungfräulich wie vorher unter den alten Jungfern männlichen Geschlechts, mit denen sie im Fanning Mansion zusammengekommen war. Eleanor aber bemerkte: »Ich rede mir genau so wie ihr ein, daß ich hergekommen bin, um mir eine Karriere zu schaffen, aber in Wirklichkeit bin ich doch nur gekommen, um mir ein ordentliches, kräftiges Mannsbild einzufangen«, und mit ganz gutem Erfolg begann sie ohne den Segen des Standesamtes mit einem großen, sportsmännischen jungen Absolventen der Universität Oklahama zusammenzuleben, einem Mr. Ewbank, Sekretär einer Autodroschkengesellschaft, dessen gesellschaftliche Gaben sich darin erschöpften, daß er einen chinesischen Wäscher imitieren, Bridge spielen und höchst angenehm schweigen konnte, wenn die ihm Überlegenen, die Frauen, über Steuerfragen und die Unsterblichkeit redeten.

Sobald Ann in New York angekommen war, hatte sie bei Dr. Malvina Wormser, der kampfgewohnten Frauenrechtrednerin, zu deren Garde im Clateburner Sinfoniesaal sie gehört hatte, einen schüchternen Besuch gemacht. Die rundliche und heitere Ärztin umarmte sie, gab ihr ein Schnupfenrezept und nahm sie augenblicklich in den zoologischen Garten von Menschen auf, den sie wie alle Ärztinnen besaß. Dr. Wormsers Wohnung, hohe Räume im obersten Stockwerk eines altmodischen Gebäudes in der Fifth Avenue, Nummer dreißig und soundso viel, war vollgestopft mit deutschen medizinischen Werken, chinesischem Porzellan, Staub, Geigen, die sie für echte Stradivaris hielt, Eichenschränken aus Sussex, Haufen ungelesener Zeitschriften, welche die Sache des Vegetarismus, Mazedoniens, der chinesischen Waisenkinder und der Landbewässerung verfochten, mit Zigarettenstummeln, schauerlichen Gedichtbänden, die handschriftliche Widmungen hatten, mit Schwangeren, die ihren Rat suchten, Bettelbriefen und Leuten. Hier lernte Ann Architekten kennen, verwundete französische Offiziere, verwundete deutsche Spione, die stets als Schweizer Bankiers galten, Bakteriologen und Bakteriologinnen, anglikanische Pfarrer, die wegen Orthodoxie – das heißt, weil sie die Bibel ernst genommen hatten – ihrer Priesterwürde entkleidet worden waren, Sekretäre von Verlagshäusern und Chemikerinnen; diese letzte Kategorie setzte sich aus zwei Hälften zusammen: die eine trug Brillen und war von harter Sachlichkeit, die andere war entzückend und frivol und wurde bei den improvisierten Tanzabenden Dr. Wormsers regelmäßig hinter japanischen Wandschirmen abgeküßt.

»Die Leute, die immer zu mir kommen, werden Ihnen gefallen«, sagte Dr. Wormser zu Ann; »und das wird auch eine gute Schule für Sie gewesen sein, wenn Sie später einmal die erste weibliche Botschafterin Amerikas sind. Sie werden merken, daß alle ernsten Gelehrten, die herkommen, mich leichtfertig und frivol finden und alle Unfugstifter mich für deprimierend seriös halten, und so kann ich unter diesen Leuten niemals Patienten finden und muß mir mein Brot verdienen, indem ich reichen Frauen, die verprügelt werden sollten, kostenlos medizinische Lehren und Ratschläge erteile. Ich habe ganz guten Benedictine hier. Kommen Sie morgen abend zu mir. Es wird entweder ein Flieger oder ein Konchologe da sein, ich weiß nicht mehr genau, welcher kommt.«

Am meisten in Berührung kam Ann aber notwendigerweise mit ihren unmittelbaren Nachbarn, ihren Mitinsassen im Corlears-Hook-Wohlfahrtshaus; es waren im ganzen zwanzig, sieben davon Männer: Absolventen der Columbia-Universität, ein junger liberaler Jurist, der für das Gesetz nur Verachtung hatte und ein Verehrer von Clarence Darrow war, ein Bibliothekar in mittleren Jahren, der unvermeidliche liberale Geistliche, der humorvolle Debatten führte, und ein Sprößling aus reichem Hause, der darauf brannte, für die zu Boden Getretenen alles zu tun, nur nicht sein Besitztum zu verkaufen und unter die Armen zu verteilen. Er lebte unter den Armen, hatte aber noch sein Zimmer und seine Abendanzüge im Hause seines Vaters, der in New York vier Morgen, mit Mietskasernen bebaut, besaß.

