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In keiner Erscheinung, nicht einmal in den ständig wiederkehrenden Gewohnheiten eines Trinkers, eines Mannes von jähzornigem Charakter oder einer mißtrauischen Frau, wird die Schablonenhaftigkeit des Lebens so deutlich wie in der Ehe. Da Ann Russell niemals ein willfähriges Weib gewesen war, konnte kein Entschluß sie für mehr als vierzehn Tage dazu machen. Sie ging wieder los, auf die Fährte, sie jagte mit lautem Gebell hinter den fuchsartigen Gegnern der ausgedehnten Bewährungsfrist für Unvorbestrafte her, und vergaß dabei, daß Russell (für Russell) eine so wichtige Persönlichkeit war, daß sie ihm alle ihre romantischen Träume hätte opfern sollen, anstatt sie an die Verlustzahl von zwei-Komma-sechs zu verschwenden, die in einem Bericht über Rückfälligkeit aus Rhode Island mitgeteilt wurde.
Der Bruch kam ganz überraschend.
Russell kam ausgelassen und glühend vor Aufregung nach Hause. Sie hatten einen freien Abend, außerdem ein wunderbares Steak zum Dinner, und alles sah ganz rosig aus. Sie konnte aus seiner maßlosen Lustigkeit schließen, daß er ein Geheimnis hatte, und als sie sagte: »Womit hältst du hinterm Berge? Ist es was Schönes?«, da sprang er auf und jauchzte:
»Hör zu, Baby, ich hab die Chance meines Lebens bekommen! Du kennst doch den alten Shillady, den großen Hotelkonzernmann – hat eine Menge fürs Institut gegeben? Also, der hat die Idee, daß jetzt das Geld nicht mehr in den großen teuren Hotels, wie in seinen zu holen ist – davon gibt es jetzt zu viele – sondern in den billigen Dingern, für Arbeiter und so. Er hat eine Idee für einen Konzern von großen billigen Cityhotels, eigentlich besseren Logierhäusern. Also natürlich, wo ich so viele Logierhäuser und Lunchrooms und so weiter fürs Institut geleitet habe, versteh ich da eine ganze Menge davon, und er hat mir eine Stelle als zweiter Direktor des ganzen Konzerns angeboten, für zwölftausend im Jahr – denk bloß! Doppelt so viel, wie ich jetzt bekomme! Und eine gute Chance in Aussicht auf den Generaldirektor und vielleicht dreißigtausend Dollar im Jahr per annum per omnia saecula saeculorum. Mein Gott, ist das nicht wunderbar!«
»Ja – ach, Russell, willst du wirklich Kaufmann werden?«
»Warum nicht?«
»Ach, es ist so schrecklich blöd!«
»Also, der Teufel soll mich holen! Ausgerechnet du, von allen Leuten! Du, die du immer den Wert der Wohltätigkeit anzweifelst, immer gemeine kleine Sticheleien auf Leute sagst, die denken, sie können durch Einheitssteuer oder Abschaffung der Zigaretten ›die Welt retten‹!«
»Ich weiß. Ich weiß. Auf dieselbe Weise stellt Dr. Wormser den Wert jeder medizinischen Handlung, die über das Schienen gebrochener Beine, Abführmittel, Insulin und Chinin hinausgeht, in Frage. Aber damit ist nicht gesagt, daß sie eine Stellung in einem Gemüseladen annehmen würde, nicht für eine Million Dollar im Jahr. Aber, Russell, wenn wir auch noch so wenig erreichen, wenn ein Sozialarbeiter überhaupt etwas hat, so hat er einen Beruf, ebenso wie ein Rechtsanwalt oder ein Arzt oder ein Künstler oder ein Priester oder ein Schulmeister oder ein Soldat, und er hat Verpflichtungen gegen ihn, er hat Bindungen, man könnte fast sagen, mystische, und wenn er ihn aufgeben muß, so ist das ein Unglück für ihn. Du brauchst dies Geld nicht. Wir verdienen zusammen genug – –«
»Und jetzt wirst du mir wahrscheinlich vorwerfen, daß wir ohne dein Gehalt nicht genug hätten, um – –«
»Mein guter Ignatz! Das ist so haargenau das, was du sagen mußtest, daß ich ganz erstaunt bin, daß du es sagst!«
»Ja, wenn du denkst, ich werde weiter hinter dir her laufen, du – – Eines schönen Tages werde ich ein Millionär sein und – –«
»Und dann nimmst du dir ein ganz großes Schießgewehr und schießt alle Indianer tot und dann wirst du Maschinist und fährst die Puffpuffbahn! Willst du auf die Million warten, bis du in geistiger Hinsicht älter als sieben Jahre wirst? Eine Million Dollar! Das wär ja wirklich wunderschön! Und was willst du mit all dem schönen vielen Geld anfangen? Ich will dir's sagen: du wirst ein Philanthrop werden, und dann kannst du einer anbetenden Tafelrunde von jungen Weltverbesserern erzählen, du hättest keines deiner Ideale aufgegeben, als du Kaufmann wurdest! So, jetzt geh ich spazieren!«
Dann tat es ihnen wieder leid, und sie entschuldigten sich und machten alles wieder glatt, aber diesmal blieb Russell seinem Vorsatz treu. Er gab seine Stellung auf, um am Aufbau des Hotelkonzerns mitzuarbeiten, und als Ann sah, wie er sich darüber freute, daß er zum erstenmal in seinem Leben Geld genug hatte, um sich ohne zu rechnen ein Taxi nehmen zu können, war sie überzeugt davon, ihm unrecht getan zu haben. Aber was sie selbst betraf, so hatte sie nicht die Absicht, als ein Anhängsel an Logierhäusern weiterzuleben, die zu dem Zweck eingerichtet waren, Millionen aus den Groschen der Arbeiter zu verdienen.
