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17

Ebenso, wie man eine strafbare Handlung begeht, wenn man einem verurteilten Mörder dabei behilflich ist, den Staat um sein heißgeliebtes Blutvergießen zu betrügen, indem man dem Mann Gift gibt und ihn anständig und allein, ohne die sadistische Parade von Priestern, Gefängniswärtern und Reportern sterben läßt, ebenso macht man sich eines Verbrechens schuldig, wenn man einer Frau, die zu dem zischenden Klatsch verurteilt ist, der schlimmer sein kann als der Tod, beisteht, indem man ihr hilft, das nicht zu haben, was man seltsamerweise ein »illegitimes Kind« nennt – mit derselben Berechtigung könnte man von einem »illegitimen Berg« oder einem »illegitimen Orkan« sprechen. Ein Arzt, der dafür sorgt, daß eine reiche Frau im Bett liegen und nervös bleiben kann, ist ein großer und guter Mann; ein Arzt, der ein Mädchen vor der gesellschaftlichen Ächtung bewahrt, ist ein lästiger Störenfried, der die Gesellschaft um das Vergnügen ihrer Bösartigkeit gebracht hat und darum zu Recht ins Gefängnis kommt. Infolgedessen ist es für anständige Leute schwer, einen Abtreiber zu finden, und nur die notorischen Sünderinnen werden für ihren ernsthaften Kult des Lasters dadurch belohnt, daß sie aus den damit verbundenen Unannehmlichkeiten Auswege zu finden wissen.

Wäre Ann eine Taschendiebin oder eine berufsmäßige Spielerin gewesen, so hätte sie mit Leichtigkeit einen zuverlässigen Abtreiber für Tessie Katz finden können. Da sie eine fleißige Arbeiterin für die Allgemeinheit war (gegen ungefähr ein Viertel des Gehalts, das eine gute Versicherungsagentin, und gegen ein Zehntel der Gage, die eine munter zotenreißende Schauspielerin bezieht), war es für sie so schwierig, Informationen über Abtreiber zu bekommen, wie über herrenlose Diamantenminen. Sie flüsterte mit Kolleginnen aus der Wohlfahrtsarbeit, sie machte Dr. Malvina Wormser Andeutungen, und erst als sie daran dachte, daß Eleanor Crevecoeur ein vergnügtes Sündenleben führte, fand sie die Adresse des rettenden Engels. (Eleanor hatte sechs Adressen von sogenannten »Spezialisten«, die garantiert sorgfältig, billig und diskret waren, sauber mit Telefonnummern notiert, in ihrem kleinen schwarzen Buch.)

Die besten Empfehlungen hatte ein ziemlich junger italienischer Arzt auf dem East Broadway. Ann ging hin und fand einen munteren, kichernden Filmdoktor mit gestutztem Schnurrbart und kleinem Kinnbärtchen.

»Ich, hm – ich möchte Sie in einer sehr diskreten Angelegenheit sprechen«, sagte Ann zögernd und kam sich wie eine Landpomeranze vor, keineswegs wie eine abgebrühte Fürsorgerin. Zwischen den verschwiegenen Vorhängen des Sprechzimmers (in dem sie ganz unbelauscht waren: außer der Sprechstundenschwester des Doktors, seiner Sekretärin und einem anderen Retter der Menschheit, die in aller Ruhe hinter den Vorhängen auf ihn warteten, hörte ihnen keine Seele zu) gab Ann ihrem Herzen einen Stoß: »Doktor, ich bin in einem Wohlfahrtshaus angestellt. Wir haben da ein armes Mädchen, einfache Arbeiterin mit niedrigem Lohn, die – also sie hat Dummheiten gemacht. Der Mann will sie nicht heiraten, und ihre Eltern würden sie rauswerfen. Es wäre eine gute Tat, ihr zu helfen. Sie hat natürlich kein Geld, aber ich würde – ich habe kein großes Gehalt, aber ich würde dafür sorgen, daß Sie Ihr Geld bekommen, und zwar gleich, wenn Sie einen vernünftigen Preis machen.«

