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19

Als Ann in Eleanor Crevecoeurs im obersten Stockwerk eines hohen Gebäudes gelegene Wohnung kam, waren Eleanor und ihr »Mann« in einem Streit begriffen. Eleanor fuchtelte mit den Armen herum, George Ewbank saß steif und starr da.

»Was sagst du, Ann! Ist das nicht der Gipfel der Dickköpfigkeit! Hör zu! Georges Aushebung ist fällig. Wenn wir verheiratet wären und ich meine Stellung aufgäbe, so daß ich von ihm abhängig wäre, würde er wahrscheinlich loskommen, glaube ich wenigstens. Und er will nicht. Ach, der Idiot sagt, er will mich heiraten – das möcht ich ihm auch geraten haben! – und er hat nicht das geringste dagegen, mich zu erhalten. Aber er will nicht um Befreiung einkommen.«

»Ich finde, man muß das Seine tun. Wir haben nun einmal angefangen, und jetzt müssen wir bei der Stange bleiben, bis wir im sicheren Hafen sind. Wenigstens ist das meine Ansicht«, sprach der sanfte Krieger.

»Aber du willst mich heiraten?«

»Teufel, das weißt du doch. Hab ich nicht schon im vorigen Jahr einmal eine Heiratslizenz besorgt?«

»Na schön, aber ich tu's nicht! Einen Mann heiraten, der durchaus die Nase in einen Krieg stecken will, der ihn nichts angeht? Mamie Kriegsaxt hat schon recht gehabt, Ann. Frauen, Katzen und Elefanten sind die einzigen Tiere, die Verstand haben.«

Aber George ging in den Krieg, und Eleanor, die sich bis zum allerletzten Augenblick weigerte, ihn zu heiraten, suchte in den Schrecken der Einsamkeit Zuflucht bei Ann.

Ann hatte, obwohl sie »Fürsorgerin« von Beruf war, niemals eine Neigung zu liebevoller Betulichkeit und Aufdringlichkeit gehabt, es war nie ihre Sache gewesen, Seelen zu retten, den Menschen Speisezettel zu machen und über ihre Freunde zu Gericht zu sitzen. Jetzt aber wurde von ihr verlangt, sie solle so betulich sein wie eine Mutterklucke. Eleanor rief sie dreimal in der Woche an: ob sie ins Theater gehen, ob sie zu einem Bissen Abendbrot und einem Schluck Tom Collins vorbeikommen könne?

Ann lernte die intellektuellen Schmarotzer kennen, die sich, wie überall, wo es umsonst etwas zu trinken gab, in Eleanors Wohnung versammelten. Nach zweijährigem Aufenthalt in New York wußte sie von den »Bohémiens« und »Greenwich Village-Leuten« ebenso wenig wie seinerzeit in Waubanakee. Sie kannte sie nicht einmal aus Romanen; unter erquickender Literatur stellte sie sich einen Artikel über die Assimilation lettischer Elemente in Südost-Arkansas vor. Jetzt begegnete sie ihnen allen: dichterischen Herausgebern von Handelsjournalen; nymphomanischen und anarchistischen Leiterinnen von Teeräumen; Tramp-Dichtern, deren Vagabundieren sich größtenteils in italienischen Restaurants um den Washington-Square abgespielt hatte; Reportern, die dauernd stellungslos waren, weil die Überlegenheit ihrer Diktion den Neid und die Eifersucht der Redakteure erregte; reichen, in eleganten Vierteln wohnenden Bankierstöchtern, die malen wollten, aber bereit waren, ihre Talente in der Liebe abzureagieren. Ann fand sich im Besitz fünfzig neuer Bekanntschaften – männlicher sowie weiblicher – die sie beim Vornamen nannten und zu ihrer Wut, denn sie haßte es, abgetatscht zu werden, gründlich küßten. Sie alle waren so sehr gegen den Krieg, daß sie Patriotin wurde; so freisinnig, daß sie sich in eine Presbyterianerin verwandelte; so versoffen, daß sie ihre unschuldige Freude an einer Flasche Wein verlor und zu einer sauertöpfischen Abstinenzlerin wurde. Sie hatte außerordentlich wenig Vergnügen an lärmenden Gesellschaften, bei denen Jünglinge und Mägdlein einander auf dem Schoß saßen, und bei denen sich die Leute vor einem auf den Fußboden hockten und, während sie einem an den Beinen herumtasteten, Geständnisse über ihre Drüsen machten. Ihr Verbrauch an Mundwasser und Badesalzen stieg in diesem Monat um hundert Prozent. Aber sie nahm weiter an diesen Gesellschaften teil, weil sie sich ernsthafte Sorgen um Eleanor machte.

