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V.
Bremsen frei – alles mit der Dritten

Milt Daggett war in seinen Darstellungen nicht eben genau gewesen, denn nach diesen hätte man schließen müssen, daß er Claire in der Garage von Schoenstrom nicht gesehen hatte. Vor allem aber gehörte die Garage ihm.

Milt war der erfolgreichste junge Mann in dem Örtchen Schoenstrom. Weder das Dorf selbst noch der nahe gelegene »Strom« sind wirklich »schoen«. Das ganze Geschäftsviertel besteht aus Heinie Rauskukles Kaufmannsladen, einem Ziegelbau; dem Leipziger Haus, einem Holzgebäude; dem Restaurant und Billardzimmer »Altes Heim«, das ein Blockhaus mit Bretterverkleidung ist; der Agentur für landwirtschaftliche Maschinen, aus verzinktem Eisenblech gebaut, mit einem Dach, das einer großen Waschrumpel gleicht; der Kirche, den drei Kaffeehäusern und der Garage »Zur roten Fährte«, die auch zahlreiche Aufschriften trug wie: »Agentur von Tealwagen lobt, wer sie erprobt; Stonewall Reifen-Depot; Reparaturwerkstätte für Nähmaschinen und landwirtschaftliche Maschinen; Dr. Hostrum, Tierarzt, jeden Donnerstag; Benzin heute 27 c«.

Die Garage »Zur roten Fährte« ist aus Zement mit Ziegelverkleidung. Im Büro ist ein sauberer Hartholz-Fußboden, eine Schreibmaschine und ein Bild der Elsie Ferguson. Das Unternehmen hat eine automatische Aufziehvorrichtung, einen Wagenheber und das Renommee der Ehrlichkeit.

Milt Daggett's Vater war der »alte Doktor« gewesen, der aus Maine stammte. Er hatte gegen nordwestliche Schneestürme zu kämpfen gehabt, las Dickens und Byron, kurierte die Leute von allerlei typhösen Fiebern und hinterließ Milt einen schäbigen, alten Medikamentenkasten und tausende von Dollars – in uneinbringlichen Forderungen. Frau Daggett hatte lange vorher ihre runzeligen Hände zum sanften Tod gefaltet.

Milt hatte die ersten der beiden Jahre der Mittelschule mit Hilfe von Privatunterricht beim Pfarrer absolviert, und wurde für die beiden letzten Jahre in die Stadt St. Cloud geschickt. Sein Vater wollte ihn auf die Staatsuniversität schicken. Doch Milt hatte eine starke technische Begabung mitbekommen. Mit zwölf Jahren hatte er ein Telephon gebaut, das funktionierte. Mit achtzehn war er Ingenieur der winzig kleinen Mahlmühle von Schoenstrom. Mit fünfundzwanzig – als es Claire Boltwood beliebte mit ihrem Gomez-Dep. sausend in sein Leben zu jagen – war Milt Besitzer, Geschäftsführer, Buchhalter, Aufsichtspersonal, Zündungsfachmann, selten geeigneter Forderungseintreiber und, bis auf einen Gehilfen, die gesamte Arbeiterschaft der Garage »Zur roten Fährte«.

In Schoenstrom gab es zwei Parteien: die zurückgebliebenen Bauern, die sagten, daß die deutsche Sprache gut genug wäre für jeden, und daß Abgaben für Schulen und Gehsteige – ja – etwas Verrücktes wären; und eine zweite Gruppe, welche feststellte, daß ein Schweinekoben ein ganz guter Aufenthaltsort sei, aber nur für Schweine. Diesem zweiten, revolutionären Teil gehörten Einige von der ersten Generation, die meisten von der zweiten und alle von der dritten an; ihr Führer war Milt Daggett. Er redete für gewöhnlich nicht viel, aber wenn er glaubte, daß gewisse Dinge geschehen sollten, konnte er so lästig werden wie ein Probeschießen mit Maschinengewehren, was einer Quäker-Versammlung noch am nächsten kommt.