Ann frühstückte und aß Mittag mit ihnen an einer langen Tafel, die ganz so aussah und dasselbe Essen trug wie die Tische in den Boardinghäusern eines Collegestädtchens. Die Zimmer der männlichen Hausbewohner, im dritten Stockwerk des Wohlfahrtshauses, lagen so nahe an ihrem, daß man einander Besuche zum Plaudern in Schlafrock und Pyjama machen konnte. Ann fand Gefallen an ihren Eigenschaften und ihrem kräftigen Geruch; es war aufregender, mit diesen Männern ins Theater zu gehen, als mit Eleanor. Aber, so seufzte sie, sie waren alle sieben so – so aufgeklärt und tolerant! Sie waren klug und konnten lebhafte Gespräche führen, aber in ihnen war nicht das geringste von Feuer oder von Erde.

 

Das Corlears-Hook-Wohlfahrtshaus trat zusammen mit dem Präsidenten Wilson in den Krieg ein. Wie der große sozialistische Denker Upton Sinclair verkündeten alle Fürsorgearbeiter außer Ann, sie seien wohl Pazifisten und gegen alle anderen Kriege, dieser Kreuzzug aber gelte dem Sturz der preußischen Militärkamarilla, und dann werde für ewig allgemeiner Friede herrschen. Ann, die an Oscar Klebs in Waubanakee und ihren Deutschprofessor in Point Royal dachte, konnte nicht glauben, daß die Deutschen eine ganz besonders kriegslustige Rasse seien, aber ihre Freunde schrien sie nieder. (Jetzt ist das eine alte Geschichte, heute insbesondere von den Leuten vergessen, die sie gemacht haben und die dreimal wöchentlich in Friedensgesellschaften sprechen, immer wieder nach Berlin fahren und ihren deutschen Freunden erklären, daß sie, für ihre Person, immer gegen den Krieg gewesen seien.)

Das Wohlfahrtshaus machte Verbandzeug, schickte seine Fürsorger zu Sammlungen für die Vereinigung Christlicher Junger Männer aus und nahm die frisch gebackenen Soldaten, die durch New York kamen, bei sich auf. Es war die Zentrale für »Sozialarbeiter« aus anderen Städten, die ihr Bajonettexerzieren mit besonders reinen Zielen im Herzen betrieben. Im Juni 1917 gab das Wohlfahrtshaus einen großen Ball für die Offiziere, die seine Gäste waren, und die italienischen und jüdischen Kinder der Umgegend, gewohnt an Fürsorger mit malerisch nachlässigen Schleifen, hatten jetzt das Privileg, Uniformen zu sehen.

Für den Ball war der große Vortrags- und Konzertsaal ausgeräumt worden. Ineinandergewickelte amerikanische, englische und französische Fahnen verbargen die Bilder von Jesus und Karl Marx. Auf dem Podium servierten Fürsorgerinnen Kaffee, Limonade und Eiscream. Alkohol gab es nicht, aber die Gäste verschwanden einzeln in das Zimmer des reichen Sprößlings, der gleichfalls in Uniform war.

An diesem Juniabend – durch die offenen Fenster drangen vergnügte Ghettogeräusche herein, auf der Straße wurde gerufen und geschrien, die Klingeln der Hausiererkarren bimmelten, Kinder tanzten zur Musik der Drehorgeln – an diesem Juniabend hatte Ann sich durch ihr leichtes Vorurteil gegen den Krieg nicht vom Tanzen abhalten lassen. Das Orchester verjazzte Marschlieder zu One-steps, und sie drehte sich im Kreise mit jungen Männern, die durch Erlebnisse über sich selbst hinausgehoben waren und sich darüber freuten, einmal der Armseligkeit und heuchlerischen Tugendhaftigkeit ihrer »Wohlfahrtsarbeit« entronnen zu sein.

