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29

Daß Birdie Wallop es gut verstand, Mrs. Bitlick zu umschmeicheln und Mrs. Kaggs zu amüsieren, verhinderte nicht, daß sie eines Tages in Schwierigkeiten geriet.

Birdie hatte einen, wie sie es nannte, »kleinen Freund«. Sie war nicht die einzige Gefangene, der dieses Glück blühte. Unter diesen hundert Frauen, die angeblich durch Ziegelwände, Stahlstangen und Fenster mit Milchglasscheiben von allen Männern abgeschlossen waren, angeblich nicht einmal einen Blick darauf werfen konnten, pulsierte die Sehnsucht nach Männern stärker als das Verlangen nach Nahrung oder einem Ausruhen in frischer Luft. Ann hörte die Frauen in der Stunde nach der Hauptmahlzeit, in der sie, während sie auf dem aschebestreuten Boden des Hofs Bewegung machten, miteinander sprechen durften, immer von Männern reden – was Er gesagt, wie Er geküßt hätte, wie freigebig Er im Gasthaus gewesen wäre, daß Er ganz gewiß am Gefängnistor warten würde. Es war ein Tropismus, der sich jedem menschlichem Vorausdenken entzog.

Wie viele Männer es zuwege brachten, sich Eintritt in diese männerlose Welt zu verschaffen, war erstaunlich. Die Wärter schlichen immer umher und starrten in die Hemdennäherei, wo jetzt, in den Tagen, die Anns zweiten Sommer versengten, die Frauen in vorn offenen Baumwollkitteln schufteten. Sträflinge, die sich gut führten und mit Arbeiten betraut wurden – Zimmerleute, der Installateur, der Photograph und der Mann, der die Fingerabdrucke zu machen hatte – erschienen und wurden niemals mit ihrer Arbeit fertig, ehe die Wärter sie hinausjagten, und aus Nischen im Korridor war den ganzen Tag Geflüster und Gekicher zu hören.

Aber Birdie Wallop gehörte zu den Wenigen, die einen »Ständigen« hatten. Er war Elektriker, ein ausgezeichneter Elektriker, und ein hübscher junger Mann mit schwarzem Schnurrbart. Er war auch bei der Bande, die sich damit befaßte, Drahtnachrichten abzufangen, ein ausgezeichneter Telegraphist gewesen und saß zwölf Jahre ab. Wenn Ann ihm irgendwo in den Korridoren begegnete, riß er sich die schmierige Uniformmütze, die er so keck trug wie einen Soldatenhelm, mit einer raschen Bewegung vom Kopf und lächelte, als ob sie ein Geheimnis miteinander hätten, und sie bekam jedesmal Herzklopfen.

Er hatte gemeldet, daß die Leitung im Zellenkorridor der Frauenabteilung nicht intakt sei, und arbeitete den ganzen Tag daran herum, während Birdie – offiziell trug sie Botschaften aus oder brachte Mrs. Bitlick, die in regelmäßigen Abständen an unschönen Erkältungen litt, Kaffee und Aspirin – ihm zublinzelte und ihm Briefchen zwischen die Streben seiner Stehleiter legte.

Bis Mrs. Bitlick sie erwischte.

Mrs. Bitlick hatte erfreulicherweise alle geschlechtlichen Lüste hinter sich. Man flüsterte sich zu, sie hätte früher ihr Leben ausgiebig genossen, aber wenn das stimmte, so machte sie es jetzt beim lieben Gott wieder gut.

Sie kam den Korridor entlang, und sah, wie der Elektriker von seiner Leiter Birdie ein Päckchen zuwarf, sah, wie Birdie es rasch in die Tasche steckte. Sie lief in ihren Gummischuhen herzu, packte Birdie am Arm, entriß ihr das Päckchen und machte es auf. Es enthielt zwei Packungen Zigaretten, zwei Hefte Streichhölzer und Kaugummi.

Nun war Mrs. Bitlick eine enragierte und rechtschaffene Feindin alles Frauenrauchens. Und Mrs. Kaggs war ebenso betroffen, weil Mrs. Kaggs und Kitty Cognac ein Monopol auf den Zigarettenabsatz bei den Frauen hatten. Beide stürzten sich auf sie. Birdie wurde vor ein Kriegsgericht geschleift, das sich aus Mrs. Bitlick, Mrs. Kaggs und zwei, drei weiteren Aufseherinnen zusammensetzte – dazu kam noch, unaufgefordert, Ann. Und die brave Kitty Cognac wurde als Zeugin zitiert.

Die Aufseherinnen saßen in Mrs. Bitlicks Dienstzimmer auf steifen Stühlen, die halbmondförmig aufgestellt waren. Vor ihnen stand Birdie, mit einem Lächeln, das unsicher kam und ging, während sie versuchte, ihren früheren Zauber wirken zu lassen. In ihren Augen stand Angst.

»Ich hab mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie Zigaretten schmuggelt!« sagte Mrs. Bitlick. »Jetzt wissen wir, wie diese scheußlichen Sargnägel ins Gefängnis kommen!«

»Oh!« rief die entsetzte Mrs. Kaggs.

»Und außerdem hab ich sie im Verdacht, daß sie Koks schmuggelt.«

Birdie jammerte: »Wirklich, ich hab nie – –«

»Klappe halten!« sagte Mrs. Bitlick. »Na, Kitty, Sie haben gesagt, Sie wissen was.«

Kitty trat flott vor. »Klar weiß ich was. Birdie hat die ganzen Briefe hinausgeschmuggelt – auch die von der Van Tuyl, in denen sie wegen den Zuständen herummeckert! Ich hab Ihnen ja erzählt, einen hab ich in ihrer Zelle gefunden!«

(Ann wußte, daß Birdie nicht alle Briefe von Mrs. Van Tuyl hinausgeschmuggelt hatte, denn eine erkleckliche Anzahl war durch ihre eigenen Hände gegangen.)