Hätte es zu der Zeit einen Krieg gegeben, so wäre Milt voraussichtlich dabei gewesen – mehr so gelegentlich, sich räuspernd, die Annahme oder Vermutung aussprechend, daß seine Leute versuchen könnten, dort hinüber zu gehen und jenen Hügel zu nehmen – und ihn dann aber auch wirklich zu nehmen. Doch diese ganze Geschichte spielt eben in dem Jahr, bevor Amerika zu Deutschland gesprochen hatte; und in dieser zwischen Weizen und Kornfeldern begrabenen Stadt dachten die Leute immer noch mehr über Getreidepreise nach, als über die Seelen der Nationen.

Am Abend, bevor Claire Boltwood Minneapolis verlassen hatte und ihre Abenteuerfahrt in die Demokratie unternahm, war Milt in der Garage. Er trug Leinen-Overalls, die an Stellen, wo sie keine schwarzen Fettflecken hatten, gelbbraun waren; ein verblaßtes blaues Baumwollhemd und die Kappe eines Zylinderhutes, dessen Krempe nicht allzu säuberlich mit einem stumpfen Taschenfeitel abgeschnitten worden war.

Milt lächelte seinem Gehilfen, Ben Sittka, zu und warf freundlich hin: »Na, wie geht's mit der Arbeit, eh? Willst du bleiben und dem Prof. seinen Fordwagen ausprobieren, damit er ihn in der Früh wieder haben kann?«

»Können sich darauf verlassen.«

»Wirst noch ein ganzer Mechaniker, Ben.«

»Ja, glaub selbst!«

»Wenn du nicht weiter kannst, komm mich aus dem ›Alten Heim‹ holen«.

»Ach Unsinn! Ich mach schon fertig«. Ben grüßte und sah voll Bewunderung zu Milt auf.

Milt legte Overalls und Zylinderstumpen ab und wusch seine großen, starken Hände mit einer sandigen Fettseife. Er putzte seine Nägel mit einer Feile, die er in der oberen Westentasche trug, in einem roten Imitationsleder-Etui, das noch Kamm und Spiegel enthielt, einen unverlöschbaren Bleistift, und ein Notizbuch mit drei verwischten Bleistiftadressen von fünf Mädchen in St. Cloud und einigen Aufzeichnungen über Rauskukles Wagen.

Er nahm eine gestrickte braune Kravatte, einen blauen Kammgarnanzug und einen Hut, der durch Alter und Schäbigkeit an Reiz gewonnen hatte. Gelassen schlenderte er die Straße hinauf. Er hätte nicht mehr als drei Häuserblocks weit schlendern können, wollte er auf der Straße bleiben. Schoenstrom hatte die Tendenz, in ein Dschungel weiter Kornfelder auszulaufen.

Zwei Männer winkten ihm zu und einer von ihnen fragte: »Sag Milt, ist Whisky gut gegen Zahnschmerzen? Was meinst du? Der Dok. sagt, es nützt nichts. Aber, Teufel, der ist ja kaum aus der Schule draußen.«

»Ich glaub, er hat recht.«

»Wirklich wahr? Na, dann will ich's lassen.«

Zwei Laden weiter rief ihm ein dicker Bauer zu:

»Sag Milt, soll ich mir schon eine neue Mähmaschine kaufen?«

»Tja,« in der Art eines Menschen, der zu viel weiß, als daß er irgend einer Sache totsicher wäre, »ich weiß nicht, aber ich tät's, Julius.«

»Ich glaub, dann tu ich's.«

Minnie Rauskukle, die plumpe, derbe Minnie, Erbin des großen Kaufmannsladens, gab durch ein Zurückwerfen des Kopfes und Aufrichten ihres taubenähnlichen Körpers zu verstehen, daß sie Milt hinter sich bemerkt habe. Er sprach sie nicht an. Er drückte sich in die Türöffnung des »Alten Heimes«, Billardzimmer und Restaurant.

Milt strich durch die Reihen bis zu dem kleinen Buffett vor dem Billard, an dem zwei stiernackige Bauernburschen wütend die Kugeln stießen und Zigaretten pafften. Leicht schwang er sich auf das leichtschwankende hohe Sesselchen und sagte gähnend zum Besitzer, Bill McGolwey, seinem besten Freund: »Kannst mich mit einem Hamburger und einer Apfelschnitte vergiften, Mac«.