»Mädel! Komm doch lieber rüber zu uns als Fahrerin! Wir haben's großartig da drüben! Ich kauf dir auch ne Flasche Kribbelkrabbelweinchen im Lustigen Paris!« johlte ihr der beste ihrer Tanzpartner zu.

Er hatte ein Gesicht wie aus Achat, glatt wie Achat. Er war Dr. phil., hatte Philosophie studiert.

Es machte ihr Spaß zu tanzen, wenn sie sich auch verhöhnte: »Aber um Himmels willen, Annie, hops doch nicht so rum, als ob du Basketball spielen würdest!« Aber je fröhlicher und ausgelassener die Krieger wurden, desto enger wurde ihr ums Herz. Sie waren ihre Brüder, diese jungen Leute, wenn sie auch ein bißchen sentimental und leicht erregbar waren wie alle Männer. Daß diese feste Brust da, an die sie sich lehnte, in wenigen Monaten zerrissen und ein von Maden wimmelnder Haufen Unrat sein sollte – o Gott, das konnte keine Sache wert sein, am allerwenigsten eine Sache, die darin bestand, die Vettern Adolph Klebs' abzuknallen!

Sie riß auf das Podium aus und nahm hinter den ungehobelten Fichtenbohlen, die als Büfett für die Erfrischungsgetränke dienten, den Platz eines blendend schönen Judenmädchens aus der Nachbarschaft ein – einer guten Sozialistin, die ihre Gesinnung nur vergaß, wenn sie die gutsitzende Uniform eines Offiziers sah. Melancholisch setzte sie sich auf einen Klappstuhl am Ende des Büfetts.

Ein Mann in Hauptmannsuniform kam gemächlich über das Podium und ließ sich mit einem Seufzer in einen Klappstuhl neben ihr fallen. Er sah aus wie ein wallisischer Evangelist; hager, bleich, mit unsicheren Händen, und einen flehenden Blick in den dunklen Augen. Er schien zwei bis drei Jahre älter zu sein als Ann – sie war jetzt sechsundzwanzig.

»Müde, Hauptmann?« fragte sie.

»Nein – ja – wahrscheinlich.«

»Ein bißchen Eiscream?«

»Himmel, nein! Ich hab eben oben in Zimmer siebzehn – bei dem schwachsinnigen Millionär – zu viel Whisky-Soda getrunken. Sechs Glas, glaub ich. Whisky-Soda. Und der verfluchte Mist daran ist, daß ich nichts davon spüre.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Und ich würde so gern was davon spüren.«

»Warum?«

»Damit ich vergessen kann, natürlich! Eh? Vergessen, wohin wir gehen. Ich bin Neurotiker – wie die meisten Wohlfahrtsarbeiter, die, die's nicht sind, sind blöd – aber trotzdem, ich würde gern wissen, wieviel von den anderen Helden da unten so Angst haben wie ich. Ja, Angst; Angst hab ich gesagt! Kurz vor dem Einschlafen – wenn man das überhaupt noch Schlafen nennen kann – seh ich immer einen großen Heinie, der in den Graben herunterspringt, mit dem Bajonett auf mich los, direkt auf meinen Bauch. Verflucht! Verzeihen Sie, daß ich Ihnen was vorheule wie ein kleines Kind! Sonst red ich nicht so. Aber heute hat ein dummes Mädel, mit dem ich getanzt hab, zu mir gesagt: ›Hauptmann, spießen Sie ein paar Fritze für mich aufs Bajonett, ja!‹ und das hat mir eben den Rest gegeben! Ich sollte mich schämen – –«

»Ach, ich kann das verstehen! Warum sollen Sie nicht sensibel sein, wenn das natürlich für Sie ist? Ich bin keine gewerbsmäßige Patriotin! Können Sie sich nicht – Sie sind Infanterist? – irgendwo anders hinversetzen lassen, wo Sie nicht – Sie wissen schon, Ihre Nerven liegen ja alle bloß; bei meinen wäre das wahrscheinlich genau so – wo Sie nichts mit Bajonetten zu tun haben?«