Der Doktor lachte brüllend. (Er war ein gutmütiger Mensch, der drei Verwandte in Amerika und fünf in Italien unterstützte. Er spielte die Klarinette und war ein Championschwimmer.) Er beugte sich über Anns Stuhl, streichelte ihr die Schulter und redete ihr zu: »Na, na, kleines Mädchen! Sie brauchen vor dem Doktor keine Angst zu haben! Das ist doch unser Beruf. Es ist Krieg – ich weiß, wie's ist. Vielleicht geh ich selber rüber an den Piave – und Gott weiß, wieviel wütende Mädchen ich zurücklassen werde! Aber ja – der Krieg – es ist doch ganz normal, Kleines – und Sie sehen aus, als wenn Sie eine großartige Geliebte wären! Wann war die letzte Periode?«

»Wann – – Ich sag Ihnen doch, es handelt sich nicht um mich! Was fällt Ihnen ein! Lächerlich! Ich sage Ihnen, es ist eine kleine Jüdin, einer von meinen Fällen!«

»Und Sie wollen für sie bezahlen, von Ihrem Gehalt als Sozialreformerin? Hmmmm. Schön, Sie werden auch wirklich – sogar Doktors müssen leben, wissen Sie – ich werde Sie um Vorauszahlung bitten müssen.«

»Gut. Wieviel?«

»Nun – nun – – Also schön, unter fünfzig Dollar kann ich's unmöglich machen, und das ist schon reine Nächstenliebe.«

»Gut. Wann soll ich mit ihr kommen? (Das Geld bringe ich mit.) Und was würde es Sie kosten, sie hier oder an einem sicheren Ort die drei oder vier Tage danach unterzubringen, damit es nicht so gefährlich ist?«

»Zehn Dollar den Tag. Ich habe oben ein schönes Zimmer. Das ist einschließlich Pflegerin, die nach ihr sieht, und ich werde auf sie achtgeben, als ob sie meine eigene Schwester wäre. Verlassen Sie sich darauf, ich werd ihr das schon gut machen. Sie werden zufrieden sein – Sie werden sehen, Sie schicken mir sicher noch die ganzen Mädels aus dem Wohlfahrtshaus. Sie sind eine nette gebildete junge Dame – das hab ich gleich gesehen, wie Sie hereingekommen sind – das war bloß ein Witz, als ich sagte, Sie wären's und nicht die Jiddin.«

 

Ann schwankte, als sie zur Untergrundbahn ging. Sonderbar, wie schwach sie sich jetzt manchmal fühlte.

Auf dem Hinweg zum Doktor hatte sie daran gedacht, ihn nicht nur für Tessie, sondern auch für sich selbst zu konsultieren. Unmöglich! Unmöglich!

Es war nicht physische Angst. Sie war überzeugt davon, daß der kleine Schuft von Doktor sein Geschäft verstand, aber auch wenn es gefährlich gewesen wäre, hätte sie keine Angst gehabt. Sie empfand keine Angst vor dem Tod jetzt. Es wäre eine so klare Lösung ihrer Schwierigkeiten gewesen, wenn sie gestorben wäre. Aber sie hatte ihre Würde als Sozialarbeiterin, als Arzt für gequälte Seelen und schmerzende Portemonnaies, es wäre unerträglich gewesen, sich diesem munteren kleinen Quacksalber auszuliefern.

In den letzten Tagen hatte sie gemeint, sie würde es natürlich ebenso machen wie Tessie. Vielleicht existierte dieser Ausweg für sie nicht mehr.

Selbstmord?

Aber sie konnte das Wort nur vor sich hinsprechen. »Selbstmord.« Es war bloß ein Wort, phantastisch und bedeutungslos wie »Abrakadabra«; sie konnte sich nicht vorstellen, daß die vielbeschäftigte Ann Vickers eine so humorlose Handlung beging. Feierlich herumlaufen und alberne Papierstreifen in die Türritzen stecken und den Gashahn aufdrehen! Das beste Nachthemd anziehen und sich sorgfältig ein Loch in den Kopf schießen! Blödsinn!