»Will ich gleich tun: Schaust heut so mürrisch aus, Milt.«

»'s herrscht so eine Aufregung in der Burg. Hab drei Leute zu gleicher Zeit auf der Straße gesehen.«

»Was plagt dich in der letzten Zeit?«

»Mich? Nichts. Nur werd ich dieser Hauptstadt langsam müde. Einer dieser Tage werd ich irgendeinen größeren Ort aufstöbern.«

»Versuch's vielleicht mit Gopher Prairie?« schlug Mac vor, mitten im Zischen und Dampfen des auf der Bratpfanne röstenden Hamburger Sandwiches.

»Unsinn! Zu klein.«

»Klein? Wieso, 's leben doch beinahe fünftausend Menschen dort!«

»Ich weiß, aber – ich will mich an eine waschechte große Stadt heranmachen. Wie Dubuth oder New-York.«

»Aber was willst du dort?«

»Das ist ja das Vertrackte. Ich weiß nicht genau, was ich dort will. Könnt immer noch in jeder beliebigen Garage sicher landen, aber das ist nichts Neues. – Könnt einen Abstecher nach Detroit machen und noch das Letzte in der Motorenfabrikation lernen.«

»Au, du kennst ja keine Grenzen, Milt. Suchst immer was Neues.«

»Das ist das Einzige, um vorwärts zu kommen. Die Übrigen hier in der Stadt fürchten sich vor Allem, was neu ist. Erinnerst dich, wie ich vorgeschlagen habe, daß wir alle zusammensteuern sollen auf einen Dynamo und einen Dieselmotor, um elektrisches Licht zu haben? Die Lackeln sind ja halb gestorben vor Nervosität.«

»Tja, das ist wahr, aber – Bleib da, Milt. Du und ich, wir werden die Geschichte hier schon schön in Gang bringen.«

»Das will ich meinen! Nur – zum Teufel, Mac, ich wollt, ich könnt einmal was Ordentliches sehen. Und endlich herauskriegen, wie das Radio eigentlich geht. Und einmal sehen, wie man eine große Hängebrücke baut.« Milt verließ das »Alte Heim« eigentlich ohne ein bestimmtes Ziel. Er sagte sich, daß er bestimmt nicht zurückgehen werde, um Ben Sittka zu helfen, den Wagen vom Prof. fertig zu machen. So ging er also zurück und half Ben Sittka den Wagen vom Prof. fertig machen und fuhr ihn dann zum Prof. Der Prof. – eigentlich Professor, eigentlich Herr James Martin Jones, B. A. und Frau James Martin Jones, hießen ihn beinahe ebenso herzlich willkommen wie Mac. Sie baten ihn einzutreten. Er unterhielt sich mit Herrn Jones über – nein, ihr Claires von Broocklyn Heights! dieser Garagemann und dieser fadenscheinige Vorstand einer schmucklosen Schule redeten miteinander in einer Stadt, die eben nur ein Beistrich auf der Strecke war, aber sie unterhielten sich nicht über den Stand des Getreides. Sie sprachen über Fischzucht, Elihn Root, spiritualistische Beweise für die Unsterblichkeit, staatliches Eigentum, Anlasser für Fordwagen und über die Erzählungen von Irvin Cobb. Milt ging früher nach Hause als er beabsichtigt hatte. Weil Herr Jones mit Ausnahme des Pfarrers der einzige Mann in der Stadt war, der Bücher las, weil Frau Jones die einzige Frau war, die auch über irgendein anderes Gespräch, als nur über Kinder- und Krankheitsgeschichten lachen konnte, weil er gerne jeden Abend zu ihnen gegangen wäre, hielt Milt sein Willkommensein in jenem Hause wie ein heilig Ding hoch und ging absichtlich nicht öfter als einmal in der Woche auf Besuch hin. Auf dem Weg zur Garage blieb er stehen, um Emil Baumschweigers große graue Katze zu streicheln – die allgemein unter dem Namen »Lump« bekannt, doch von Milt und der Dame selbst als die unglückliche Gräfin Vere de Vere anerkannt war – vielleicht die einzige Persönlichkeit von edler Abkunft und geheimnisvoller Vergangenheit in Milts Bekanntenkreis. Die Baumschweigers behandelten ihre Haustiere nicht gut; Emil traktierte die braune Stute mit Fußtritten und warf Mistgabeln nach Vere de Vere. Milt begrüßte sie und fragte mitfühlend: »Führst ein faules Leben hier, Gräfin, was? Hältst du mit, nach Minneapolis?«