»Nein. Kann ich nicht. Eben weil ich ein verfluchter Neurot bin! Ich bin gerade einer von denen, die in den Graben gehen wollen, und dann raus und hinauf. Ich werd entweder wegen Feigheit – und Heulen während der Schlacht – erschossen werden oder die Kongreßmedaille bekommen. Nein; ich muß bei der Stange bleiben. Das bin ich mir schuldig!«

»Ich finde das schrecklich tapfer – obwohl es vielleicht töricht ist. Übrigens, ich heiße Ann Vickers – ich wohne hier.«

»Ich heiße Resnick – Lafayette Resnick – Lafe für süße Mädels wie Sie. Wo waren Sie am College?«

»Point Royal … Ich bin nicht süß! Nette Augen – das ist aber auch alles.«

»Nett? Entzückend! Und wunderbare Fesseln. Und, Jahve sei Dank, keine Magazindeckelschönheit. Ich hätte lieber hübsch sagen sollen – –«

»Wo haben Sie studiert, Hauptmann?«

»Bakkalaureus der Künste, Universität Minnesota. Magister der Künste, Chicago. Ich wollte den Doktor Phil. machen, Hauptfach Soziologie. Jetzt werde ich den Doktor wohl nicht mehr kriegen – nicht einmal rechtzeitig für meinen Nachruf – ›Leiche in entsetzlich verstümmeltem Zustand aufgefunden; sein Phi-Beta-Kappa-Schlüssel war von dem Bajonett fünfzehn Zentimeter tief in den Leib getrieben worden‹.«

» Hören Sie auf, ja

»Ja, Sie haben recht. Verzeihen Sie mir, Ann. Wirklich, ich bin nicht oft so. Die Whisky-Sodas haben wohl doch mehr auf mich gewirkt, als ich dachte. Timor in vino!«

»Und nach Ihrem Magister der Künste?«

»Das Übliche. Die Welt retten, besonders die Untauglichen – Leute wie ich selber, aber ohne das Hosenträger- und Nachthemdengeld von meinem Vater. Ein Jahr lang hab ich Unterricht an der Höheren Schule in Winnetka gegeben. Dann hab ich Filmkritiken in Milwaukee geschrieben – hören Sie, ich habe Victor Berger kennengelernt; Sie wissen doch, das ist der heilige Paulus der Sozialistischen Partei; Debs ist der heilige Johannes und der alte Karl der Messias. Ich bin an die Luft gesetzt worden, weil ich gesagt habe, was ich mir denke – eine schlechte Neurotikergewohnheit; Sie haben ja gemerkt, wie ich mir's heute abend dadurch fast mit ihnen verscherzt hab. Dann Überwachungsbeamter in Chicago – ob die Leute sich in ihrer Bewährungsfrist gut führen. Und jetzt Held!«

»Hören Sie auf!«

»Ich werd mir Mühe geben! Und was ist mit Ihnen, mein Schatz?«

»Ach – auch das Übliche. Arbeit für die Frauenrechtbewegung. Untersuchungen. Ein bißchen Ausbildung als Pflegerin.«

»Pflegerin? Dann treten Sie doch bei uns ein und kommen Sie rüber. Auf Wiedersehen in Paris.«

»Das ist die zweite Einladung, die ich heute bekomme.«

»Aber mir ist es ernst, schrecklich ernst. Der andere Bursche hat Sie einfach für ein süßes Mädel gehalten. Ich finde, Sie sind – ach, wenn Sie auf mich achtgeben würden, könnt ich mir vielleicht die köstlichen Neurotikerwonnen abgewöhnen und normal werden. Sie könnten mich sogar heiraten, bevor wir abtransportiert werden. Obwohl nur der liebe Himmel weiß, was Sie davon hätten! Aber ich hab eben zufällig noch nie ein Mädel gehabt, das Manns genug war, mich herumzukommandieren und zu bemuttern, und dabei lieb genug zum Gernhaben. Die Einladung à les noces ist übrigens ganz ernst gemeint, Ann.«

»Zur – – Ach ja. Schön, sie ist ernsthaft entgegengenommen und registriert.«

»Wir werden Ihnen Mitteilung zukommen lassen, falls es Urlaub gibt. Ach, ich weiß! Ihnen ist es nicht ernst damit, fürchte ich. Oder haben Sie vielleicht einen netten, nützlichen intellektuellen Gatten im Hintergrund?«