Sie hatte Eleanor sehr gern. Ihr gingen Erinnerungen durch den Kopf: Eleanor kochte Kakao und schlug einem Polizisten ins Gesicht; sie scheuerte den Ausguß im Fanning Mansion und zitierte Krafft-Ebing; sie erzählte Skandalfabeln über die zweifelhafte Reinheit von Mamie Bogardus und ging drei Meilen durch einen Schneesturm, um bei einem trostlosen Suffragettenmeeting zu sprechen; sie entsetzte Maggie O'Mara durch ihre Obszönität und sah dabei ununterbrochen aus wie eine bleichsüchtige Bourbonenprinzessin.

Es war ihr bekannt, daß Eleanor seit Georges Abgang eine Reihe von Liebhabern gehabt hatte. Und gerade jetzt, da ihr Groll gegen Lafe Resnick und ihre Achtung vor Dr. Wormser zunahmen, war Ann überzeugt, alle Männer zu hassen und im Heer der engelhaften Frauen gegen die männlichen Unterdrücker zu kämpfen. Ganz besonders haßte sie die artigen und höflichen »Verehrer«, die sich an Eleanors Gefühle und Frei-Gin anschlossen: ein alter kriecherischer, zudringlicher Bühnenschriftsteller, der das Neueste aus dem Klub so geschickt wiederholte, daß er klug wirkte; ein Forschungsreisender, der aus einem Monat des Reisens dreiundzwanzig Vortragsmonate herausholte und absichtsvoll die seltsamen Hochzeitsgebräuche von »Eingeborenenstämmen« schilderte; und ein süßer, sanfter, hilfreicher Jüngling von Beruf, der seit fünfundzwanzig Jahren einer der meistversprechenden, überaus jungen Autoren und einer der verläßlichsten sich selbst einladenden Gäste war. Ann glaubte zuerst nicht recht, daß diese Taugenichtse Eleanors Liebhaber wären. Bei George Ewbank war Eleanor so bürgerlich gewesen wie das sprichwörtliche »Kleine Frauchen.« Jetzt konnte sie keinem Freund länger als eine Woche treu bleiben. Der guten Ann, die sie für eine vernünftige Person, aber ein wenig prüde hielt, vertraute sie nicht viel an. Von Lafe und den Abtreibungen wußte Eleanor nichts, und so behandelte sie Ann ein wenig von oben herab.

Mit einem gewissen Übelkeitsgefühl dachte Ann an Hündinnen im wonnigen Lenz. Eleanor verschwand immer mit dem einen oder anderen sanft interessierten neuen männlichen Wesen in der Küche, wo sie dann fünfzehn Minuten zum Mischen der Cocktails brauchte. Wenn sie abends mit Ann im Brevoort aß, stand sie immer vom Tisch auf, um heimliche Telephongespräche zu führen. Aber Ann konnte nicht finden, daß es sie etwas anginge, als Eleanor fahriger, geschwätziger und leerer wurde, als ihre eingefallenen Augen älter aussahen.

Dr. Belle Herringdean war diejenige, die davon zu reden anfing.