Die Gräfin sagte, daß sie wirklich ein ganz außergewöhnlich faules Leben hier führe und schnurrend sang sie Milt einen Hymnus von kleinen Hausgöttern am warmen Herd. Damit waren Milts Abendzerstreuungen beendet. In Schoenstrom spielt das Kino nur einmal in der Woche. Er saß im Büro seiner Garage und ließ die Ereignisse der vergangenen Woche nochmals an sich vorbeiziehen. Milt las viel, obwohl nicht allzuleicht. Er hatte nicht den Wunsch, ein Dichter zu werden, ein Indo-Iranischer Etymologe, Redner in Frauenversammlungen oder Staatssekretär. Aber er begeisterte sich an den Wundern, von denen in Büchern und Zeitschriften zu lesen war: von großen Menschenansammlungen, von kunstvoll gebauten Unterseebooten, von Palmenbäumen und schönen Frauen.

Er legte die Zeitschrift hin. Er starrte auf die Wand. Er dachte an gar nichts. Er schien nach etwas zu tappen, woran er voll Entzücken denken könnte, wenn es sich nur fassen ließe. Ohne sich weder Mauer noch Meer recht gegenständlich vorstellen zu können, erinnerte er sich alter Traumbilder von einer mondbeschienenen Mauer an einem warmen wogenden Meer des Südens. Lebte in diesem Traum vielleicht auch die Gestalt eines Mädchens, so war sie so unfaßbar wie der Geruch der Nacht. Plötzlich war er eingeschlafen, eine ganz und gar nicht romantische Erscheinung, etwas lächerlich nach der einen Seite geneigt, lag er in seinem Schreibtischsessel, die großen, dauerhaft gearbeiteten Schuhe auf dem Pult. Er erwachte halb und zog in sein sogenanntes Heim ab – ein Zimmer in dem Häuschen einer ältlichen Frau, die ihre Vorurteile hatte gegen die gefährliche Nachtluft. Milt war zu schläfrig um noch irgendwie Toilette zu machen, ausgenommen, daß er die Schuhe auszog, und sich mit wenig Überzeugung ein bißchen an dem kleinen Waschtisch wusch, dessen gesprungener Lack die Merkmale des Glases zum Zähneputzen in Form vieler weißer Ringe trug.

Milt stand um sechs auf und ein Viertel vor sieben war er in der Garage bei der Arbeit. Er verbrachte einen großen Teil des Vormittags damit, einem Kunden zu beweisen, daß sogar ein Teal-Wagen, den jeder lobt, der ihn erprobt, nicht tadellose Dienste leiste, wenn der Kunde beharrlich vergaß, den Ölbehälter, die Schmiernippel und die Batterie zu füllen.

Drei Minuten nach zwölf verließ Milt die Garage, um zum Mittagessen zu gehen. Der Nebel, der in der Früh geherrscht hatte, war nun zu Regen geworden. McGolwey war nicht im »Alten Heim«. Mac bekam es manchmal satt, das Essen aufzutragen und hielt sich ein oder zwei Tage an sein Fläschchen, das er in der Tasche trug; dann wurden unter seinen ehemaligen Kundschaften die Konservenbüchsen fertig bereiteter Speisen populär. Milt sah ihn unter dem Blech-Sonnendach des Kaufmannsladens stehen. Er hatte eine schwache Hoffnung, Mac davon abzuhalten, allzulange Ferien mit seinem Fläschchen zu feiern. Aber Mac hatte schon rote Augen. Er schien Milt nur halb zu erkennen.

»Schöner Tag!« sagte Milt.