»Nein, Hauptmann; wenn Ihnen wirklich was daran liegt, es zu wissen: das ist der erste Antrag, den ich in meinem Leben bekommen habe. Und ich habe immer gemeint, daß ich Talente zum Bemuttern habe – das meinen wohl die meisten Frauen – aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich nicht so stumpf und zuverlässig bin, wie ich aussehe. Ich hab auch Nerven unter dem Speck.«

»Nicht Speck!«

»Jedenfalls Anlage dazu. Wenn ich nicht Gymnastik triebe. Ja, bei mir ist eine ganz gehörige Portion Nerven versteckt. Ich hab einmal einen Schutzmann gebissen!«

»Ich bete Sie an! Gehen wir doch weg aus dieser – dieser verdammten soldatisch-jiddischen Atmosphäre. Ein bißchen zu koscher – –«

»Aber sind Sie nicht – –?«

»Natürlich bin ich, Dummchen! Großvater Rabbi (behauptet wenigstens mein Vater; aber ich glaube, nebenbei hat er eine Schlächterei gehabt). Können wir nicht – Sie wohnen hier? Haben Sie ein nettes Wohnzimmer oder sonst etwas, wo wir nicht hören müssen, wie die Leute hier die Melodie von dem, was sie singen, auf die Melodie von den Liedern auf der Straße aufzupfropfen suchen?«

»Nein, bloß ein Einzelzimmer, sehr einzeln, unter den wachsamen Augen der Vorsteherin.«

»Ist sie giftig?«

»Na, ich würde sagen, tüchtig.«

»Dann gehen wir doch – ich weiß ein Restaurant – also, gegenüber von meinem Hotel ist eines, wo ein kühner Soldat in Uniform was zu trinken bekommen kann, als ob er so erwachsen wäre wie ein Zivilist. Ich wohne im Hotel Edmond am Irving Place – kleines Hotel, kennen Sie wahrscheinlich nicht, sehr respektabel, lauter Intellektuelle verkehren dort; die Leute geben einem Nummern der Nation und der New Republic statt einer Gideon-Bibel. Gehen wir doch dorthin was trinken … Hätten Sie was dagegen, ein Glas zu trinken?«

»Nein, wenn's ein Glas ist, nichts. Aber ich kann nicht weg. Ich sollte längst wieder unten sein. Die ganze Chose da steht mehr oder weniger unter meiner Leitung.«

»Wollen Sie morgen abend mit mir essen?«

»Ja.«

»Holen Sie mich im Edmond um sieben ab?«

»Ja.«

 

Sie war sich ziemlich im klaren über seine »Absichten«, wie man das höflicherweise nannte. Über die ihren war sie sich durchaus nicht im klaren. Sie hatte nichts dagegen, »ihn zu bemuttern«. (Widerliche Predigerphrase, mußte sie denken!) Aber sie wußte nicht recht, ob sie, die jetzt Sechsundzwanzigjährige, die auf das Altjungferntum zusteuerte, nicht noch sehr viel mehr wollte. Angst hatte sie entschieden nicht vor ihm. Sie wußte, daß es ihm mit seinem Antrag unglaublicherweise ernst gewesen war – für den Augenblick. Konnte sie diesen Antrag in Betracht ziehen? Er hatte eine Gänsehaut aus zuckenden Nervenenden. Er würde vor Scheu grausam und vor glühend heißer morgenländischer Leidenschaft kalt sein; er würde sie belügen und ihre Seele kneifen und zwicken. Aber er würde gescheit sein; er würde angenehme Berührungspunkte kennen, würde ihr eine Welt zeigen, so bunt wie das Geographiebuch – nicht bloß braune gewöhnliche Erde, sondern purpurrot und gelb und blau und leuchtend grün. Er würde sie quälen, aber sicherlich würde er niemals bieder und plump und spaßhaft sein wie alle Männer, die sie gekannt hatte, alle außer Adolph und Glenn Hargis.

Nun. Sie wollte klug sein. Nicht verschlampt romantisch wie die Mädchen aus dem Armenviertel, die immer »Geschichten hatten« und zu ihr um Hilfe gelaufen kamen. Sie wollte sich Lafayette Resnick gegenüber nicht anders verhalten, als sie es gegenüber Pat Bramble täte.