Isabel Herringdean, Dr. phil., etwa zwei- bis dreihundert intimen Freundinnen und ungefähr sechs bis acht Männern als »Belle« bekannt, war leitende Angestellte bei Emmanuel & Co., einem Warenhaus, das eines der Weltwunder war und im modernen New York ungefähr denselben Platz einnahm wie der Parthenon im alten Athen, nur daß es bedeutend größer und praktischer war. Bei Emmanuel konnte man sowohl ein mit Brillanten und Smaragden besetztes Armband für siebzehntausend Dollar wie eine Imitation desselben Stücks für siebzehn Cent kaufen; man bekam hübsche Trauerkränze, Baumwollsocken, Heiligenstatuen, Witzbücher für Senatoren, Apuleius-Ausgaben auf handgeschöpftem Japanpapier, Fußbodenlappen, Vogelfutter, Manikürekästen für den persönlichen Gebrauch zum Preis von einhundertachtundsiebzig Dollar, Overalls, original chinesische Rückenkratzer, Schuhe für Landarbeiter, Autogramme von Judah P. Benjamin und Zane Grey, Kautabak, importierte französische Hüte, Goldfische, Kitschpostkarten mit komischen Widmungen, tragbare Landhäuser und Nadeln. Es gab dort viertausend Angestellte, der Vizepräsident, dem die Verpackungs- und Verfrachtungsabteilung unterstand, war ein Brigadegeneral a. D., und über allem schwebte eine Personalabteilung, die darüber zu entscheiden hatte, wer, gemäß den unerbittlichen Gesetzen des Behaviorismus, Talente für baumwollene Damenhosen besaß, und wer mit tiefem Verständnis für Mundharmonikas ausgerüstet war.

Ann war, als sie Dr. Herringdean zum erstenmal bei Eleanor traf, sowohl abgestoßen wie bezaubert gewesen. Diese schlanke Frau hatte etwas von der Geschmeidigkeit, von den Bewegungen und der Farbe der Korallenschlange an sich. Sie konnte ebensogut achtundzwanzig wie achtunddreißig Jahre alt sein; ihr emailleglattes Gesicht, in dem außer den Augen stets alles in unerschütterlicher Ruhe blieb, verriet niemals etwas von ihrem Alter. Sie trug dünne Kostüme, dazu Leinenkragen mit Männerkrawatten und Dreispitzhüte, und wenn sie zuhörte, stand sie, anmutige Arabesken mit der Zigarettenspitze beschreibend, da, wie wenn sie alles besser wüßte als der Sprechende.

Sie waren allein beim Lunch, Ann, Eleanor und Dr. Herringdean.

»Eleanor«, fragte Dr. Herringdean, »ist der Kavalier, dem du deinen Knicks gemacht hast – er ging gerade, als wir kamen – nicht ein neuer?«

»Ach, ich kenn ihn noch nicht sehr lang. Er ist ein sehr lieber Kerl. Ein Anwalt.«

»Das muß noch nicht unbedingt heißen, daß er ein sehr lieber Kerl ist … Dr. Vickers, finden Sie nicht –«

»Bloß Miss Vickers.«

»Schön, also ›Miss‹. Obwohl ich übrigens einfach ›Ann‹ zu Ihnen sagen werde. Ich habe so viel von Ihren großartigen Leistungen im Corlears House gehört, daß ich das Gefühl habe, Sie schon längst zu kennen. Und Sie müssen ›Belle‹ zu mir sagen.« Dr. Herringdean blickte sie mit einem solchen Lächeln, einem solchen Ausdruck in den Winkeln ihrer langen Augen an, daß Ann gegen ihren Willen bestrickt war. »Und finden Sie nicht, Ann, daß Nell sich jetzt, seitdem George weg ist, mit geradezu widerlichen Männern umgibt? Der liebe George!«

»Solange er da war, hast du ihn nicht so genannt!« sagte Eleanor.

»Jetzt, wo diese Meerschweinchen von Menschen als Kontrast da sind, nenne ich ihn eben so. Dieser Forschungsreisende von dir! Ich gehe jede Wette ein, es gibt unter den Lebenden keinen zweiten Mann, der sich mit mehr Mut in die Gefahren einer Speisewagen-Mahlzeit stürzt! Und er kann so gut belehren und schildern! Kannst du unterscheiden, wann er dich wie ein Maori küßt, und wann wie ein Aschanti – nett und mit viel Sabber? Uff! Es gibt überhaupt keinen Mann, der elegant und amüsant lieben kann. Das können nur Frauen!« Dr. Herringdean streichelte mit ihrer Hand, die wie modelliertes Wachs aussah, Eleanors schmales Pfötchen, und voll Unbehagen beobachtete Ann, wie Eleanor dieser warmen Verlockung, dieser kühlen Impertinenz nachgab.