»Halt ja.«

»Straße ist verflucht kotig.«

»Hm, schade. Herrgott – mir geht's gut!«

Elf Minuten nach zwölf wurde ein Gomez-Dep.-Zweisitzer unten auf der Straße sichtbar und hielt vor der Garage. Für Milt war das etwas ebenso Aufregendes wie das Erscheinen eines Kometen für einen beobachtenden Astronomen.

»Wie nennt man so einen Wagen, Milt?« fragte ein Müßiggänger.

»Gomez-Deperdussin.«

»Nie gehört. Schaut so schwer aus.«

Das war Gotteslästerung. Milt wütete: »Du armer Narr! Das ist einer der besten Wagen von der ganzen Welt. Von Frankreich importiert. Schaut übrigens wie eine rein amerikanische Spezial-Karosserie aus. Das Malheur mit euch Leuten ist, daß ihr über alles, was neu ist, erschreckt. Zu schwer! Huh! Wollt immer schon einmal einen Gomez sehen – das ist der erste; kenn sie nur von Bildern. Und mir scheint, das ist eine New-Yorker Nummer. Will mal hingehen!«

Er vergaß seinen Mittagshunger und stapfte durch den Regen zur Garage. Er sah ein Mädchen aus dem Wagen aussteigen. Er blieb im Haustor des »Alten Heimes« in ungewohnter Scheu stehen. Er sagte sich, daß er eben nicht genau wüßte, was an ihr dran wäre – sie war doch nicht gar so ungewöhnlich schön, und doch – Herrjeh – gewiß kein Mädel, an das man sich einfach heranmachte. Soll sich Ben um sie kümmern. »Möcht gern mit ihr sprechen, aber ich fürcht mich, daß, wenn ich den Mund aufmach, ein Unsinn herauskommt.«

Es war das erste Mal, daß er eine elegante Dame sah. Dieses dunkle, schlanke, feinnervige Mädchen in ihrem einfachen grauen Kostüm mit dem festen Gürtel, dem kleinen schwarzen Barette, das auf der einen Seite über dem glatt zurückgestrichenen, weichen Haar aufgeschlagen war, die feinen kleinen Lederhandschuhe und der Schleier – war so zart und bis ins Kleinste vollendet wie ein Flugmotor.

Milt hatte das Verlangen, das Lob ihrer Vollkommenheit in die Welt hinauszuschmettern, darum rief er einem neben ihm stehenden Mann zu: »Feiner Wagen. Hübsches Mädchen, in ihrer Art.«

»Ja, aber bißchen mager. Ich hab's lieber, wenn sie mehr mollig sind«, gähnte der Mann.

Nein, Milt schlug ihn nicht nieder. Schwach wendete er nur ein: »Sie ist aber hübsch angezogen.«

»Oh, nicht gar so arg. Ich hab gestern eine Frau hier durchfahren gesehen, die war fein – in einem roten Kleid mit weißen Schuhen und einem Hut, so groß wie ein Schaff.«

»Na, ich weiß nicht. Ich hab diese einfachen Sachen ganz gern«, sagte Milt entschuldigend.

Er schlich sich zur Garage. Das Mädchen stand drinnen. Er untersuchte die abgeschrägten, lackledernen Autokoffer auf dem Gepäckträger an der Hinterseite des Gomez-Dep. Er bemerkte, daß ein Herr mittleren Alters im Wagen saß und wartete. »Muß der Vater sein. Wahrscheinlich – vielleicht ist sie noch nicht verheiratet.« Er konnte sich nicht dazu haben, den Mann freundlich anzurufen, wie er dies sonst tat. Er ging in das Büro der Garage; durch die innere Türe sah er verstohlen nach dem Mädchen, das mit dem Gehilfen über das Auswechseln eines Schlauches sprach.

Diesen Ben Sittka, dem er vor einer Stunde noch wie einem vielversprechenden Kind geschmeichelt hatte, den bewunderte er jetzt wegen der sachlichen Ruhe, mit der er fragte: »Wollen Sie einen roten oder einen grauen Schlauch?«

»Wirklich, ich weiß nicht. Welcher ist denn besser?« Die Stimme des Mädchens klang seltsam klar.