»Also, meine Damen, ich denke, wir haben genug gehört. Sie kommen wieder in die Hemdennäherei – noch heute nachmittag! – und Miss Peebee werd ich sagen, sie soll drauf achten, daß Sie ordentlich arbeiten!«

»Ach bitte, Mrs. Bitlick, bitte!« Weiter kam Birdie nicht. Drei Aufseherinnen nahmen sie in die Mitte, stießen sie hinaus und führten sie hinunter in die Werkstatt.

Ann erfuhr, daß der freundliche Elektriker in einer feuchten Dunkelzelle lag.

 

Am Abend nach Birdies jammervoller Degradierung rief Ann Dr. Slenk in seinem Privathaus an – es war ein hübsches Heim; der Schmuck der guten Stube bestand aus einer gepolsterten Sitzbank, einem Radio, einem Schränkchen mit Scotch und Bourbon Whisky, und den Originalen zweier von entlassenen Sträflingen gemalter Winterlandschaften, in deren Schnee fein zerriebenes Katzensilber glitzerte.

»Haben Sie gehört, daß unsere Botin, Birdie Wallop, wieder in die Schwitzstube gesteckt worden ist, Dr. Slenk?«

»Ja, ich habe einen Bericht darüber bekommen.«

»Es wäre mir lieb – – Sie ist ein gutes Kind. Wirklich. Ich bin überzeugt davon, daß ich etwas Einfluß auf sie habe, und ich glaube, ich könnte sie dazu bringen, daß sie verspricht, nicht mehr Zigaretten zu verteilen und Briefe zu transportieren, und daß sie ihr Versprechen auch hält.«

»Ich kann unmöglich Mrs. Bitlicks Anordnungen durchkreuzen. Mrs. Bitlick genießt mein volles Vertrauen. Und, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, ich kann es tatsächlich nicht ganz loyal finden, daß Sie über ihren Kopf hinweg handeln wollen.«

»Ach! Loyalität! Ich fühl mich gegenüber diesen armen Frauen im Gefängnis auch zu einer gewissen Loyalität verpflichtet!« Ann sprach voll Verzweiflung. Es war das erstemal, daß sie überhaupt den Versuch machte, mit dem eingebildeten Dr. Slenk ernsthaft zu reden. »Ich habe niemals gegen eine Gefangene eine Anklage vorgebracht. Ich halte das nicht für fair. Aber wenn eine von ihnen sich auf Kosten der anderen Vorteile verschafft – – Passen Sie auf, Dr. Slenk; bitte, hören Sie mir zu. Ich bin genau informiert. Die Hälfte aller Scherereien, die wir haben, ist auf diese Person, die Cognac, zurückzuführen! Das ist tatsächlich ein schlechter Charakter! Sie verkauft Koks und Zigaretten, und sie arrangiert perverse Sexualexzesse – –«

Der kleine Pferdedoktor sprang auf und schleuderte seine ausgezeichnete Zigarre in die elektrische Kohlenimitation, die in der Kaminimitation glühte. »Kein Wort mehr! Ich habe genug gehört! Noch nie in meinem Leben ist es mir passiert, daß eine Frau sich durch Erwähnung derartiger Dinge schändet! Und, sagen Sie mir mal, meine Beste –« seine Stimme klang ganz und gar nach der süßen Scheußlichkeit einer altjungferlichen Sonntagsschullehrerin – »wie kommt es denn, daß eine junge Person wie Sie von solchen Dingen überhaupt etwas weiß?«

Ann verlor, zum erstenmal in Copperhead Gap, völlig die Geduld. »Kein Wort mehr! Sie können nicht um die Sache rumkommen, indem Sie derartige Beschuldigungen aussprechen! Ich würde mich über nichts mehr freuen, als wenn Sie sie bei einer öffentlichen Untersuchung wiederholen würden! Ich werde nicht lang hier bleiben – –«

»Nein, das glaub ich auch nicht!«

»– und ich könnte Ihnen einen Gefallen tun, indem ich einen öffentlichen Skandal verhüte, der zur Folge hätte, daß Sie und die Bitlick und Ihr ›Captain Waldo‹ schnurstracks aus dem Gefängnis fliegen! So was ist schon mal vorgekommen, das wissen Sie recht gut! Hier herrscht Korruption, Grausamkeit, sexuelle Perversion und alles, was scheußlich ist. Ich könnte es möglich machen, eine Säuberungsaktion durchzuführen und Sie zu schonen – denn wenn alles herauskäme, könnten Sie nie wieder einen politischen Posten haben, nicht einmal hier, mein Bester. Ich schlage Ihnen vor, daß Sie Kitty Cognac wieder in die Werkstatt versetzen, Birdie herausnehmen und dann zur obersten Vertrauensperson der Gefangenen eine Frau machen, die mehr Verstand hat und ehrenhafter ist als wir beide zusammen – Jessie Van Tuyl. Also, werden Sie sich das überlegen, oder soll ich zu den Zeitungen gehen und einen Stunk aufrühren?«

Dr. Slenk war in seinen Stuhl zurückgesunken. Seine schwachen Beinchen, an deren gut gepflegte und sorgfältig gebügelte Hosen ein als Diener funktionierender Sträfling viel Zeit wandte, zuckten und zitterten. Der kleine Mann war nicht sehr tapfer, wenn er nicht von einem Drachen wie Cap'n Waldo oder Mrs. Bitlick beschützt wurde. Er quäkte:

»Oh! Aber das wäre doch ganz unmöglich! Wegen Birdie werd ich tun, was ich kann – ich werde dafür sorgen, daß Mrs. Bitlick ihr ihren Posten wiedergibt, sobald sie einmal ein bißchen bestraft ist. Und ich werde ihr auch sagen, daß sie der Cognac nicht so viel Freiheit lassen soll. Aber Mrs. Van Tuyl! Ja, das ist doch eine Kommunistin!«

 

Mrs. Bitlick und Ann saßen um fünf Uhr nachmittags im Dienstzimmer. Ann addierte. Die dünne Spitze ihres Bleistifts machte ein kratzendes Geräusch, während sie die Zahlenreihen auf einem Bogen Papier auf dem Pult entlangfuhr. Mrs. Bitlick las ostentativ den Bericht der Küchenaufseherin, aber sie blickte unaufhörlich auf ein und dieselbe verschwimmende Stelle; sie dachte, und Ann wußte, woran sie dachte. Mrs. Bitlicks Gedanken waren nahezu sichtbar – durcheinanderwirbelnde Formen von Haß, Blitze und Gewitterwolken und bebende Massen mistfarbenen Nebels.