Mit einem Male war es Ann, als sähe sie überall Dr. Herringdean, als wäre sie ganz von ihr umgeben. Sie kam nie zu Eleanor, ohne Dr. Herringdean vorzufinden, die mit gespreizten Beinen vor dem Kamin stand und zynisch war – mit einem Zynismus, der aus Optimistinnen, wie sie eine war, plumpe, täppische Geschöpfe machte. Jetzt brauchte sie sich keine Sorgen mehr über die Dielenbewohner von Eleanors Gefühlen zu machen. Sobald Eleanor sich mit einem von ihnen in die Küche fortstahl, schlenderte Dr. Herringdean den beiden nach, und dann konnte man hören, wie sie mit spitzem Höhnen aus dem Liebeskandidaten einen Tölpel machte.

Wenn Dr. Herringdean Ann und Eleanor für sich allein haben konnte, sprach sie von berühmt gewordenen Freundinnen, von Narzissmus, von religiöser Symbologie. Sie hatte, bevor sie ihren Dr. phil. Als Psychologin machte, drei Jahre Medizin studiert und nachher offenbar alle Bücher über sexuelle Abnormitäten gelesen, die es gab.

»Ist es nicht sonderbar«, klagte sie, »daß man – und dabei sind die Frauen keineswegs auszunehmen – daß man im Jahre 1918, im Zeitalter Freuds, des Ragtime und der kleinen Kriegswitwen, noch immer die Ansicht vertritt, die Frauen seien Engel, denen alle Organe außer Herz, Lunge und einem rudimentären Gehirn fehlen! Ich sage euch, meine Lieben, solange nicht alle Welt begreift, daß ein Mädel ein entzückendes Ding wie eine Rosenknospe sein und trotzdem einen gesunden und gut funktionierenden Dickdarm haben kann, so lange wird von wirklichem Fortschritt in der Lage der Frauen keine Rede sein. Schließlich sind dem betauten Rosenknöspchen Larven und Dung keine unbekannten Dinge, und wer zu zart besaitet ist, um sich das vor Augen zu halten, der sollte lieber gar nicht in den ordinären Garten gehen und beim Frivolitätenhäkeln bleiben!« Und schon war Dr. Herringdean inmitten irgendwelcher erschöpfender Statistiken über die Periodizität der Liebesleidenschaft, die aus der Herrlichkeit Julias Punkte in Romeos Kalender machten.

Ann ärgerte sich. Das Ganze war ihr durchaus nicht so sehr neu. Sie war im Physiologieunterricht in Point Royal über ein ziemlich selbständiges, unpersönliches, »Sexus« genanntes Etwas belehrt worden. Sie hatte Dr. Wormser von Prostituierten männlichen und weiblichen Geschlechts, von dem Dunkel hinter jedem silbernen Tempelschleier reden hören. Aber der Unterschied zwischen der klugen, gemütlichen Malvina Wormser und der lippenleckenden Dr. Herringdean schien ebenso groß zu sein wie der zwischen Anns Vater und Lafe Resnick. Netter, die beiden, dachte sie bekümmert, aber waren sie nicht weniger klug? Nein, erklärte sie sich; weniger exhibitionistisch.

»Hören Sie!« fragte sie Dr. Herringdean. »Weshalb muß man von Abnormitäten sprechen? Keine von uns ist ganz so unschuldig, daß sie glaubt, die Kinder werden unter Stachelbeersträuchern gefunden!«

»Nein, mein Süßes, aber Sie sind so unschuldig, daß Sie meinen, es kommen immer Kinder! Und was verstehen Sie unter ›Abnormitäten‹? Wie kann man etwas, das so oft vorkommt, daß es statistisch erfaßbar ist, eine Abnormität nennen? Es gibt bei den Wilden Stämme – ach, da hast du wieder deinen kleinen Forschungsreisenden, Nell – na, immerhin: es gibt bei den Wilden Stämme, bei denen es für unanständig gilt, jemand essen zu sehen. Wir denken nicht so. Und das Sexuelle, mit allen seinen Manifestationen, ist etwas ebenso Selbstverständliches wie das Verzehren, Verdauen und Ausscheiden von Nahrungsmitteln.«