Milt ging an Claire Boltwood vorbei, als sähe er sie nicht; er stand, mit dem Rücken zu ihr, im Hintergrund der Garage, und klopfte an den Rädern irgend eines Wagens herum. Immer und immer wieder murmelte er vor sich hin: »Wenn ich nur ein einziges solches Mädchen kennen würde. – Wie ein Bild. Wie – wie ein Silberkelch auf einer blauen Decke!«

Ben Sittka sprach nicht mit dem Mädchen, während er den Schlauch in den Mantel einlegte. Nur in dem glorreichen Augenblick, als die Enden in die Stahlfelge einschnappten, piepste er:

»Fahren Sie weit?«

»Ja, ziemlich. Nach Seattle.«

Milt starrte auf das vor Spinnweben graue Fenster. »Jetzt weiß ich, was ich vorhatte. Ich gehe nach Seattle«, sagte er.

Das Mädchen war neunundzwanzig Minuten nach Zwölf wieder fort. Neunundzwanzig und eine halbe Minute später bemerkte Milt zu Ben Sittka: »Ich werde eine kleine Reise machen. Hein? Jetzt frag nicht viel. Du wirst dich um die Garage kümmern, bis du weiteres von mir hörst. Nimm dir irgend eine Hilfe. 'dieu.«

Er fuhr seinen Teal-Karren aus der Garage. Zweiunddreißig Minuten nach Zwölf war er in seinem Zimmer und packte seinen Reisekorb in der Art, daß er die Sachen hineinwarf und auf den Koffer stampfte, bis er zuging. Er hatte alle seine Toilettekostbarkeiten sowie überhaupt die gesamte Garderobe darin, mit Ausnahme des nicht geringen Teiles davon, den er an sich trug. Nach einem zuverlässigen und eingehenden Bericht waren es vier Paar dicke, gelbe und weiße Baumwollsocken, zwei Hemden, fünf Kragen, fünf Taschentücher, ein Paar überraschend kokette Tanzschuhe, hohe braune Schnürschuhe, drei billige Trikotgarnituren; der Sonntagsanzug, der tiefschwarz war und von unvorstellbarem Schnitt, vier Kravatten, eine stark mitgenommene Zahnbürste, ein Kamm, eine Bürste, ein Rasiermesser, ein Abziehriemen, Rasierseife in einer Büchse, ein nicht sehr sauberes Handtuch und sonst überhaupt nichts. Dem legte er noch seine gesamte Bibliothek und Privat-Bildergalerie bei, bestehend aus: »Ivanhoe«, »Ben Hur«, dem Band Byron, den er von seinem Vater hatte, ein Handbuch über drahtlose Telegraphie, und den 1916er Jahrgang von »Die Konstruktion und Reparatur des Automobilmotors«; die Bildersammlung: eine farbige Sonntagsbeilage-Illustration, das Bild einer Prinzessin, die in einem alten Schloßhof in der Provence das Frühstück einnahm, und ein Halbton-Druck, der die Landung des Colonel Paul Beck in einem veralteten Militär-Doppeldecker darstellte. Darunter war in nun verwischtem Bleistiftgekritzel von Milt einst geschrieben worden: »Das will ich werden, Flieger.«

Eine schrecklich schwierige Frage war, was er anziehen sollte. Bis elf Minuten nach Zwölf desselbigen Tages war es ihm alles eins gewesen. Den Leuten waren seine Overalls überall, ausgenommen beim Tanzen, recht, und beim Tanzen war er der Einzige, der Pumps trug. Aber bei seiner Entdeckung von Claire Boltwood hatte er erkannt, daß es eine Kunst sei, sich zu kleiden. Bevor er einpackte, hatte er tief betrübt an dem bisher hochgeschätzten, schwarzen Anzug herumgetastet. Er war lächerlich geworden. »Leichenbestatter!« brummte er. Mit einem Achselzucken, das besagte, daß er eben nichts anderes habe, vertauschte er seine Overalls gegen ein drappfarbenes Flanellhemd mit einer schwarzen, breiten Masche, nahm starke Schweinslederschuhe und den Anzug, den er am Abend zuvor getragen hatte, seinen besten Anzug von vor zwei Jahren – ein blaues Kammgarn-Sakko mit gleicher Hose. Er konnte nicht wissen, wie erstaunlich gut und vorteilhaft dies zu seiner sehnigen, starken Gestalt paßte.