»Ich werd rausgeschmissen«, überlegte Ann zufrieden, während ihr Bleistift auf der Tischplatte scharrte. »Ich werde Lindsay sehen, Malvina und Pat! Gesellschaft bei Malvina!« Während dieser vierzehn Monate in Copperhead Gap hatte sie kaum Zeit gefunden, ihnen zu schreiben; aber sie schienen immer, schattenhaft wie ihre Tochter Pride, um sie zu sein.

In der Hemdennäherei unten verstummten die Maschinen, und die Stille wurde bedrohlich laut. Im nächsten Augenblick war ein sich steigerndes Kreischen vieler Stimmen zu hören. Mrs. Bitlick stürzte hinaus, Ann ihr nach, im Korridor stieß Kitty Cognac zu ihnen; sie liefen hinunter zur Tür der Werkstatt.

Die Arbeiterinnen, die gerade im Begriffe standen, einzeln herauszugehen, standen zaudernd, mit verlegenen Mienen, umher; Miss Peebee schüttelte Josephine Filson und schrie: »Sie haben Ihr Pensum wieder nicht fertig gemacht! Ich werde dafür sorgen, daß die Oberaufseherin Ihnen zehn Tage Einzeln verpaßt«, und Miss Filson jammerte: »Nein, nein, bitte nicht!« Miss Filson riß sich los und schlug Miss Peebee ins Gesicht, schön, quer über die Augen und die lange Nase. Miss Peebee hieb ihr mit ihrem langen dünnen Rohrstock übers Gesicht und rief gellend: »Wache! Nach der Wache klingeln!«

Mrs. Bitlick drückte auf den Wachknopf, und Kitty, die hinter ihr herkam wie ein in Kampfstimmung geratener englischer Setter, lief auf Miss Filson zu.

Birdie Wallop sprang aus der Reihe der Frauen, rannte zu der Doppeltür, versperrte sie, warf den Schlüssel unter eine der elektrisch betriebenen Nähmaschinen und schrie: »Mädels! Ran! Schlagen wir sie tot! Schlagt die Peebee tot! Schlagt die Bitlick tot!«

Im Nu war die Revolte im Gang. Später wußte niemand recht, was eigentlich geschehen war. Aber Scharen von Frauen stürzten sich auf Mrs. Bitlick, Miss Peebee, Kitty, zerrten sie an den Haaren, zerrissen ihnen die Blusen, schlugen auf sie ein, trieben sie zurück an die Rückwand des Raums, während die Wärter draußen bereits brüllten und an die verschlossene Tür pochten.

Ann schossen in einer einzigen Sekunde zwanzig verworrene Gedanken durch den Kopf. Sie hätte sich von Herzen gern daran beteiligt, die Bitlick, die Peebee und Kitty zu verprügeln. Aber sie wollte nicht ins Gefängnis gehen – nein, das hätte sie nicht ertragen. Aber sollte sie eigentlich nicht – war sie nicht ein Feigling? Was aber mit ihrer Treue zur Uniform? Und war dieses Revoltieren nicht das Schlimmste, was die Mädchen sich einbrocken konnten? Und waren die Bitlick, die Peebee und Kitty ihr nicht an physischem Mut weit überlegen, waren sie nicht ihnen allen weit überlegen? Denn die drei Frauen kämpften, an die Wand gedrängt, mit wilder Wut, ohne zu zucken, ohne um Gnade zu winseln – sie kratzten, traten und schlugen zurück, jede von ihnen konnte es mit dreien dieser rebellierenden Sklavinnen aufnehmen, denen es so lange an guter Nahrung und frischer Luft gefehlt hatte.

Mitten unter die Kämpfenden trat eine neue Gestalt, furchtlos wie die Bitlick – Jessie Van Tuyl; sie rief mit klingender Stimme: »Hört auf, Mädels! Hört auf! Hat keinen Sinn! Nachher kriegen sie euch doch! Und außerdem ist es nicht fair – siebzig gegen drei!« Mrs. Van Tuyl deckte mit ihrem breiten Körper die erschöpfte Peebee … die sie mehr haßte als alles Lebendige und Tote seit Anbeginn der Zeiten.

Ann, deren eifrige kleine Gedanken nun ganz in Erregung aufgegangen waren, stürzte sich hinein, um die Revoltierenden zu schützen, indem sie die Aufseherinnen beschützte. Sie suchte sich durch den Menschenknäuel durchzudrängen. Sie packte den Arm einer Gefangenen, die ausholte, um einen Schraubenschlüssel zu schleudern. Und die Gefangene, die sie noch nicht kannte, heulte: »Da ist noch son Aas! Schlagt sie tot!«

Eine ältere Gefangene – eine schwere Frau aus den Bergen, kräftig wie Cap'n Waldo, eine wahrhaft berühmte Schweine- und Putendiebin und Bauernwagenräuberin – antwortete: »Nein! Das ist Miss Vickers! Die ist richtig!« Und die Boadicäa aus den Bergen nahm Ann unter den Arm und führte sie fort, als wäre sie ein Schwein, das sie stehlen könnte, pflanzte sie, fern vom Kampf, an die Seitenwand und hielt sie dort mit einer Hand fest, während sie mit der anderen Reservespindeln, über die Menge hinweg, nach den Köpfen der Aufseherinnen zu schleudern versuchte.

»Sieh doch zu, daß sie aufhören! Sie müssen aufhören!« flehte Ann. »Sie werden fürchterlich bestraft werden.«

»Na ja, das wird wohl schon so sein. Aber ihre Strafe haben sie ja jetzt auf jeden Fall weg, und da können sie doch auch noch bißchen Spaß haben. Jetzt wissen sie wohl schon, was sie wollen. Mis' Bitlick wollen sie totschlagen, glaub ich«, sagte die Boadicäa langsam.