»Wahrscheinlich. Aber wir stecken nicht die Köpfe zusammen und reden ununterbrochen mit gedämpfter Stimme vom Essen!« widersprach Ann. »Wenn wir es täten, wäre es unerträglich. Es gibt dicke Leute, die einem stundenlang von den wunderbaren Trüffeln erzählen, die sie in Dijon gekriegt haben, und von den Nieren, die sie in Barcelona in sich hineingestopft haben. Finden Sie die angenehm? Und außerdem, selbstverständlich oder nicht selbstverständlich, ich finde, ein Mensch, der es für simpel halten würde, ein ordentliches Steak zu essen, und sich ausschließlich von Curry und Camembert ernähren wollte, würde ganz gehörig viel Nettes entbehren!«

»Ann, mein süßes Kind, ich habe immer schon gesagt, die Fürsorge hat so etwas Theologisches. Sie benützen den typischen Geistlichenkniff, mißzuverstehen und eine Metapher als Argument zu nehmen!«

So sehr diese Guckkastenbilder von Dr. Herringdeans Gesprächen auch Ann verstimmten, Eleanor ließ sich durch sie einfangen und wurde in ihrem Bann aufrichtig.

»Ich bin über die Männer derselben Meinung wie du, Belle«, sagte sie. »Sie sind Schweine. Ich kann ohne sie nicht auskommen – –«

»Das wirst du eines Tages schon noch sehen!«

»– aber ich verachte sie. Das Schlimmste ist, daß sie Geilheit und ein jungfräuliches Getue, als wäre gar nichts, miteinander kombinieren. Sie laufen dir den ganzen Abend mit hängenden Lefzen nach, und du sollst nichts merken. Aber wenn du, eine Frau, gemein genug bist, zu verstehen zu geben, daß du gern tun würdest, was sie unbedingt haben möchten, dann sind sie entsetzt. Du darfst keine leidenschaftlichen Gefühle haben! Du mußt dasitzen, du mußt ihr signalisierendes Hüsteln abwarten und immer ganz überrascht sein, wenn du dahinter kommst, was sie meinen! Und wenn sie sich an einem Abend gerade edel und tugendhaft vorkommen, und du bist nicht in derselben Stimmung, wie empört sind sie dann, wie anmaßend und grausam, obwohl noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen sind, seitdem du gesehen hast, wie lächerlich sie in ihren Pyjamas sind!«

»Hab ich dir nicht das, genau das über die Männer gesagt?« antwortete Dr. Herringdean in gurrenden Tönen und ging zu Eleanor hinüber, um sie bei dem Kinn zu nehmen, ihren Kopf zurückzubeugen und auf sie herabzulächeln.

Ann war unbehaglich zumute. Noch unbehaglicher wurde ihr eine Woche später, als Eleanor die Mitteilung machte, daß Belle zu ihr ziehen und die Wohnung mit ihr teilen würde. Aber Eleanor sprach so vergnügt und in so selbstverständlichem Ton darüber, daß Ann sich schämte. »Mit Belle zusammenzuwohnen, wird nett sein«, sagte Eleanor. »Natürlich, sie ist ein ganz verrückter Käfer. Es macht ihr Spaß, den Leuten Entsetzen einzujagen, indem sie über alle möglichen verrückten Inversionen spricht. Sie tut sogar so, als ob sie Grausamkeit bewundern würde. Aber ich kenne sie. In Wirklichkeit ist Belle eine der vernünftigsten und arbeitsamsten Frauen, die ich kenne. Hoffentlich findet sie meinen neuen Verehrer nett. Er ist blendend – du mußt ihn kennenlernen – erster Offizier auf einem Truppentransportdampfer – ein großartiger Junge, erledigt U-Boote, als ob es Moskitos wären. Belle wird gut daran tun, ihn nett zu finden!«

 

Aber anscheinend fand Belle ihn nicht nett.