»Entweder hab ich zu wenig Phantasie, oder zu viel, ich weiß nicht!«

Dann also das Kind kriegen! Die Schande auf sich nehmen! Schön! Einen anderen Namen annehmen, das Kind nehmen und ehrlich mit Tellerwaschen sein Brot verdienen!

»Ja, das hört sich so leicht an«, verhöhnte sie sich selbst. »Aber wie würde dir das Tellerwaschen gefallen, so für immer! Und vielleicht schaffst du es nicht mal!«

O großer Gott! Was soll eine Frau tun, die dumm genug gewesen ist, ihre Würde und ihren Egoismus zu vergessen und ihr ganzes Selbst einem anderen Menschen zu schenken; die so naiv gewesen ist, zu glauben, den Weisen sei es ernst, wenn sie predigen, die Liebe sei eine höhere Art zu leben als harte Gefühllosigkeit oder kichernde Sittsamkeit; die ernsthaft an die Sage geglaubt hat, Tristan und Isolde und Romeo und Julia, und das Hohelied Salomonis, pflichtgemäß von allen protestantischen Kanzeln verlesen, seien etwas Höheres als die Redensarten des Polonius? Wo gibt es einen Ausweg für eine Frau, die offenbar vom Allmächtigen Gott gemäß Seinen regulären biologischen Gesetzen geschaffen ist, und nicht von einer Sekretärin der Vereinigung Christlicher Junger Mädchen.

 

Tessies Operation verlief (Ann mußte sich gestehen, daß das nicht immer so war) gut und kunstgerecht. Nach einer Woche war sie wieder an der Arbeit, ein bißchen schweigsam, das Rouge auf ihren eingefallenen Wangen hob sich mehr ab als früher, aber gerettet vor dem gesellschaftlichen Todesurteil.

Sie wurden Freunde, Ann und die Pelzarbeiterin. Tessie hatte von dem italienischen Doktor und seiner munteren Krankenschwester viele unmoralische und faszinierende Dinge erfahren. Ann lernte von ihr (sie sah dabei Tessie nicht an, sondern beugte sich über das Majolikageschirr), daß der Abort nach dem dritten Monat wegen höchster Gefährlichkeit unmöglich ist.

Und sie war jetzt drei Monate weit im Verderben drin.

Vierzehn Tage lang hatte sie wieder keinen Brief von Lafe Resnick bekommen, und dann nur eine gekünstelt lustige Anekdote von einem betrunkenen Oberst und eine Andeutung weiterer Intimität mit den Birnbaums … was für ein gerissener alter Advokat der Vater wäre, und was für reizende Mädchen Leah und Doris.

Keine Silbe davon, wann er nach Frankreich kommandiert würde, oder wann er durch New York käme.

»Ich muß ihn sehen! Ich fahr hin ins Lager! Vielleicht wundert er sich, warum ich nicht komme – denkt, ich will nicht?« tobte sie, zum hundertstenmal, und zum hundertstenmal mußte sie sich sagen: »Ach, er ist kein so schüchternes Veilchen. Er kann schon reden. Er würde es sagen.«

Aber trotz all ihren Qualen mußte Ann sich eingestehen, daß sie sich nie so wohl gefühlt hatte. Sie konnte vierzehn Stunden am Tag arbeiten. Ihre neue Gleichgültigkeit gegen ihren guten Ruf unter den Kolleginnen machte sie waghalsiger und energischer. Sie entdeckte einen Kaufmann, der früher einmal arm und jüdisch, dann ein wohlhabender Mann und Antisemit gewesen und jetzt, auf der Höhe seiner Laufbahn, reich und von oben herab judenfreundlich geworden war, und überredete ihn, auf seinem Grundstück in Long Island ein Lager für die jüdischen Pfadfinder einzurichten. (Noch heute würden die umwohnenden Long Islander, wüßten sie nur ihren Namen, Ann verfluchen, wenn sie in aller Frühe von den Nachkommen Gideons geweckt werden, die sich in der Fontäne auf dem Rasen waschen und ohne Hemmungen »O wie liegt so weit« singen.)