»Was sie sagt«, überlegte Ann bei sich, »hat viel für sich.«

Die Tür wurde eingeschlagen, Cap'n Waldo und ein halb Dutzend Aufseher, mit Gewehren, Totschlägern und Gummiknüppeln bewehrt, machten sich an die Arbeit. Es war recht scheußlich. Sie gingen systematisch vor. Eingeschlagene Nasen. Schädelwunden, in denen sich das Haar mit dem Blut verfilzte. Ausgespienes Blut. Zerbrochene Handgelenke. Blaugeschlagene Augen. Frauen, die sich auf dem Boden wanden.

Cap'n Waldo nahm sich selbst des Riesenweibes an, das Ann festhielt, er gab ihr einen Schlag auf das Kinn, mit dem er ihr die Kinnbacke zerbrach und zwei Zähne herausschlug. »Das sind zwei Zähne, in denen sie nie wieder Zahnweh haben wird!« brüllte er vergnügt, wenn er später davon erzählte.

 

Es war eine schwierige Urteilsfällung, sogar für einen Politiker vom Schlage Dr. Slenks. Er konnte für die Dauer eines Monats die tägliche Erholungsstunde ausfallen lassen und allen siebzig Frauen in der Werkstatt das Sprechen verbieten. (Allerdings hatten nur dreißig von ihnen revoltiert, und die übrigen erschrocken zugesehen.) Aber von Rechts wegen müßte man sie, wie Dr. Slenk bei einer Zusammenkunft aller Aufseherinnen, an der auch Cap'n Waldo teilnahm, erklärte, für die Dauer eines Monats auf Wasser und Brot setzen und die Hälfte der Revoltierenden ins »Loch« stecken. (Welche Hälfte, sagte er in einem Anflug seiner alten, sorglosen Munterkeit, wäre eigentlich gleichgültig!) Aber sie hatten im Loch nur vier Dunkelzellen, und was die Rationen betraf: wenn man diesen Satansbraten so wenig zu essen gäbe, wie sie verdienten, würden sie nicht genug Kraft haben, um ihre Arbeit in der Hemdennäherei leisten zu können; und die Beamten waren doch den guten Kontraktfirmen verpflichtet, die dem Staat fünfundvierzig Cent täglich für jeden Arbeiter und jede Arbeiterin bezahlten, nicht? (Wieviel die guten Kontraktfirmen Dr. Addington Slenk zahlten, erklärte er weder damals noch bei anderen Gelegenheiten.)

»Na, wenn ich der Chef von's Ganze wär, würd ich sie tüchtig Kohldampf schieben und trotzdem ihre Arbeit machen lassen! Ihr wißt doch, was die New Yorker Bullen sagen: ›Im Ende von einem Gummiknüppel steckt ne schöne Portion Gesetz.‹ Na, für Penner steckt ne schöne Portion Aufmunterung in einem naß gemachten Lederriemen!« rief Cap'n Waldo wiehernd.

In diesem Augenblick empfand Ann eine mit Schaudern gemischte Bewunderung für Mrs. Bitlick. Sie war ein wenig eingeschüchtert; sie hatte um einen ständigen männlichen Wachtposten in der Nähe der Werkstatt gebeten. Aber sie war mutig genug, mit Cap'n Waldo darin übereinzustimmen, daß es wünschenswert sei, alle Frauen einen Monat lang hungern zu lassen.

Dr. Slenk durchkreuzte unter Entschuldigungen diese Absichten. Er kenne die Kontraktfirmen besser als die anderen. Und er müsse der Presse gegenüber die Revolte als geringfügig darstellen. Strenge Strafmaßnahmen würden die Bedeutung der Angelegenheit nur unterstreichen. Nein. Man werde einfach die Erholungsstunde einen Monat lang aussetzen, zwei Tage lang nur Wasser und Brot geben, sechs von den Frauen peitschen und vier von diesen sechs auf zwei Wochen in die Dunkelzellen setzen.

Die vier dafür Auserwählten waren Birdie Wallop, Josephine Filson, eine Bootleggerin aus Pearlsburg und die Schweinediebin, die Ann beschützt hatte.

Ann schrie auf: »Mit Miss Filson dürfen Sie das nicht tun! Für sie bedeutet das den Tod! Sie ist nicht kräftig genug! Und Birdie ist nicht schlecht – sie ist bloß ein unüberlegtes Ding!«

Sie wandten ihr die Köpfe zu wie Automaten in einem Wachsfigurenkabinett.

Dr. Slenk war jetzt, da er Cap'n Waldo und die Bitlick neben sich wußte, recht mutig. »Miss Vickers! Ich habe schon längst darauf gewartet, daß Sie Ihr Mundwerk in Bewegung setzen! Es ist noch sehr die Frage, ob Sie nicht zu einem guten Teil für diesen verbrecherischen und unentschuldbaren Ausbruch verantwortlich sind, Sie und diese Person, die Van Tuyl! Ich finde, wir haben jetzt genug von Ihrer feinen Bostoner Bildung und Soziologie! Ich habe mir schon überlegt, ob es nicht an der Zeit ist, ein Disziplinarverfahren wegen Anstiftung zu Übertretungen gegen Sie einzuleiten. Oder wollen Sie vielleicht lieber gleich jetzt hier Ihr Amt niederlegen?«

»Nein! Sie können ein Verfahren gegen mich einleiten!« Ann hatte mit einemmal Freude an ihrem Haß und Abscheu. »Sie würden mir mit einem Verfahren einen Gefallen tun! Ich werde dafür sorgen, daß recht viele Berichterstatter da sind, und zwar nicht nur von hier!«

»Wenn Sie auch nur eine Minute lang glauben«, erklärte der wirkliche Boss, Cap'n Waldo, »daß wir Angst vor den Zeitungen haben – – Aber davon reden wir später! Nur eine Sache noch, Doc. Gibt's keine Möglichkeit, daß wir dieses Mistvieh, die Van Tuyl – entschuldigen Sie, meine Damen, das ist mir nur so ausgerutscht – statt der Bootleggerin Dreck fressen lassen? Die Bootleggerin ist nicht so schlecht – bloß son bißchen ungeschliffen. Sie predigt nicht freie Liebe und Anarchismus und Revolution, wie die Van Tuyl.«