Der Kontrakt für ihre byzantinische Wohnung lief am 1. Januar 1930 ab, ein und dreiviertel Jahre nach ihrer Heirat. Russell mußte in Angelegenheiten des Hotelsyndikats an die Pazifische Küste gehen und überließ es Ann, eine neue Wohnung für sie zu suchen, eine modernere, würdig eines aufstrebenden jungen Lords des Hotelwesens – ein Rang, der in Amerika beinahe gleichwertig einer Pairswürde in Stahl oder Seife oder Autos ist.
Sie fand eine ausgezeichnete Wohnung für ihn. Mit ihren eigenen Büchern und Stühlen und Bettzeug zog sie wieder in ihr altes Hotelzimmer.
Als er zurückkam, stürmte er zu ihr hinein, aber seine stürmische Männlichkeit verging vor ihren kalten Augen. »Was soll das heißen, mich so sitzen zu lassen? Was hab ich denn nur getan?« bat er.
»Nichts, mein Guter.« Sie war jetzt ganz freundlich, nicht mehr kalt. »Aber es ist so eine gute Gelegenheit zum Bruch, und der Bruch ist unvermeidlich. Wir wollen uns nicht weiterschleppen, es versuchen und wieder sehen, daß es nicht geht, bis alle Beteiligten elend davon sind, wie die meisten Ehepaare es tun, wenn sie sich nicht mehr vertragen.«
»W–willst du dich scheiden lassen?«
»Ich lege keinen besonderen Wert darauf.«
»Dann wollen – – Oh, wenn du mußt, wollen wir getrennt leben. Für eine Weile. Wir müssen sehen, wo wir stehen. Wirklich, es ist nicht nur deswegen, weil ich nicht will, daß die Leute über mich lachen, weil ich dich nicht halten konnte. Ich habe dich geliebt, mehr als irgend jemand anders. Ich liebe dich noch! Ich kann es nicht verstehen! Ich weiß nicht, was ich getan habe! Und ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll!«
Geknickt stand er da, ein großer und breiter Mann, die Finger an den Lippen, und aus dem plumpen Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren sahen die Augen eines verängstigten Kindes.
Dann war sie einsamer als je in ihrem Leben; viel einsamer als zu der Zeit, da sie in diesem blöden Hotel schon einmal gewohnt hatte, denn kein Lindsay Atwell und kein Russell Spaulding besuchte sie mehr, und Pat Bramble Pomeroy kam nur selten in die Stadt.
Russell kroch jede Woche bettelnd zu ihr, und einmal ließ sie ihn über Nacht dableiben. Aber es war eine gezwungene Angelegenheit, zu bewußt, um schön zu sein.
Aber so groß war ihre Einsamkeit, so groß die Sinnlosigkeit ihrer unerwünschten Freiheit, daß sie spät im März, als Russell unglücklich ankam und erzählte, die Leute fingen an, über ihn zu lachen, einwilligte, zu ihm zurückzukommen. Nur, sagte sie, sie müsse noch ein paar Monate für sich selbst haben – um sich klar zu werden, um sich selbst zu erforschen, wie sie es getan hatte nach Point Royal und den Fragen von Pearl McKaig, nach der Frauenbewegung und Clateburn, nach dem Wohlfahrtshaus und Lafe und Ardence Benescoten.
Für diese Forschungsreise gab es keine Karten.