Sie brachte den Mädchen im Wohlfahrtshaus bei, ihre Klassenzimmer richtig sauber zu machen. Unbarmherzig entließ sie die keusche ältliche Dame, die bis dahin Sexualhygiene gelehrt hatte, und ersetzte sie durch eine redselige junge Frau, die etwas wußte. (Alle Fürsorgerinnen, insbesondere die Vorsteherin, gaben ihrer Entrüstung über diese Härte Ausdruck und waren sehr erleichtert, daß sie die ältliche Dame los wurden.)

Es ging das Gerücht um, daß die Vorsteherin ihr Amt aufgeben würde und Ann ihre Nachfolgerin werden sollte.

Sie hörte davon und lächelte grimmig. Ehe es so weit kam, war sie schon draußen.

Sie entfloh der neugierigen Freundlichkeit ihrer Kolleginnen und aß allein, sooft sie konnte.

Eines Abends, etwa fünfzehn Wochen nachdem sie Lafe an den Zug gebracht hatte, ging Ann in das Erdgeschoß des Brevoort, um ein einsames Dinner zu verzehren. Der Raum, dem die Spiegel längs der Wand etwas Französisches gaben, summte von literarischen Gesprächen, aber Ann kannte weder Autoren noch Verleger. Sie fühlte sich geborgen, als sie einen kleinen Tisch an der Wand im mittleren der Räume nahm. Mit angenehm vulgärer Vorfreude bestellte sie die gespickte Rinderlende, die Schnecken, den Haut Sauterne. Sie hob den Kopf, klopfte mit der Ecke der Menukarte auf den Tisch und überlegte, wo sie kostenlose Textbücher und einen billigen Lehrer für den Elementarkurs in Russisch hernehmen könnte, der aus zwei Hutarbeiterinnen und einer verehrungswürdigen christlichen Atheistin bestand. Plötzlich wurde ihr Blick scharf. Es lief ihr kalt über den Rücken. Aus dem Wirrwarr unbekannter Gesichter sprang das des Hauptmanns Resnick heraus.

Aber er hatte auf den Schultern nicht die doppelten Hauptmannsstege, sondern die goldenen Majorsblätter. Und er speiste, tête-à-tête und viel zu absorbiert, um Anns Eintritt bemerkt zu haben, mit einem Mädchen: ganz weiße Seide, junges Fleisch und Haar wie schwarzes Glas.

Es war eine solche Katastrophe, daß Ann überhaupt nichts empfand.

Sie spießte ihre Schnecken auf wie ein ernsthaftes kleines Mädchen, das im Garten mit Muscheln spielt. Sie aß nicht die Hälfte davon. Mit ernstem Gesicht zerschnitt sie ihr Fleisch, aber sie schmeckte nichts.

Dann sah Lafe auf. Sie wußte später nicht, ob sie ihm zugenickt, ihn angelächelt oder ihn geschnitten hatte, oder, in ihrer Verlegenheit, alles auf einmal. Er zögerte. Dann sprach er drängend und vertraulich zu dem Mädchen, das ihm gegenübersaß, und kam etwas unsicher auf Ann zu, mit einem ausgestopften Lächeln auf dem Gesicht. Er beugte sich über sie, küßte ihr mit wunderbarer spanischer Geste die Hand und blubberte: »Liebling! Das ist ja herrlich! Ich bin grade vor einer halben Stunde in die Stadt gekommen. Eben wollte ich dich anrufen. Ich mußte die Tochter eines Freundes von mir begleiten – das ist sie da drüben – Leah Birnbaum – nettes Mädchen aus Scranton, aber nur ein Kind natürlich – ich hab ihrem Vater versprochen, sie in die Stadt zu bringen. Aber ich setz sie im Hotel ab, und nach acht bin ich frei – spätestens um neun. Du mußt deinen Kaffee mit uns trinken, wenn du mit dem Essen fertig bist. Sie wird sich schrecklich freuen, dich kennenzulernen – sie ist natürlich nur ein Kind, einfach ein Backfisch, obwohl ganz klug für einen Flapper, und natürlich hab ich ihr alles mögliche von dir erzählt, wie wunderbar du einem Mut machen kannst und – äh – ach, sie wird sich schrecklich freuen, dich kennenzulernen und – – Hör mal! Hast du Zeit nach neun – oder sagen wir neun dreißig, um ganz sicher zu gehen? Ich muß noch ein paar Leute anrufen. Kannst du dann ins Edmond kommen?«