Einen Monat, nachdem sie in Eleanors hochgelegene Wohnung eingezogen war und ein Schränkchen voll Likörflaschen, eine erkleckliche Anzahl von Bildern junger Frauen, die nicht an Schamgefühl litten, und eine Kiste voll deutscher sexualwissenschaftlicher Bücher mitgebracht hatte, verschwanden die täppischen, aber herzhaften Männer, die es gewohnt gewesen waren, Eleanor mit offenem Maul nachzustarren, und die einzigen männlichen Wesen, die sich zeigten, waren schmachtende Bubis mit geschminkten Wangen.

Es bereitete Ann Kummer, daß Eleanor, die einst im Fanning Mansion so selbständig gewesen war und zudringlichen Leuten gegenüber beißende Geringschätzung an den Tag gelegt hatte, sich jetzt völlig Dr. Herringdean unterordnete. Mit spitzem Hohn durchschnitt Belle Eleanors Geplauder; mit kaltem Schweigen brachte sie die alten Freunde George Ewbanks, die Eleanor zu halten suchte, aus der Fassung; und wenn Eleanor hundeunglücklich war und fast in Tränen ausbrach, tröstete Dr. Herringdean sie mit warmen Zärtlichkeiten. Erstaunt beobachtete Ann, wie Eleanor ängstlich Belles Anerkennung und Billigung suchte. Und für Belle begann Eleanor, die für kokett weibliche Kleidung stets nur Verachtung gehabt hatte, einen aprikosenfarbenen Seidenschlafrock, der mit schwarzen Pfauen bestickt war, und silberne Pantöffelchen mit Pompons zu tragen.

»Du verstehst Belle nicht«, beklagte sie sich bei Ann. »Sie weiß sehr viel. Früher hab ich immer über esoterische Weisheiten gelacht, aber ich war sehr dumm. Sie bringt einen dazu, daß man versteht.«

»Daß man was versteht, um Gottes willen?«

»Alles. Das Leben. Wirkliches, leidenschaftliches Lebensgefühl. Und du brauchst gar nicht blasphemisch zu werden. Belle mag das nicht.«

»Und das muß ich mir von dir sagen lassen, Eleanor!«

Als Dr. Herringdean Eleanor auf diese Weise klein bekommen hatte, wurde sie plötzlich kalt zu ihr und wandte alle ihre Verführungskünste Ann zu. Sie bedachte sie mit Blicken aus ihren Augenwinkeln. Sie streichelte sie. Sie machte Bewegungen mit ihrer Zigarettenspitze, die nur Ann zu gelten schienen. Sie schnurrte vor ihr. Sie sagte ihr, sie – Ann – besäße wahre Schätze an kostbarsten, bis jetzt aber unentdeckten Liebeskräften. Und immer tat sie lächelnd, nahezu augenzwinkernd, so, als wären Ann und sie Erwachsene, die sich insgeheim über das törichte Kind Eleanor amüsierten.

Eleanor fiel täglich mehr ab und begann an Zuckungen zu leiden, wie eine Kokainistin. Ann überlegte tatsächlich, ob sie nicht irgendeine Droge gebrauchte, und als sie von Kokain sprach, merkte sie, daß Dr. Herringdean betreten verstummte.

Eleanor hatte das bißchen unaufdringliche Schönheit verloren, das trotz ihrer Knochigkeit in ihren gescheiten, freundlichen Augen und in ihren weichen braunen Wangen gewesen war. Und das sagte ihr die gute Freundin auch, recht oft und recht vergnügt, wenn Eleanor dasaß und sich bemühte, überlegen erheitert auszusehen – während sie ihre schmalen Nägel in das dünne Fleisch an der Innenseite ihrer Unterarme bohrte. Und wenn Eleanor ihrer Freundin im Atelier nachging und dahinterzukommen suchte, was sie verbrochen hätte, um Verzeihung erbitten zu können, fauchte Dr. Herringdean: »Natürlich, meine liebe Nell, es tut nichts, es tut nichts, weshalb sollen wir denn darüber reden! Du hast mir natürlich gesagt, du würdest etwas zum Abendessen für mich bereit haben, wenn ich nach Hause komme – –«

