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Von den zwei Frauen in den Todeszellen wurde die erste um elf Uhr in der Nacht nach Anns Ankunft in Copperhead Gap gehängt, und in jener Nacht lernte Ann die Ruhelosigkeit des Gefängnisses kennen, das Jammern, das Schlagen gegen die Gitterstäbe, das am Abend um sieben anfing und bis zur Dämmerung anhielt.
Die alte Negerin Lil Hezekiah, die, eine traurige Studiengefährtin an der Universität der Verdammten, mit Ann zusammen nach Gap gekommen war, war jetzt in der letzten Woche ihrer Wartezeit, und es wurde bei ihr Todeswache gehalten, Tag und Nacht; Tag und Nacht wachten zwei von den neun Aufseherinnen, je zwei Stunden hintereinander, vor ihrer Zelle.
Ann war eine von den neun.
Die Todeswache saß in irrsinnigen Schaukelstühlen – von der Sorte, wie man sie in Sommerhäusern am See findet – in dem Korridor vor Lils Zelle.
Sieben Tage noch. Sechs Tage noch. Fünf Tage noch. In fünf Tagen wird seine Majestät der Staat dieses lebendige menschliche Wesen nehmen und es töten. Da ist sie nun, wahrscheinlich verrückt, alt und verrunzelt und aschgrau, und doch voll von dem Wunder des Lebens – Augen, die auf zauberhafte Weise Dinge sehen und ihnen auf diese Weise Leben verleihen, Ohren, empfindsam für das Wunder des Klangs, ein Schoß, der starke, kupferfarbene Söhne hervorgebracht, Hände, die bunte Teppiche gewebt und den Teig für das Maisbrot geknetet haben – und in fünf Tagen, vier Tagen, drei Tagen nun wird der Staat in seiner Weisheit und Stärke sie zu fassen kriegen und in einen Klumpen bewußtlosen, stinkenden Fleisches verwandeln, um dann stolz auf seine Rache zu sein und die Gewißheit zu haben, daß er durch diesen Mord an Lil Hezekiah jeden zukünftigen Mord für ewige Zeiten verhindert habe.
Durch die Gnade Gottes Amen in unserem Christlichen Lande, da wir nicht wüten wie die Heiden, sondern nach der milden Lehre Jesu uns vereinen zu einer großen Gemeinde, zu dem Zweck, auf edle Weise magere alte Negermammies umzubringen, lasset uns nunmehr singen Land der Freiheit, Heimat der Tapferen – –
Jawohl, Ann raste. Sie verabscheute den Mord. Sie bedauerte es, daß diese verrückte alte Negerin einen Mord begangen hatte. Aber, dachte sie, Lil hat ihn nicht so kalt und leidenschaftslos überlegt, wie wir jetzt.
Zwei Tage noch. Vierundzwanzig Stunden.
Führende Strafrechtstheoretiker des Staates, wie Mrs. Windelskate und Dr. Addington Slenk, gaben oft der Meinung Ausdruck, daß in diesem erleuchteten Lande das barbarische Prinzip der Rache an den Verbrechern keine Geltung mehr habe. Deshalb auch setzte man für Lil Hezekiah die Todeswache ein, um es unmöglich zu machen, daß sie Selbstmord beginge und so die Gesellschaft um das Vergnügen brächte, sie zu töten.
Nicht eine Sekunde des Alleinseins wurde ihr gestattet. Sie mußte schlafen, denken, beten, Urin lassen, über die Tatsache brüten, daß sie in einem Tage tot sein würde, alles unter der gelangweilten Aufsicht von Kittie Cognac oder Mrs. Kaggs oder einer anderen Aufseherin. Sie war eine alte Frau aus den Bergen, an die Stille der Hochtäler gewöhnt. Es verlängerte ihren Todeskampf, daß sie den Tod in den neugierigen Augen dieser Frauen sah, Tag und Nacht, Tag und Nacht.