»Nein. Lafe. Nicht Lafayette. Das ist jedenfalls immer noch besser als Irving oder Milton oder Sidney!«

 

Einviertel nach sieben war sie im Hotel Edmond. Sie mußte die Sechsundzwanzigste Straße hinauf- und wieder zurückgehen, um so spät zu kommen, wie ihr Stolz es verlangte.

Sie hatte daran gedacht, ihr neues blaues Kostüm anzuziehen – im Kostüm sah sie am elegantesten aus – aber so sehr Lafe auch davon reden mochte, daß er an Frauen Vernunft schätze, waren sie ihm doch sicherlich ganz unverständig weiblich lieber, und so hatte sie etwas Abendkleidartiges aus zart fliederfarbenem Stoff angezogen, worin sie, wie sie schüchtern hoffte, so zart aussah wie Pat. »Auf jeden Fall hab ich einen guten Mund und eine hübsche nette Haut«, brummte sie vor sich hin, während sie sich anzog – fünf Minuten, nachdem sie eine jüdische Stenotypistin ausgescholten hatte, weil sie von ihrem Gehalt so viel für durchbrochene Strümpfe und so wenig für frisches Gemüse ausgab.

Sie war neugierig, wie Lafe aussehen würde. Sonderbar – sie hatte nichts als seine Augen in Erinnerung, Augen wie die eines scheuen Wildes, das in einer Falle gefangen ist.

In der bescheidenen Halle des Hotels Edmond, deren Wände mit roter, von falschen Marmorsäulen unterteilter Sackleinwand bespannt waren, saßen respektable ältere Damen mit bekümmerten Literatengesichtern und nicht ganz ordentlichen Frisuren herum. Sie alle sahen so aus, als wären sie von Landwohnungen in Neuengland nach New York gekommen, um mit Zeitungsherausgebern über ihre Beiträge, mit verheirateten Töchtern über ihre neuangekommenen Enkel oder mit soeben eingerückten Söhnen über die Möglichkeiten eines Offizierspatentes zu sprechen, und als ob sie, in allen diesen Fällen, Enttäuschungen erlebt hätten. Sie saßen in Lehnstühlen aus falschem Mahagoni da und warteten. Es war ein Warteraum, und die Luft war ein wenig schal.

Durch diese Atmosphäre sanft rinderhafter Bekümmertheit flitzte Hauptmann Resnick, und er glich wirklich einem scheuen braunen Reh, wie sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Er war rasch und braun und schlank, und das freudige Aufleuchten in seinen Augen, die beiden mageren Hände, die nach ihren griffen, lösten all ihre Zweifel, gaben ihr das sichere Gefühl, daß sie einander schon lange und gut kannten.

»Kommen Sie in mein Zimmer hinauf, wir trinken einen Schluck und gehen dann gleich los.«

»Gut.«

Es war ein ziemlich schäbiges, kleines »Appartement«, ein ganz winziger Raum mit jeglicher Bequemlichkeit abholden braunen Plüschstühlen und Farbdrucken von kleinen Mädchen mit idiotischen Tieren: Hündchen, Katzen und Tauben, die in höchst unhygienischer Weise ihren Herrinnen vom Mund aßen. Lafe hatte einen seidenen Chrysanthemen-Kakemono und eine zerdrückte, abgegriffene Goetheausgabe in gepreßtem Saffianleder hinzugefügt, wodurch der Raum, soweit das möglich war, noch etwas trübseliger wirkte. Das einzige, was das Zimmer wirklich freundlicher machte, war Lafe selbst mit seinem fröhlichen Wesen, der nicht mehr unter der Depression des vergangenen Abends litt.