»Aber du hast gesagt, du wirst anrufen, wenn du etwas zum Essen haben willst.«

»– spät nach Hause komme, natürlich in der Annahme, daß du verstehen wirst, völlig ausgepumpt, und, selbstverständlich kein Abendessen. Nicht das Geringste. Natürlich.«

»Das tut mir so leid! Belle! Liebes! Es tut mir schrecklich leid! Wirklich, schrecklich!«

In diesem Augenblick fuhr Ann scharf dazwischen, wütend alles in einem Wort sprechend: »Na-ichgehnachhause!«

Dr. Herringdean rief in den sanftesten Tönen: »Ach, Liebe, Gute, wir haben Sie gelangweilt. Diese idiotische Auseinandersetzung! Tlein Annie deht schon? Nicht, Liebe! Sieht es so aus, als ob ich einen sehr vergnügten Abend hätte, wenn Sie gehen? Während Nell sich in die schönen alten Vapeurs der victorianischen Zeit hineinsteigert und womöglich noch ohnmächtig wird, um zu beweisen, wie aristokratisch sie ist? Warten Sie, Ann, ich komme mit Ihnen.«

»Nein, ich muß – –«

Ann beendete den Satz niemals. Sie merkte, daß Eleanor sie mit mörderischer Eifersucht in den Augen und mit zuckenden Fingern ansah.

 

Ann war ziemlich lange, bis neun Uhr, in ihrem Büro. Dr. Herringdean rief sie an:

»Ann! Es wäre mir lieb, wenn Sie zum Atelier kommen könnten. Ich fürchte, Nell ist etwas passiert. Ich weiß, daß sie drin ist – der Schlüssel steckt innen. Sie will mir nicht antworten. Sie wird wohl böse mit mir sein. Sie wissen, was für eine Hysterikerin sie ist. Ich bin spät nach Hause gekommen und – – Der Schlüssel steckt innen! Ich telefoniere von der Drogerie. Kommen Sie doch!«

Dr. Herringdean sprach in wirklich menschlichen Tönen.

»Aber sie ist wahrscheinlich einfach gekränkt, Belle. Ein Zank?«

»Ja. Ich fürchte, er war leider ernst.« Dr. Herringdean lachte aber leise. »Natürlich hab ich sie bloß hochgenommen – Sie wissen, wie ich bin; das dumme Ding, Nell nimmt es ernst, wenn ich sie aufziehe. Ich habe ihr gesagt, Vivie Lenoir sei nicht nur hundertmal so hübsch wie sie, was natürlich richtig ist, sondern auch bedeutend emanzipierter, und – – Ach, Nell war so wütend! Sie hat mich – mich – heute früh tatsächlich aus der Tür hinausgestoßen!«

»Ich komme sofort – Taxi – wir treffen uns an der Wohnungstür.« Ann hatte nicht den Wunsch, auch nur das Geringste für Dr. Belle Herringdean zu tun, aber vielleicht konnte sie etwas für Eleanor tun; vielleicht konnte sie ihr wie durch ein Wunder Belles Grausamkeit beweisen.

Als Ann kam, ging Dr. Herringdean auf dem Kachelboden vor der Wohnungstür auf und ab. Sie sah kühl und hübsch aus, in einem laubgrünen Kostüm, das mehr Verhöhnung als Nachäffung von Männlichkeit war. »Ich habe geklopft und geklopft und gerufen! Oh, ich reiß dir die Haare aus, Nell, meine Gute!« schimpfte sie. »Versuchen Sie's, Ann. Ihnen vertraut Nell … ich meine, wenigstens hat sie Ihnen vertraut.«

Ann bat und schrie. Die Wohnungstür war aus Stahl, ohne Außenrahmen. Sie verletzte sich die Hände an ihr. Keine Antwort von Eleanor.

»Wir müssen hinein! Sie kann ohnmächtig geworden sein. Vielleicht ist sie in anderen Umständen!« sagte Dr. Herringdean.