»Nein. Ich würd's ja nur zu gern tun«, seufzte Dr. Slenk. »Aber ich will Ihnen sagen, was wir machen können. Wir werden das verrückte Niggerweib, das immer brüllt, zur Van Tuyl in die Zelle stecken, und das wird ihr wohl so viel zu tun geben, daß sie keine Revolten mehr inszeniert!«

 

Ann merkte, daß sie ebenso erledigt war, wie wenn man sie an die Luft gesetzt hätte. Ihre Kurse wurden ihr abgenommen; sie durfte mit keiner Gefangenen sprechen; sie konnte sich nur noch im Wohnraum aufhalten, wo Mrs. Kaggs und die anderen Hausmütter kein Wort mit ihr redeten – und in Mrs. Bitlicks Dienstzimmer, wo sie ihre Bücher führen mußte.

Das Auspeitschen der sechs Frauen sah sie nicht. Sie nahm an, daß es in einem Lokal gleich neben dem Loch vor sich ging, in einer Kellerzelle, die unterhalb des Galgenraums lag – noch tiefer als der Galgen selbst. Sie mußte zu den vier dort eingesperrten Frauen hinunter. Die Treppe vom Galgenraum zum Loch wurde stets von einer besonders bösartigen Wache behütet. Ann schlich umher und blickte in den Galgenraum hinein, als wäre sie selbst eine Gefangene, die einen Fluchtversuch machte. Im Zuchthaus lernt man das Schleichen, ob man nun Verbrecher oder politischer Gefangener, ob man höherer oder niedriger Beamter ist. Spät eines Nachts, während Kitty Cognac am einen Ende des Zellenkorridors nickte und Mrs. Kaggs am anderen schnarchte, ging Ann auf den Zehenspitzen durch den Korridor und dann die Wendeltreppe zum Galgenraum hinunter. Kein Wachtposten war zu erblicken. Sie sah Rauch. Er hatte sich in aller Gemütlichkeit hinter dem Galgen versteckt, um eine Zigarette zu schmauchen. Sie stahl sich hinüber zu der schmalen Treppe, die in den Keller hinunterführte.

Die Tür unten war nicht versperrt. Das war auch nicht nötig! Sie kam in einen Raum, der aussah wie das Innere eines ausgehöhlten Zementblocks; keine Türen außer der, durch die sie hereingekommen war, und einer noch schmäleren, niedrigeren gegenüber; Ventilation durch vier Löcher von fünfzehn Quadratzentimeter Querschnitt im Fußboden darüber … dem Boden des Galgenraums. Eine Milchglaslampe. Im Mittelpunkt dieses Zementwürfels stand ein hölzerner Pfosten mit einem Querbalken, an dessen beiden Enden Handschellen angebracht waren.

An dem Pfosten klebte eingetrocknetes Blut.

Der Schandpfahl.

Sie floh von ihm zur gegenüberliegenden Tür. Sie war versperrt, aber der Schlüssel stak. In verzweifelter Angst (was, wenn man sie, sobald sie einmal drin war, dort einschloß?) öffnete sie die Tür und kam in einen tropfend feuchten Durchgang in unbehauenen Felsen. Es herrschte völlige Dunkelheit. Das Ganze hatte etwas grotesk Dramatisches und Unheimliches.

Im Licht ihrer elektrischen Taschenlampe ging sie vorwärts. Sie mußte sich bücken und konnte es nicht vermeiden, mit dem glitschigen Gestein auf beiden Seiten in Berührung zu kommen. Nach drei Metern erweiterte sich der Gang zu etwas, das einer Höhle aus einem Seeräuberroman glich – dem Loch. Es war eine zweieinhalb Meter hohe fensterlose Kammer, völlig finster; Stein und Ziegel; feuchter Zementboden. An der einen Seite lagen vier Zellen, in denen es weder Bett noch Schemel gab. Ihre Einrichtung bestand aus einem Eimer, einer dünnen, schmutzigen Decke, einem Wasserkrug – er wurde einmal im Tag gefüllt, zur gleichen Zeit gab es zwei Schnitten Brot – und sonst nichts, wenn man nicht ein menschliches Wesen mit den Überbleibseln einer kostbaren Seele dazu zählen wollte.

Vier Frauen lagen zusammengekauert auf ihren Decken, jede in einer Zelle, im Schlaf zitternd.

Die erste, auf die das Licht von Anns Taschenlampe fiel, war Josephine Filson. Sie hatte sich halb von ihrer Decke heruntergewälzt und lag mit zur Seite geschleuderten Armen, in der Stellung einer Gekreuzigten, auf dem kalten und schlüpfrigen Zementboden. Ihr Atem war ganz sonderbar, ein gequältes Ächzen.

»Lungenentzündung«, dachte Ann erschüttert.

Hastig, als wollte sie sich um Hilfe umsehen, leuchtete sie in die nächste Zelle hinein, und das armselige Wesen darin sprang auf und duckte sich winselnd, die Fingernägel in die verschmutzten Wangen bohrend. Ann erkannte sie zuerst nicht. Das war ein Tier im Käfig, ein Unter-Tier, mit wildem, stupidem Blick, mit verfilzten, herunterhängenden Haarzotteln.

Dann merkte Ann, daß es Birdie Wallop war.