Sie ließ ihn stammeln, ohne ihm auch nur mit einer einzigen Unterbrechung zu Hilfe zu kommen. Dann antwortete sie ernsthaft: »Nein, das ist unmöglich. Aber ich muß dich wirklich sprechen. Komm ins Wohlfahrtshaus, meinetwegen um zehn, wenn du willst. Dann hast du Zeit, dich von deiner Leah zu verabschieden. Oh, entschuldige. Aber wirst du kommen, um zehn?«

»Ja – gut.«

Sie trank nicht mit ihnen Kaffee. Sie ging stumm hinaus. Als sie wieder im Wohlfahrtshaus war, hatte sie das feste Gefühl, er werde zu spät kommen; aber zehn Minuten vor der Zeit wurde er gemeldet.

»Natürlich! Was für eine schlechte Psychologin ich bin. Er muß früh kommen. Das gibt ihm einen Vorteil über mich«, überlegte sie auf dem Weg von ihrem Sprechzimmer zum Hauptkorridor, wo er wartete.

Seltsam, wie ihr das Gesicht, das sie früher aus der Mitte jeder Gruppe von Menschen heraus vertraut und persönlich angesehen hatte, jetzt unter den schwatzenden Schülerinnen im Korridor durchschnittlich und uninteressant erschien.

»Gehen wir hinunter. Wir können ungestört sprechen«, sagte sie. Sie führte ihn ins Klubzimmer D, wo Tessie gebeichtet hatte – wo sie sich selbst gebeichtet hatte.

Aufrecht saß sie in einem Lehnstuhl. (Später, als sie die Szene wieder durchlebte, haßte sie sich für diese überlegene Beherrschtheit. Warum hatte sie nicht großartig und leidenschaftlich sein können?)

Er schloß die Tür und stand da, die Finger der rechten Hand gegen die Wand gespreizt, als wenn er einen Halt suchte. Er weinte fast. »Ann! Ann! Was ist? Was habe ich getan? Ich wollte dich überraschen!«

»Das hast du getan! (Entschuldige!) Bitte, sei ehrlich! Ich kann es ertragen. Bist du mit der kleinen Birnbaum verlobt?«

»Verlobt? Du lieber Gott, nein!«

»Dann sollen wir beide also fröhlich heiraten?«

»Ich muß sagen, meine Gute, du siehst mir nicht so aus, als ob du so furchtbar scharf drauf wärst!«

»Bist du es?«

»Also – ja, ich bin's.«

»Wann? Du bist wohl auf dem Weg nach Frankreich, denk ich.«

»Du scheinst eine Menge Dinge zu denken, die nicht so sind! Ach, verzeih. Ich meine nur – es ist nicht so eilig, wie du denkst; wir haben Zeit genug, uns zu überlegen, was wir wirklich tun wollen. Ich bin nämlich in die Personalabteilung versetzt und Major geworden – das hast du vielleicht bemerkt! – und ich brauch vielleicht überhaupt nicht nach Frankreich zu gehen. Auf jeden Fall bleib ich noch ein paar Monate in Lefferts.«