Aber Lil, die immer eine große Beterin gewesen war, hatte die Tröstung täglichen Gebetes mit dem Gefängnisgeistlichen, Reverend Leonard T. Gurry, wenngleich Mr. Gurry natürlich sehr viel zu tun hatte und nicht mehr als fünf Minuten täglich für sie erübrigen konnte.
Er kam mit munteren Schritten den Korridor entlang und begrüßte Ann und Mrs. Kaggs: » Guten Abend, meine Damen. Hoffentlich strengt Ihr Werk der Barmherzigkeit Sie nicht zu sehr an! Aber Sie können sich bald ausruhen. Es sind ja nur noch zweiundzwanzig Stunden!«
»Ach du lieber lieber Gott!« jammerte die wahnsinnige alte Frau in der Zelle. »Zweiundzwanzig Stunden!«
Mr. Gurry bemerkte: »Lil! Du darfst den Namen des Allmächtigen nicht so leichtfertig aussprechen!« Er trat in die Zelle, aber er blieb mit dem Rücken an der Tür stehen, so weit wie möglich von Lil entfernt. Er war so gut wie sicher, daß Farbige Seelen hätten, aber er mochte ihre Haut nicht.
»Also, Schwester, dies ist eine der letzten Gelegenheiten, die ich habe, mit dir zu beten – ich kann heut nur einen Augenblick bleiben. Also bitte, knie nieder – knie nieder, hab ich gesagt – O Herr unser Gott, sei dieser armen Seele gnädig. Vergib ihr, wenn du kannst. Sie hat ihre furchtbare Sünde bereut und also vergibihramennachtlil.«
»Sie glauben doch, er wird mir vielleicht vergeben? Ja? Nicht wahr?«
»O ja, ja. Seine Gnade ist ohne Ende. Aber jetzt muß ich schnell weg.«
Es gab keine Verordnung in Copperhead Gap, die bei Todeswachen die Vertretung einer Aufseherin durch eine Vertrauensperson gestattete, aber praktisch war es so, daß Kittie Cognac in der Regel an Stelle von Mrs. Kaggs kam, und einmal hatten Ann und Kittie zusammen Wache.
»Nimm dich zusammen, altes Mädel«, sagte Kittie einschmeichelnd zu Lil. »Halt die Ohren steif. Du bist genau so viel wert wie die ganzen Leute da.«
»O nein, das bin ich nicht, Miss«, jammerte Lil. »Ich bin ein ganz schlechtes Weib gewesen. Ich glaube, ich hab wirklich den Tod verdient. Ich hab nicht fleißig genug gebetet, das war mein großer Fehler. Der Prediger hat mir gesagt, ich sollte mehr beten, aber ich hab's nicht gemacht. Mein Alter war immer betrunken, und dann kam er nach Hause und hat mich und meine Tochter verhauen, das ist eine Witwe, und ich hab gebetet und gebetet und gebetet, daß er aufhören sollte, den ollen Niggergin zu trinken. Aber das hat ihn immer wild gemacht, wenn er mich knien sah – da hat er mich immer mit dem Absatz getreten und da bin ich denn im Glauben schwach geworden und hab nicht mehr gebetet, wenn er's sehen konnte. Darin hab ich mich versündigt – deswegen bestraft Gott mich jetzt – weil ich so im Glauben schwach geworden bin, und eine Nacht, wie er nach Hause kam und angefangen hat, eins von meinen Enkelkindern zu hauen, und das war krank, da hab ich ihm eins mit dem Schüreisen gegeben, und wie er anfing, mich zu würgen, das sag ich bei Gott, da hab ich einfach meinen Glauben vergessen und bin mit der Axt auf ihn losgegangen. Ach, ich bin ein schlechtes Weib gewesen, Miss.«
»Ach, Quatsch, so schlecht warst du gar nicht.« Kittie gähnte und steckte sich eine verbotene Zigarette an. Während Ann sich noch überlegte, ob sie wegen der Zigarette etwas unternehmen sollte, stand Lil plötzlich da, die Hände ins Gitter gekrallt, mit wütenden Augen, und schimpfte:
»Ich weiß, was gut und was böse ist! Ich weiß, ob ich schlecht gewesen bin – und auch wer sonst noch schlecht ist! Ich bin nicht, wie ihr Weiber! Hohe Absätze! Zigaretten rauchen! Die Fackeln der Hölle, ja, das sind sie! Ich hab Pfeife geraucht, aber das hab ich auch sein lassen, wegen der Religion, dem Herrn zuliebe! Zigaretten!«