Birdie war von dem grellen Licht der elektrischen Lampe geblendet. Sie schrie auf: »Oh, nicht! Ich will ja alles tun. Nur Lampen mach ich nicht! Ich weiß nichts von der Van Tuyl und von Miss Vickers!«

»Ruhig! Birdie! Ich bin's, Miss Vickers – Ann!«

»O mein Gott! Sind Sie gekommen, um mich rauszuholen? Ich werd wahnsinnig! Ich bin schon wahnsinnig!«

»Ich versuch's ja! Birdie! Was ist denn mit Miss Filson?«

»Die stirbt wohl. Sie hat das Peitschen nicht aushalten können. Zweimal ist sie ohnmächtig geworden. Sie haben uns gepeitscht. Haben uns bis zum Gürtel ausgezogen – die Wärter. An den Pfosten haben sie uns geschnallt, mit hochgezogenen Armen, und mit einem Riemen mit Löchern geprügelt. Sehen Sie!« Ihr »Sehen Sie!« war ein Aufschrei. Sie riß sich die Jacke ab. Ihr verschwollener Rücken war nicht mit Striemen, sondern mit nässenden Schwären übersät. »Und jeden Tag haben sie uns an der Tür da angebunden, sechs Stunden jeden Tag, mit den Armen hoch, so daß wir grade mit den Zehen auf dem Fußboden waren. Arme haben Sie dann wie aus Feuer. Man hängt da, und Herrgott! wie es einen zerreißt, Wasser, Wasser, jede Minute! Jo hat die ganze Zeit, wie sie da an der Tür gehängt hat, geschrien, nur wenn sie ohnmächtig war, ist sie still geworden. Wissen Sie, was ich tun werd?« Birdies Ruhe war beängstigend, hatte etwas Abnormales, wie das Zentrum eines Zyklons. »Ich schlag wen tot, wenn ich da rauskomm. Das haben die mit uns gemacht. Ich werd nicht anständig! Ich schlag wen tot. Aber Jo – die kommt wohl nie wieder raus, nie wieder.«

Ann sah hinter sich und fuhr herum. Die Tür stand noch offen, zwei Taschenlampen leuchteten auf.

Die Stimme eines Wächters, unsichtbar hinter dem Lichtkegel: »Teufel noch mal, was macht die denn da unten? Wie ist sie hergekommen?«

Die Stimme Dr. Sorellas: »Ist schon in Ordnung. Ich hab ihr gesagt, sie soll kommen. Verdrück dich!« Als der Posten gegangen war, jammerte Sorella: »Ann! Du lieber Gott, wie sind Sie da heruntergekommen? Wissen Sie nicht, daß die Ihnen auflauern? Die werden irgendwas finden, um Sie reinzulegen – um Sie hier einzulochen!«

»Ich weiß! Ich weiß! Sehen Sie her! Miss Filson ist schwer krank.«

»Ja. Lungenentzündung. Ich habe angeordnet, daß sie von hier weggeschafft wird. Angeordnet! Ich! Meine ›Anordnung‹ hat man nicht befolgt. Slenk und die Bitlick wollten. Hatten Angst. Aber der Dringoole hat nicht nachgegeben. Sagt, es ist ihre eigene Schuld, wenn sie stirbt. Sagt, sie hat die ganze Schweinerei angestiftet – zusammen mit Birdie und Ihnen! Lassen Sie mich mal nach ihr sehen.«

Er machte Miss Filsons Zellentür auf, lauschte ihrem Atem, und als er herauskam, lachte er ebenso hysterisch wie Birdie:

»Anordnung! Ich habe etwas angeordnet! Ich werde noch was anordnen!« Im ruhigen Licht von Anns Lampe hatte er seine Taschenflasche herausgeholt und schluckte jetzt glucksend. »Wollen Sie nicht was trinken? Nein, was? Gescheites Mädel. Ich habe die ganze Nacht getrunken. Mit mir ist es jetzt so weit, daß sie mir nicht einmal mehr glauben und die Frau sterben lassen. Kommen Sie, gehen wir raus hier. Was trinken?«

Ann hatte Lust, was zu trinken. Aber sie tat es nicht.

Als sie aus dem Verließ gingen, schrie Birdie ihnen kreischend nach: »Laßt mich nicht allein hier! Es ist so finster! Ich hab Angst! Ich werd wahnsinnig!«

 

Ann setzte sich über alle Vorschriften hinweg.

Sie ging in ihr Zimmer hinauf, legte die verhaßte adrette Uniform ab und zog sich christliche Kleider an, hinterließ auf Mrs. Bitlicks Pult eine Nachricht des Inhalts, sie sei »für ein paar Stunden weggeholt« worden, und ließ sich vom äußeren Wachtposten einen Wagen zur Bahn bestellen. Sie wußte, daß an diesem Morgen um acht Uhr sieben ein Zug nach Pearlsburg abging.

Um halb zwölf nahm sie am Pearlsburger Bahnhof eine Taxe und fuhr zu dem geräumigen und respektablen Haus Mrs. Albert Windelskates vom Staatlichen Überwachungsausschuß für Gefängniswesen.

Sie hatte vom Bahnhof angerufen.

Das Chateau der Windelskates war ein Ziegel- und Kalksteinbau mit längsgeteilten Gitterfenstern, deren Muster Wappenschilder vorstellen sollten.

Ein Dienstmädchen führte sie mißtrauisch in einen Salon, der so groß und so hübsch eingerichtet war, daß er einer Hotelhalle mit einem Schuß Möbelmagazin ähnelte. Mrs. Windelskate las demonstrativ Aus einem Totenhaus. Sie sah gleichgültig auf; sie fragte süß-freundlich »Ja?«, aber sie zitterte in vorgefaßter Wut.

Ann war gewarnt. Sie sagte, so sanft sie nur konnte: »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie so plötzlich überfalle. Und ich bitte Sie sehr, mich anzuhören. Es gibt meiner Ansicht nach Dinge in Copperhead Gap, von denen Ihnen nur ein Eingeweihter erzählen kann; und gerade jetzt handelt es sich um etwas fürchterlich Drängendes. Das Leben von zwei, vielleicht vier Frauen, ist unmittelbar gefährdet – es geht wirklich um ihr Leben!«

Mrs. Windelskate explodierte, und mit Recht hat man gesagt, daß keine Hölle solche Schrecken habe wie die in Wut geratene Frau eines respektabilitätslüsternen Wucherers:

»Meine – liebe – junge – Person! Über Sie bin ich genau im Bilde! Bis in die kleinste Kleinigkeit! Ich habe meine Informationen von Dr. Slenk persönlich, der mir zufällig sehr gut bekannt ist und mein Vertrauen genießt; den wir in unserem Eigenen Heim empfangen haben! Und von Mrs. Bitlick! Wie konnte ich mich nur so in Ihnen täuschen! Ich weiß jetzt, daß Sie eine Busenfreundin von Jessie Van Tuyl sind – von dieser Kommunistin, dieser Anarchistin, dieser Atheistin, dieser Unruhstifterin! Ich zweifle nicht einmal sehr stark daran, daß Sie eine bezahlte Moskauer Propagandistin sind, die sich als Spionin in unsere Mitte einschleicht, wie eine Klapperschlange! Ich weiß, wie Sie lügen und falsche Berichte machen können! Dr. Slenk hat mich gewarnt! Ich habe schon Verabredungen mit den Zeitungen, um dafür zu sorgen, daß alle Lügen, die Sie zu verbreiten suchen, festgenagelt sind, bevor Sie imstande sind, das sozialistische Gift dieser erfundenen Geschichten unter die Leute zu bringen …«

Es kam noch mehr, noch viel mehr.

Ann war nicht allzu sanft in ihrer Antwort.

Im Verlauf der halben Stunde, die dieser Auftritt währte, verwandelte sich all seine Scheußlichkeit für Ann in etwas nahezu possenhaft Komisches, denn in der Vorderdiele warteten, mit der größten Selbstverständlichkeit hereinsehend, das Mädchen, ein großer Negergärtner und ein uniformierter Polizist … um Mrs. Windelskate gegen Ann Vickers zu schützen.

 

»Morgen such ich den Gouverneur selber auf«, gelobte sich Ann, während sie auf dem Bahnhof wartete. »Aber heut abend geh ich nach Copperhead zurück. Sehen, was ich tun kann. Sehen, was ich tun kann … Nichts kann ich tun.«

Sie musterte das Publikum, das auf dem Bahnhof wartete, das Prächtige Gewöhnliche Volk, die Gesicherten und Gesunden, die Männer und Frauen der Straße, das Rückgrat der Demokratie, die Wähler von Gouverneuren und Präsidenten, die Erben aller Zeitalter, die Nachfolger der Könige und Priester, die Herren des Weltalls, die Schöpfer des Schöpfers. Geschäftsreisende mit Mappen, rundlich und vergnügt, oder sauber und bebrillt. Die Frauen von kleinen Geschäftsleuten und Bankangestellten, die eine Woche bei Tante Molly verbringen wollten, brave, reine Frauen, die niemals bewußt gelogen oder jemand weh getan hatten. Umfangreiche Bauernweiber mit Eßkisten, stark und freundlich. Ein Priester mit seinem hübschen kleinen rot-schwarzen Brevier, in dem Worte inniger Beziehungen zu Gott dem Allmächtigen standen, und ein schneidiger junger Baptistenprediger, der so kühn war, seine Fortschrittlichkeit vor aller Welt zu zeigen, indem er das Christian Century las. Ein hochgewachsener Mann in Schwarz, ein Richter vielleicht, mit Fältchen an den Augen vom Lächeln und vom Lesen vieler Bücher.

»Ja, mit euch rede ich!« schrie Ann ihnen allen zu – wenn auch ohne Stimme. »Ihr seid es, ihr, die guten Leute, die soliden Leute, die verantwortlichen Leute! Ihr seid es, und nicht das ›Gesindel‹ oder die Verbrecher, ihr habt die Verantwortung dafür, daß die Macht über Tausende im Dunkel Sadisten und Schwachköpfen gegeben wird, die dann Folterknechte werden, und ihr wißt es nicht, ihr kümmert euch nicht darum, ihr wollt nicht hören!«

An der Seitenpforte des Gefängnisgebäudes, die der Frauenabteilung am nächsten lag, brummte der Wächter, ein nicht unfreundlicher Dummkopf, Ann zu: »Guten Tag. Kleine Reise gemacht? Ein Frauenzimmer ist abgekratzt heute – Filson heißt sie.«

 

Im Wohnraum, als sie wieder in der Gefängnisuniform stak, fiel ihr ein, daß sie noch gar keinen Begriff davon hatte, wie sie Birdie helfen könnte. Den Gouverneur aufsuchen – – Ach ja, das wird sie tun. Aber kann das überhaupt helfen?

Es fiel ihr auch ein, daß sie hungrig war. Sie hatte kein Frühstück (außer Maisküchelchen und Coca Cola) und keine Mittagsmahlzeit gehabt, und zum Abendessen war sie schon viel zu spät gekommen.

Sie fühlte sich völlig zerschlagen.

In das Zimmer kam Birdies Nachfolgerin gehüpft, gleichfalls eine Bootleggerin; Jessie Van Tuyl hielt sie für einen Lockspitzel.

»Ach, Miss Vickers! Mrs. Bitlick wollte wissen, ob Sie schon zurück sind. Haben Sie was zu essen gekriegt? Haben Sie schon von Jo Filson gehört? Das war doch zu schlimm! Die arme Mis' Bitlick, geweint hat sie, und ganz außer sich war sie – sie hat Jo aus dem Loch rausnehmen und direkt in ihr eigenes Zimmer bringen lassen, und dann«, voll Empörung, »dreht sich die Jo einfach rum und stirbt ihr weg. Aber deshalb bin ich nicht hergeschickt worden. Cap'n Waldo hat mich geschickt. Mit der Gefängnisleiche, mit dem Doc Sorella, sieht's schlecht aus. Unter uns gesagt, ich glaub, er ist im letzten Stadium vom Delirium, und er verlangt immerzu nach Ihnen. Sie haben einen anderen Doktor geholt, aus der Stadt, aber der kann scheinbar nichts tun, und der möchte gern, daß Sie kommen und sehen, ob Sie Sorella bißchen beruhigen können. Werden Sie kommen? Er braucht Sie unbedingt, sagt der andere Doktor!«