»Ach, dann haben wir natürlich gar keinen Grund, uns zu beeilen.« Sie hatte versucht, nicht bitter zu werden; es war nicht gelungen. »Ich gratuliere. Obwohl du dir nicht die Mühe gemacht hast, mir das mitzuteilen, überhaupt zu schreiben.«

»Ich hatte schrecklich – –«

»Aber ich will Klarheit in dieser Sache. Ich bin nicht neugierig – also, nicht mehr, als normal ist. Ich muß nur wissen, woran ich bin. Du hast Leah ziemlich gern, nicht wahr? (Ich hab euch beide beobachtet.)«

»Ach ja, so ein bißchen onkelhaft – –«

»Huh!«

»– aber was ist schon daran? Junggesellen im Lager, nicht wahr?«

»Nur das: ich – das heißt du und ich – wir kriegen ein Kind.«

»Du lieber Gott!«

»In nicht ganz sechs Monaten jetzt. Also?«

»Ach, ich heirate dich! Verdammt, ich heirate dich! Ich halt mein Wort!«

»Das ist alles, was ich wissen wollte. Wir werden nie heiraten. Sei zu Leah besser! Gute Nacht!«

Sie entfloh durch eine Seitentür des Klubzimmers, bevor er sie aufhalten konnte, sie floh in ihr Zimmer und dachte, sie müßte weinen, aber sie tat es nicht. Plötzlich saß sie auf ihrer Bettkante und lachte, rauchte eine verbotene Zigarette und fühlte sich frei und entschlossen. Weinen? Aber warum denn, es war ja komisch! Das Ganze war allzu komplett, richtiger Film: das unschuldige Mädchen vom Lande wird von dem Don Juan aus der Großstadt verführt, der sich dann seinerseits mit der reichen Erbin verlobt und sein Opfer nicht heiraten will.

Es weinet die zarte Schönheit, unglücklich und in Lumpen gehüllt! Heraus mit dir, zorniger Vater mit Kinnbart und Revolver! Leg die Finger auf das Adreßbuch, das ein Arbeiter mit der Aufschrift »Bibel« überklebt hat, und schwöre einen Eid: »Rache, beim ewigen Gott!« Auftritt der wackere Liebhaber aus dem Heimatdorf, eben vom Felde der Ehre als Unteroffizier heimgekehrt; im psychologischen Moment kommt er zurück mit einem Sack voll Gold, er heiratet sie in seliger Hast und rettet sie vor der SCHANDE, während zur gleichen Zeit der böse Lafayette Ressington unter den rächenden Rädern des Yorktown-Expreß den Tod findet!

»So waren meine Empfindungen! Und er hatte tatsächlich nicht mehr Schuld als ich, und was noch komischer ist, ich will ihn ja auch gar nicht heiraten. Nein!« Sie ging zu ihrer Kommode und nahm seine abgetragenen roten Pantoffeln unter der bänderprangenden Wäsche heraus … die sie für ihn gekauft hatte. Sie versuchte sich und die Pantoffeln auszulachen. Das gelang nicht ganz. Sie verbarg sie im Schrank, und es dauerte einen Augenblick, ehe sie fortfahren konnte:

»In Wirklichkeit komm ich mir nicht sündig und entehrt vor. In Wirklichkeit werd ich nicht meine Sozialarbeit aufgeben. Es war nur die Tradition aus allen Romanen und Predigten. Ich werd ein Kind kriegen – ganz normal – das hat mit meiner Moral und mit meiner Arbeit nicht mehr zu tun, als wenn ich Typhus hätte, und es ist viel interessanter. Lafe! Du hast mir Liebe gegeben. Ich habe die Liebe kennengelernt! Ich bin dir dankbar. Und heut abend hast du mich von dir befreit. Vielleicht fang ich jetzt an, ein menschliches Wesen zu werden, mehr zu sein als bloß eine ernsthafte junge Frau, die in der Sonntagsschule unterrichtet und Veblen gelesen hat. Und es muß ein Mädchen sein. Es wird so spannend für sie werden, diese nächste Generation. Aber – o mein Gott, ich hab solche Angst!«


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