Anns Wunsch, sie zu ermorden, war in diesem Augenblick weder eingebildet noch verschwommen. Und doch bewunderte sie die Frau, als Dr. Herringdean die Treppe hinunterlief und über die Schulter zurückrief: »Wir werden durch das Büro unter der Wohnung einbrechen. Wenn wir die Erlaubnis vom Pförtner abwarten, kann die ganze Nacht vergehen.«

In dem Stockwerk unter Eleanors Wohnung lag ein unbeleuchtetes Büro mit einer Spiegelglastür, auf der stand: »The Dandypack Sawdust & Shavings Corp.« Dr. Herringdean lauschte, streifte einen grünen Pump mit Aluminiumhacken ab, schlug das Glas ein, griff hinein, um den Riegel zurückzudrehen, lief zwischen erstaunt dreinsehenden hellen Eichenpulten und Stühlen durch das dunkle Büro und schob ein Fenster hoch.

Ann zauderte eine Sekunde beim Anblick einer besonders halsbrecherisch aussehenden Feuerleiter. Dr. Herringdean zögerte nicht. Sie klapperte über die Eisenstufen hinauf, während Ann ihr langsam nachging. Sie riß ein Atelierfenster auf und kletterte hinein, munter rufend: »Nell! Kleine Nellie!«

Es kam keine Antwort, noch war von Eleanor etwas zu sehen. Sie schauten in das Schlafzimmer, die Küche, das Badezimmer. An der Badezimmertür blieb Dr. Herringdean erstarrt stehen und schrie: »O mein Gott! Gehen Sie nicht hier herein!« Es war zu spät. Ann hatte gesehen. Eleanor lag in einem purpurroten Bad, an den weißen Emaillewänden der Wanne zog sich als Wellenlinie eine trocknende rote Kruste hin. Eine verschmierte Rasierklinge lag auf dem Sims. Eleanor blickte mit erschrockenen Augen und hängenden Lippen zu ihnen auf wie ein verletztes Kind, verblüfft vom Schmerz, um ihre Hilfe bittend. Aber ihr Blick war starr. Er blieb reglos.

 

Um Mitternacht, als die Ärzte und die Polizei außer einem Schutzmann, der draußen in der Diele Wache stand, gegangen waren, taumelte Dr. Herringdean auf eine Couch. Ihre Arme fielen neben ihr herunter, als wären sie tote Dinge, ohne Verbindung mit ihrem Körper. Sie war nicht hysterisch geworden. Das war Ann auch nicht geworden, aber sie konnte die kalte Klarheit, die Dr. Herringdean nun hatte, nicht nachahmen. Sie fühlte sich elend; sie war sicher, schuldbewußt ausgesehen zu haben.

Dr. Herringdean setzte sich auf, zündete die fünfzigste Zigarette an, die sie an diesem Abend rauchte, und sagte abrupt: »Ann! Ich weiß, das mit Nell ist schrecklich tragisch. Aber was mir wirklich Sorgen macht, das ist nicht sie. Das arme Ding; sie hat alles hinter sich. Sorgen machen Sie mir. Ich fürchte, Sie werden ganz erledigt sein. Hören Sie! Ich werde vom Geschäft nach Europa geschickt, um die Methoden in Paris und Berlin zu studieren. Kommen Sie mit – ich werde es mit den Spesen schon so einrichten. Kommen Sie mit, mein Liebes! Wir werden es wunderbar haben! Wir werden am Strand in der Sonne liegen, in ganz dünnen Badeanzügen, mein Liebling! Ach, vergessen Sie doch Nell! Schließlich war sie doch nichts als ein schwaches, sentimentales Geschöpf!«

Später glaubte Ann gern, sie hätte Dr. Herringdean ins Gesicht geschlagen. In Wirklichkeit tat sie nichts Derartiges. Sie floh – und zwar verlegen, wie um Entschuldigung bittend.

Als Ann in ihrem kleinen Zimmer im Corlears House in Sicherheit war, stöhnte sie in großer Ungerechtigkeit: »Auf jeden Fall werd ich nie wieder die Männer hassen. Besser als das sind sie immer noch!«

Dann vergaß sie jahrelang sowohl Männer wie Frauen und dachte in einem wahren Hexenkessel der Arbeit lediglich an die unumgänglichen sozialen Probleme: Mann und Frau.


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