»Natürlich komm ich!«

Die als Botin fungierende Gefangene führte Ann auf Abkürzungen, herauf und hinunter, rechts und links herum, in den Flügel, in dem das Männerlazarett untergebracht war, das Untersuchungszimmer, der Operationsraum, das sogenannte »Laboratorium« und die aus zwei Zimmern bestehende Privatwohnung Dr. Sorellas. Zu dieser kam man aus dem »Laboratorium«, einem verdreckten Verschlag mit einem billigen Mikroskop, zerbrochenen Eprouvetten, größtenteils leeren Reagenzgläsern, einem Fahrrad, einem Blumentopf mit abgestorbenen und verwelkten Geranien, und zwei Paar Galoschen. Die Botin stieß Ann sanft in Dr. Sorellas Wohnzimmer. Darin stand ein Feldbett mit einer abgeschabten falschen türkischen Decke; ein Öfchen; ein Morrisstuhl mit einem abgebrochenen Bein, das mit Schnur festgebunden war; ein Tisch aus gescheuertem Goldeichenholz; medizinische Bücher, auf zwei Stühlen aufgestapelt; und Stevensons Werke auf einem Regal. Es sah einigermaßen sauber aus. Ann dachte, Dr. Sorella hätte dieses Wohnzimmer wohl letzte Nacht in der Unruhe seiner Schlaflosigkeit selbst sauber gemacht.

»Hier, gleich hier herein!« zirpte die Botin, Ann die Hand in beleidigender Vertraulichkeit auf den Arm legend und sie zur Schlafzimmertür schiebend.

Auf dem Fußboden lagen verstreut die Kleider des Arztes, und auf einer Fichtenholzkommode stand eine leere Whiskyflasche, aus der es noch roch.

Dr. Sorella lag quer über dem Bett, sein Kopf hing an der Seite herunter. Er hatte ein Hemd ohne Kragen an und war nur mit einem schmutzigen Laken zugedeckt. Er sah aus wie tot. Aber er atmete mit einem unterdrückten Ächzen, das sich anhörte wie das Josephine Filsons. Auf seiner Stirn standen Schweißtröpfchen.

»Hm! Wo ist der andere Arzt – der aus der Stadt?« fragte Ann.

»Der ist wahrscheinlich auf einen Sprung rüber ins Lazarett. Ich lauf ihn holen«, sagte die Botin.

Ann empfand keinen Ekel. Dr. Sorella schien nicht bloß schwer betrunken zu sein, nicht bloß »sich auszuschlafen«; er schien ein wenig zu delirieren, hohes Fieber zu haben. Ann beugte sich über ihn, fühlte ihm den Puls – er tickte wie eine Uhr. Sie tauchte ein Handtuch in seinen Wasserkrug und setzte sich auf die Bettkante, um ihm die Stirn zu kühlen. (Warum kam der verfluchte Stadtarzt nicht zurück?) Sorella wälzte sich im Schlaf. Er drohte aus dem Bett zu fallen. Mühselig versuchte Ann ihn zurückzuheben. Er machte Gegenbewegungen. Sie mußte ihn eng an sich drücken, wie in einer Umarmung – –

Peng! Ein Blitzlicht flammte auf, und als sie hochfuhr, als sie sprachlos zur Tür blickte, sah sie eine Kamera, ein Durcheinander von Gesichtern: Slenk, ein wenig verlegen, Cap'n Waldo mit offenem Maul, zwei Aufseher, der Gefängnisphotograph und der Lockspitzel, die Botin, alle kichernd.

»So mein Süßes, Sie haben wohl gemeint, Sie können sich verdrücken und ein bißchen mit Ihrem Freund knutschen«, sagte Cap'n Waldo mit wieherndem Gelächter. »Zu schade, daß wir Sie dabei stören mußten! … Snarkey! Hauen Sie ab und bringen Sie mir den Rohabzug so rasch, wie's nur geht. Das muß ein nettes, hübsches Bildchen für alle Wohnzimmer werden – Klein Ann und der Doc knutschend – und er noch dazu halb ausgezogen!«

 

Sie hatten Glück gehabt. Das Bild, das sie sich im Abzug ansahen – alle Aufseherinnen, einschließlich Ann, mit Slenk und dem Cap'n – war besser, als Cap'n Waldo zu hoffen gewagt hatte. Ann war sehr deutlich zu erkennen: ihr Profil, ihre Uniform. Sorellas Gesicht lag an ihrer Brust; sie saß am Bett und hatte, anscheinend im Liebestaumel, die Arme um ihn gelegt.

»Außerdem haben wir Zeugen!« sagte Dr. Slenk freundlich. »Müssen wir noch Zeit verlieren? Treten Sie jetzt zurück? Soll ich einen Abzug davon dem Gouverneur schicken? Er hat sehr viel Humor. Er würde sich ein Vergnügen daraus machen, es überall herumzuzeigen – bei allen Presseleuten.«

»Ach, ich – – Werden Sie Birdie aus der Dunkelzelle herausnehmen? Alle drei herausnehmen?«

»Ja, das will ich tun. Also?«

»Ach, ich trete zurück. Aber erst muß ich Birdie sehen! Und Jessie Van Tuyl! Oder ich laß es auf das Verfahren gegen mich ankommen!«

»Jetzt aber, bei Gott – –« brüllte Cap'n Waldo.

Dr. Slenk hob sein nettes Händchen nett auf. »Ja, wir werden sogar auch das tun. Ich möchte haben, daß Miss Vickers einen angenehmen Eindruck von uns mit sich nach Hause nimmt. Ich bin überzeugt davon, daß sie, sobald sie etwas mehr Erfahrung hat, aufhören wird, so eine dumme kleine Theoretikerin zu, sein. Vindon! Lassen Sie die drei Weiber aus dem Loch heraus. Zurück zur Arbeit. Schaffen Sie die Van Tuyl in die Turnhalle. Lassen Sie Miss Vickers mit ihr sprechen. Sie sehen, Vickers, jetzt ist es uns piepegal, was Sie tun!«

Cap'n Waldo starrte voll Bewunderung seinen Chef an, denn er begriff, daß Dr. Slenk trotz der Sanftheit seines Wesens unter ihnen allen der größte Kämpfer gegen Verbrechen und Radikalismus war.


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