»Na hör mal!« schrie Kittie. »Du weißt ja ne Masse von Religion, du altes Biest mit der Axt! Was weißt du denn von den großen esoterischen Wahrheiten des Spiritismus? Kannst du die Geister beschwören? Ich kann's! Hör mal zu! Willst du mal mit deinem verstorbenen Schwiegersohn sprechen? Josephus hat er geheißen, und er hat deine Saucen immer so gern gemocht.«
»Ach mein Gott, Miss! Das ist die Wahrheit! Die hat er immer gern gemocht. Oh, ist er hier? Hat er ne Botschaft für mich? Wird er vor dem Thron des Höchsten für mich arme, böse alte Frau sprechen?«
Ann flüsterte: »Kittie! Nicht! Oder sehen Sie sich wenigstens vor!«
»Jawoll, ich werd dem alten Mädel eine Fünf-Dollar-Botschaft schenken!«
Lil schaute voll Anbetung die Erpresserin an. Sie war wieder zum Leben erwacht von dem Rauschgift der Hoffnung, das Kittie Cognac aus einer Mutmaßung über die Saucen und Lils Familiengeschichte zusammengebraut hatte. Über ihr kleines altes Affengesicht zuckte ein Lächeln; ihre zerbrechlichen Hände, deren Innenflächen von der ewigen Arbeit weißgescheuert waren, flatterten an den Gitterstäben, und sie betete aufgeregt in abgerissenen Wortfetzen, als die Erpresserin leierte:
»Josephus läßt dir sagen, daß du in Herrlichkeit empfangen werden wirst. Er sagt, die Erzengel werden dich führen.«
»In Herrlichkeit! In Herrlichkeit! Amen!«
Einundzwanzig Stunden noch, und diese anbetend leuchtenden Augen werden ausdruckslose, lächerliche Dinge sein, wie gekochte Zwiebeln anzuschauen.
Dr. Arthur Sorella, der Gefängnisarzt, sah aus wie Edgar Allan Poe. Die Aufseherinnen klatschten, er sei in Hopkins graduiert, er hätte früher eine Stadtpraxis und zwei Packardwagen gehabt und zu trinken angefangen, als seine Frau ihn verließ. Er allein von den Beamten war freundlich gewesen, wenn Ann ihn wie einen Geist durch die Korridore wandern sah.
Als er kam, um einen Blick auf Lil Hezekiah zu werfen, bettelte Ann ihn an – die andere Aufseherin der Wache, ein langes, rotgesichtiges Weib, die einen Senator zum Vetter hatte, schlief fest – »Doktor, Sie wissen doch, sie wird heut abend hingerichtet. Es sind nur noch zehn Stunden jetzt. Geben Sie ihnen manchmal vorher ein Betäubungsmittel? Können Sie ihr nicht was geben? Sie hat solche Angst! Hören Sie, wie sie betet!«
»Das würde ich gern tun. Ich würd's tun, wenn ich könnte. Wirklich, wenn's schon überhaupt Todesstrafe geben muß, würde ich den armen Teufeln eine Gelegenheit geben, Selbstmord zu begehen, anständig und ohne daß einer zusieht; ihnen ein Gift geben, das sie nehmen können, wann sie wollen. Aber so, wie die Dinge liegen, darf ich ihnen nicht mal Morphium geben. Früher ließ der Direktor die Verurteilten schön besoffen machen, und dann ließen sie sich ganz vergnügt hängen. Aber die Prediger und die guten Leute in diesem Staat haben beschlossen, ihr Gott hätte nicht genug Vergnügen von seiner Rache, wenn die Sünder nicht nüchtern wären und auch merken könnten, was Er ihnen antut.«
»Aber können Sie nicht – –«
»Still!« Dr. Sorella starrte sie wütend an und warf einen Blick auf die schlafende Aufseherin. »Natürlich, Sie Schaf! Ich steck ihnen immer was zu. Wenn ich das nicht täte, müßte ich mich selber umbringen. Bitte, sagen Sie Cap'n Waldo nichts. Hören Sie! Gehen Sie weg von hier! Entweder wird es Sie umbringen, oder, noch schlimmer, es wird Sie ebenso sadistisch machen wie Cap'n Waldo, nur auf eine feinere Weise! Es hat noch nie ein menschliches Wesen gegeben, das je gut genug oder weise genug war, es Jahr für Jahr auszuhalten, daß ihm die Macht gegeben ist, Leute zu martern. Auf mich kommt's nicht an; ich bin fertig. Machen Sie, daß Sie rauskommen! O Gott, ich muß was trinken!«
Ann sah hinein zu Lil Hezekiah, die ihre dürren Hände in einer ekstatischen Vision ihres Gottes emporhielt.