»Sollen wir uns ein bißchen die Stadt zusammen ansehen, ja?« fragte er, während er einen Cocktail einschenkte. »Ich habe eine Woche Urlaub, dann muß ich mich im Camp Lefferts in Pennsylvania melden. Kennen Sie viel von New York?«

»Nein. Kaffeeklatsch und Blinsen und gehackte Leber. Zionismus und die Stickerinnen, Weißnäherinnen und Schneiderinnen und die Plisseenäherinnengewerkschaft. Der Corlears-Hook-Theaterverein mit einer jiddischen Aufführung der Gespenster. Konzerte in der Carnegie Hall. Das Metropolitanmuseum und Grants Grabmal. Und eine Kneipe, wo man eine halbe Flasche Rotwein zum Menu für fünfundsiebzig Cent bekommt. Das ist alles. Aber das wird wohl nicht alles sein, was es in New York gibt!«

»Ist es auch nicht! Es gibt absonderliche altmodische amerikanische Lokale, wo keine Juden und keine Ungarn hinkommen, sondern Ausländer aus Neuengland, die noch immer Haschee aus Corned beef und Muschelragout mit Bohnen und braunes Brot essen. Die wollen wir suchen gehen!«

»Ich bin schrecklich angebunden im Wohlfahrtshaus, wissen Sie. Ich bin zweite Vorsteherin.«

»Wirklich? Meinen Salaam! Aber ich repräsentiere das Heer der Vereinigten Staaten. Ich rette Sie vor der deutschen Invasion. Denken Sie doch! Nur eine Woche habe ich noch, bevor – – Und diese ganze Woche werde ich dazu brauchen, wieder gutzumachen, daß ich mich gestern abend Ihnen gegenüber so idiotisch benommen habe mit meinem ununterbrochenen hysterischen Gefasel! Sehen Sie, ich hatte eine unglückliche Kindheit. Mein Vater und meine Mutter und – –«

Ann saß auf dem holprigen Diwan im Wohnzimmer; Lafe hockte zu ihren Füßen und interpunktierte, was er erzählte, mit Bewegungen seines leeren Cocktailglases.

»– und Vettern und Tanten und Onkel, und alle – und Sie wissen doch, wie schlimm das für ein Kind mit Phantasie ist – alle verstanden sie mich völlig! Ich war nervös und erregbar. Schön, das beachteten sie gar nicht! Juden sind zu intelligent, um zu glauben, daß Schmerzen oder irgendwelche Heldenhaftigkeiten, die sich nicht lohnen, auch nur das Geringste mit Tugendhaftigkeit zu tun hätten! Dann war ich schwärmerisch und poetisch. Schön, sie ermunterten mich noch – es machte ihnen Freude, Neunundvierzigcent-Overalls zu verkaufen, um mir Bücher besorgen und mich in eine Vorbereitungsschule schicken zu können. Ich wollte Forschungsreisender werden, Chemiker, Aktienmakler in New York, Komponist, Anarchist, christlicher Missionar. Schön, mach nur!

Auf dem College stieß ich auf ein paar Vorurteile – nicht viel – und meine Vorurteile hinsichtlich der langweiligen angelsächsischen Geschmacklosigkeit der Gois waren ebenso groß, so daß sich alles ausglich. Ich hatte niemals zu kämpfen. Deshalb hat es mich auch, nachdem die erste Abenteuererregung einmal vorüber war, so sehr erschreckt, ins Feld zu gehen. Wozu werd ich im Schützengraben gut sein? Brisanzgranaten explodieren!«

Er klammerte sich an ihre Hand; impulsiv beugte sie sich vor, um ihm übers Haar zu streichen, das nicht weich war wie ihres, sondern verwirrend männlich; dick, hart, glatt und schwarz wie eine Pferdemähne. Er kam ihr – gerade in diesem Augenblick – so fröhlich vor, so überaus zart, weil er sich so ehrlich zu seiner Furcht bekannte, während die anderen jungen Soldaten unbekümmerten blonden Heldenmut spielten. Als er ihre Hand, an der schmalen Außenseite, küßte, als sie bewundernd den kräftigen Muskel unterhalb seines Kiefergelenks berührte, entsetzte sie die Vorstellung, daß er, ein vertrocknetes ledernes Etwas, im wahnwitzigen Zickzack eines Stacheldrahtverhaus hinge. Ohne ihre Hand loszulassen, sie immer leicht mit seiner warmen, trockenen Handfläche festhaltend, begann er Geschichten aus seiner Knabenzeit zu erzählen, stets mit humorvoller Mißbilligung seiner eigenen Exzentrizität, seines orientalischen Rot inmitten des Oktoberbraun bayrischer Katholiken und des Eisblau von Minnesota-Schweden und Norwegern und Vermontern. Wie er das griechische Alphabet aus einem Wörterbuch gelernt und im ganzen Knabenreich großen Eindruck gemacht hatte, indem er absang: »Alpha tau omega tau zeta omikron!« Mit welcher Innigkeit er die Methodistenkirche bewundert hatte und ihre mystischen, unbegreiflichen Hymnen, wie »O Fels vom Alter her, verhöhne mich«.