»Ich auch!«
Sie schluckten fieberhaft, ohne sich zuzutrinken, aus der Flasche mit beißendem Bootleggerschnaps, die er in seiner Rocktasche hatte.
Den größten Teil der letzten sechsunddreißig Stunden, ehe Lil Hezekiah gehängt wurde, war Ann auf Wache. Sie hatte am ehesten Zeit dazu. Abgesehen von ihrer Buchführung hatte sie keine wichtigen Pflichten, wie etwa die Gefangenen am Auskneifen zu hindern, oder sie zur Erledigung ihres Pensums in der Hemdennäherei anzutreiben – sie hatte tatsächlich nichts zu tun, als Unterricht zu geben, und das war, wie Mrs. Bitlick erklärte, nur eine Marotte.
Sie hatte Freizeit für einen Augenblick Schlaf in diesen sechsunddreißig Stunden, aber sie schlief nicht. Wach lag sie in ihrem Schlafraum und sah nicht das erzieherische und abschreckende Bild der Mrs. Kaggs vor sich, wie sie gähnte und sich in den Achselhöhlen kratzte, sondern eine Lil Hezekiah, die an Gott glaubte.
Um halb elf an einem Abend im Winteranfang, als die Luft in den Korridoren kalt wie in einem Keller war und der Wind in den blätterlosen Bäumen heulte, marschierten Mrs. Bitlick und Ann und Mrs. Kaggs zu Lil Hezekiahs Zelle. Auf Mrs. Bitlicks Wink gingen die beiden wachhabenden Aufseherinnen auf Zehenspitzen weg.
Lil warf einen Blick auf die Oberaufseherin und sprang von den Knien auf. Sie stand gebeugt da, den Kopf beinah auf der mageren Brust, ihre Hände weberten herum. Sie wimmerte wortlos.
Die drei kräftigen Frauen in blauer Uniform rissen die Zellentür auf.
»So, nun bleib da grade stehen, Lil, und zieh deine Kleider aus«, sagte Mrs. Bitlick liebenswürdig.
Aber sie mußten sie halten, um sie bis auf die dunkelgraue Haut auszuziehen und ihr das neue Unterzeug aus sauberem rauhem Baumwollstoff und das neue Kleid aus schwarzem Satin anzuziehen. »Ach, um Gottes willen, nimm dich zusammen! Du bist nicht die erste, die diesen Weg gegangen ist!« schnauzte Mrs. Bitlick. Und entschuldigend zu Ann: »Es ist mir unangenehm, selbst so eine Person bei einer solchen Gelegenheit anzuschnauzen, aber Leute, die ihre Medizin nicht schlucken wollen, gehen mir immer auf die Nerven!«
Zwanzig Minuten vor elf betrat der Reverend Mr. Gurry die Zelle mit einem flotten und munteren » Guten Abend, meine Damen!«
Er legte ein blütensauberes Taschentuch auf den Fußboden der Zelle und kniete darauf nieder, neben Lil in ihrem neuen schwarzen Satinkleid. Das Kleid stammte aus der Werkstatt; die Nähte waren nicht gerade.
Die drei Aufseherinnen standen draußen vor der Zelle. Mr. Gurry betete. Es schien Ann keinen Sinn zu haben; sie hörte nur eine Kette gleißender Worte: Unser Barmherziger Vater, nimm diese Seele, für diese unsere große Schuld.
Während der Kaplan betete, glitt Dr. Sorella an den Aufseherinnen vorbei in die Zelle. Er fühlte Lil den Puls. Es kam Ann so vor, als wenn er Lil etwas gäbe, was sie in schnellem Begreifen in den Mund steckte. Gleich darauf verlor ihr Gesicht das Zucken des Entsetzens; sie fing an zu rufen: »O ja, Herr! Amen! Halleluja! Lobet den Herrn!«
Dr. Sorella ging weg.
Ann fiel in einen Stuhl, sie war fertig.
Mrs. Bitlick packte sie an der Schulter und brummte: »Was fällt denn Ihnen ein! Und Sie, die sich für was Besseres hält! Haben Sie denn gar kein religiöses Empfinden – sitzen während des letzten Gebets! So was hab ich in meinem Leben noch nicht gehört!«
So stand Ann nun wieder, jahrelang, während das Geschwätz weiterging: »Und so nimm denn diese irrende Seele bei dir auf«, und Lil kreischte: »Das ist die Wahrheit! Lobet Gott! Amen!«
Fünf Minuten vor elf kamen mit schweren Schritten zwei Wärter den Korridor entlang, gefolgt von Dr. Sorella und dem klappenden Tanzschritt Direktor Slenks.
Dr. Slenk nickte den drei Aufseherinnen zu, aber als er die Zelle betrat, wurde sein Gesicht fromm, seine Stimme ein wahrer Balsam an Zartheit: »Komm, Lil. Ich hoffe, du hast deinen Frieden gemacht, du armes Weib.« Mit einer scharfen Kopfbewegung gab er den beiden Wärtern ein Zeichen. Die beugten sich schwerfällig vor, griffen Lils Arme und rissen sie auf die Füße.
Aus unbekannten Tiefen des Gefängnisses, aus Hunderten von Zellen kam ersticktes Stöhnen.
Lil war so dünn, so zerbrechlich, und außerdem halb in Narkose. Die zwei Wärter schleppten sie zwischen sich, ihre Füße schleiften nach, ihr Kopf hing herab, aber ihre Lippen murmelten unaufhörlich: »Gelobt sei Gott, gesegnet Sein Heiliger Name.« Gleich hinter ihr kamen Reverend Mr. Gurry, der flott betete, Dr. Slenk, Dr. Sorella und die drei Aufseherinnen. Ann fühlte sich schwach in den Knien.
Sie stolperten eine Wendeltreppe hinunter, zwei schreckliche dunkle Korridore entlang und dann hinaus in einen Raum voll grellen Lichts, in grellem Blau, dem Blau eines Rotkehlcheneis, gestrichen, und in der Mitte stand es – eine Plattform mit einem starken Balken, von dem ein Strick mit einer Schlinge herunterhing. Ann sah den Galgen kaum; sie war verwirrt von der Menge der vierzig Zeugen, die dastanden, starrten, glotzten, beinah grinsten in ihrer Aufregung – Provinzreporter, die sich Mühe gaben, abgebrüht auszusehen, schlaksige Sheriffs, die wohlgefällig und berufsmäßig aussahen, verängstigte farbige Verwandte von Lil Hezekiah.
Ann erkannte den Sheriff, der Lil ins Gefängnis gebracht hatte. Sie hörte, wie er zu einem Reporter grunzte: »Jawoll, ich kenn die Leiche sehr gut.«
Sie machten es schnell mit Lil.