Er sprang auf und rief: »Essen wir hier, lassen wir uns was heraufbringen. Sie haben doch nichts dagegen? Für mich wird das einfach himmlisch sein nach den vielen Monaten, in denen ich nie allein war – zusammengepfropft in Kasernen, in Zügen, immer so herzlich und gesellig!«

»Nein, ich habe gar nichts dagegen!«

Sie war darauf gefaßt, daß er noch mehr angeben würde als seinerzeit Dr. Glenn Hargis beim Präsentieren seiner Flasche Rüdesheimer auf dem Berg oben. Aber Lafe Resnick bestellte mit der größten Selbstverständlichkeit Essen beim Zimmerkellner, holte eine Flasche Burgunder aus einer Kommodenschublade heraus, redete weiter und brachte sie zum Sprechen. Sie merkte, daß sie von Waubanakee und Point Royal, von Mamie Bogardus und dem Gefängnis erzählte. Zu ihrer Überraschung überlegte sie laut, wozu das alles eigentlich sei; ob sie nicht »ebenso viel geleistet« hätte, wenn sie Sekretärin eines Bankiers geworden wäre; blieb aber hartnäckig dabei, daß sie sich, Leistung oder nicht Leistung, weder vom Beruf noch von der Ehe werde auffressen lassen.

Plötzlich war es auf ihrer Armbanduhr ein Viertel vor elf, und sie saß in einem warmen Burgunderbad mit ein oder zwei winzigen Kognaks. Lafe kauerte da, den Kopf an der Couch, seine Wange an ihr Knie gelehnt. Halb unruhig und halb bedauernd murmelte sie: »Schon so spät! Ich muß rasch weg!«

Er hob langsam den Kopf, sah wie nicht ganz bei sich auf seine Uhr. »Ist es spät? Ein Viertel vor elf. Ist das spät? Müssen Sie gehen?«

»Ja! Wirklich!«

»Das tut mir sehr leid – Sie liebes Geschöpf. Ich wollte, Sie blieben da. Sie haben mich von mir reden lassen! Aber morgen abend werden Sie wieder mit mir essen – Sie müssen; nur eine Woche, denken Sie daran! – und ich werde kein einziges Wörtchen von dem tapferen Hauptmann Resnick sagen! Sie werden kommen?«

»J–a, wenn ich eine Verabredung umlegen kann. Rufen Sie mich morgen vormittag an.«

»Gute Nacht, Liebe!«

An der Tür küßte er sie, und als sie im Korridor stand, war sie ganz benommen und verblüfft von dem Feuer dieses Kusses, der ihre ganze Individualität weggeglüht hatte, so daß sie eine Sekunde lang nicht ein Einzelwesen gewesen war, sondern ein Fleisch mit ihm, zusammengeschmolzen mit ihm in einer elektrischen Stichflamme.

In der Untergrundbahn, als sie sich im Schaukeln der Wagen wiegte, sich in der Erinnerung an ihn wiegte, sahen ihre Augen nichts.

Es verwirrte sie, als sie um drei Uhr morgens aufwachte und sich nicht darauf besinnen konnte, wie Lafe ausgesehen und wie er gesprochen hatte. Selbst in diesem Augenblick ahnte sie nicht, daß sie ihn nicht ein einziges Mal gesehen und nicht ein einziges Mal gehört hatte; daß sie von der ersten bis zur letzten Sekunde in sein aufschneiderisches Gewinsel all die kluge Tapferkeit hineingelegt hatte, nach der es sie schon lange beim Mann verlangte, und in seine funkelnden Augen eine reinigende Leidenschaft, die nicht das mindeste mit ihm zu tun hatte, sondern einzig die Projektion ihrer eigenen Sehnsucht war.

Davon wußte sie nichts.


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