Die Wärter mußten sie jede Stufe einzeln heraufheben – dreizehn Stufen, grell blau gestrichen, vom Fußboden bis zur Plattform. Sie sah so klein aus da oben, über der Masse der Männer mit ihren roten Gesichtern. Sie stand, vom Arm des Kaplans gestützt, schwankend da; man fesselte sie eilig an Händen und Füßen, band ihr höchst keusch den Rock zu, damit er nicht in die Höhe fliegen könnte, legte ihr die Schlinge um den Hals und zog ihr eine schwarze Kapuze über den Kopf. Im gleichen Augenblick hob der Direktor die Hand und nickte; zwei Wärter an einem Tisch in einer Ecke der Plattform schnitten je eine Leine durch, von denen eine – niemand wußte, welche – ein Gewicht auslöste. Der Reverend Mr. Gurry sprang mit Grazie und Geschick beiseite, und Lil sackte in die Knie. Eine Falltür öffnete sich mit einem Knall nach unten, und da hindurch stürzte die groteske Figur mit der schwarzen Kappe, fiel, kam mit einem Ruck zum Halten und drehte sich, drehte sich, bis Dr. Sorella, grün im Gesicht und schlotterig, sie festhielt.
Aber da hing es, zuckend, als ob es noch lebte, noch immer sich freimachen wollte. Die Venen an den Händen schwollen an, bis sie aussahen wie Würmer. Acht Minuten hing es da, und Ann kämpfte gegen das ekelhafte Dunkel an, das von allen Seiten auf sie zuschwankte.
Das Stethoskop an der Brust des zuckenden Gegenstands, sagte Dr. Sorella mit zitternder Stimme: »Die Delinquentin ist tot.«
Die Zuschauer drängelten hinaus, holten Zigarren heraus und murmelten: »Schöne Hinrichtung.« Ann wollte hinterher. Mrs. Bitlick sagte befehlend: »Sie! Sie warten! Ihre Arbeit hat noch nicht mal angefangen!«
Ein Wärter schnitt den Strick durch, zwei andere ließen den Körper auf den Boden gleiten und machten die Schlinge los.
»Ohhhhhh!« kreischte die tote Lil Hezekiah, als die zusammengepreßte Luft aus ihren Lungen zischte.
Ann stürzte in eine Ecke des Raums und übergab sich. Sie hörte Mrs. Bitlick kichern. Als Ann zurückkam, hatte man die Kapuze von Lils Kopf genommen. Ihre Augen waren zur Hälfte aus den Höhlen herausgepreßt. Der Mund war verzerrt vor Entsetzen, und auf den Lippen stand blutiger Schaum.
Nach einem interessierten Blick auf das verkrampfte Gesicht sagte Mrs. Bitlick: »Also Mädels, wir müssen die arme Frau waschen und zum Begräbnis fertigmachen. Die Verwandten werden auf die Leiche warten.«
Die Wärter trugen Lil in einen anstoßenden kleinen Kellerraum, der nach Verwesung und Formaldehyd roch. Cap'n Waldo Dringoole erschien in der Tür und sagte zum Direktor: »Ist sie gut abgerutscht, Doc? Konnte leider nicht kommen und mir's ansehen – hatte Krach mit diesem verdammten Registraturkerl.«
»Wunderbar gegangen, Cap'n. Habe nie eine schönere Hinrichtung gesehen. Peng – und das alte Mädel war hinüber! Tja, dann wollen wir also abhauen und die Leiche den Damen überlassen. Guten Tag, meine Damen.«
In dem kleinen Raum stand eine Arbeitsbank mit Wasserschüsseln und Lappen und ein Sarg.
Ann wußte, daß sie sich wieder würde übergeben müssen.
Mrs. Bitlick gähnte: »Also los, Kinder, wir wollen jetzt wieder raufgehen.«
»Müssen wir sie nicht waschen – –«
»Was? Wir sollen den ollen Negerkadaver waschen? Verdammt, nein! Das war nur Angabe für den Direktor. Los, Miss Kaggs, fassen Sie mal an.«
Die beiden Frauen hoben die Leiche in den Sarg, knallten den Deckel darauf, marschierten fröhlich hinaus und überließen Lil Hezekiah ihren Verwandten und Gott. Aber nachher kamen die Verwandten nicht, und sie wurde auf dem Gefängnishof begraben. Was Gott tat, ist nicht bekannt.