In den Taschen trug er ein Bündel Notizen und eine über alle Erwartungen gute, goldene Uhr. Gegen etwaige Kälte hatte er einen Ulster, einen altmodischen, hochgeschlossenen Sweater und einen Regenmantel, schwer wie eine Plache. Er tauchte in den Regenmantel unter, lief hinaus, rannte in Rauskukles Laden, kaufte die imposanteste Kappe, die zu haben war – ein Schottenmuster von Kirschrot, Orangegelb, Smaragdgrün, Ultramarin und fünf anderen, garantiert modernen Farben. Er versorgte sich mit Proviant, um im Freien kampieren zu können.

In dem gewölbten, blechbedeckten hinteren Kasten des Wagens war genügend Platz und den füllte Milt mit Motorzubehör, einer Flinte und Munition, einem Paar Schlittschuhen und seiner Touristenausrüstung an, die er auf der alljährlichen Entenjagd-Fahrt nach Man Trap Lake benützte.

»Ich bin ein verfluchter Narr, alles mitzunehmen, was ich besitze, aber – kann auch leicht einen ganzen Monat ausbleiben«, überlegte er.

Er hatte noch ein Besitztum, ein Scheckbuch, vor den neugierigen Blicken seiner allzu mütterlichen Hauswirtin dadurch bewahrt, daß er es unter den Stiegenhausteppich steckte. Dieses holte er nun hervor. Es wies ein Saldo von zweihundert Dollars auf. Zehn Dollars waren im Büro in der Kassa für Ben Sittka. Die Garage wäre abzüglich der Hypothek beinahe zweitausend Dollars wert. Dies war sein Vermögen.

Er sprang in die Küche und benachrichtigte in einem Zug seine Hauswirtin mit dem Ruf: »Bin abberufen aus der Stadt; kleine Reise; bin Ihnen nichts schuldig, glaube ich; hier sind sechs Dollar für zwei Wochen voraus, weiß nicht genau, wann ich zurückkomm.«

Ehe sie eine Frage stellen konnte, saß er schon draußen im Karren. Er sauste durch die Stadt. Seinem Freund, McGolwey, der jetzt schlotternd und mit offenem Munde im Regen saß, draußen auf einem Holzstoß hinter der Bahnstation, rief er zu: »Leb wohl Mac. Nimm dich zusammen, alter Kerl. Ich mach eine kleine Reise.«

Er hielt vor dem Haus des Prof. an, tutete, bis die Jonesens die Köpfe zum Fenster hinaussteckten, winkte und rief: »'dieu Leute. Geh bißchen fort von hier«.

Dann, während die Freiheit und der weitentfernte Ozean auf ihn einzustürmen schienen über die Motorhaube her, ging es im Wirbelwind zur Stadt hinaus. Es war zwei Minuten vor eins – siebenundvierzig Minuten nach Claire Boltwoods Eintreffen in Schoenstrom.

Er hielt nur einmal an. Seine Freundin, Dame Vere de Vere, befand sich an den Ausläufern der Stadt auf einer wissenschaftlichen Entdeckungsreise in Fragen der Ethnologie und der Feldmäuse. Sie rief ihn an: »Mrwr? Mi mrwr!«

»Nein, wirklich wahr!« antwortete Milt voll Verwunderung. »Ja, wenn ich versprochen habe, dich mitzunehmen, so will ich mein Wort halten.« Er sprang hinaus und verstaute Vere de Vere auf dem Sitz, den er vor dem Regen mit der Kühlerdecke schützte.

Sein leicht über die Furchen springender Wagen überholte den sich schwer durch den Kot arbeitenden Gomez-Dep. in einer Stunde und zog ihn aus dem Schlamm.

Bevor Milt in jener Nacht einschlief, auf freiem Feld, drei Meilen außerhalb Gopher-Prairie, unterzog er sich einem religiösen Ritus. »So ein Mädchen wie sie, die ist gar heikel auf ihr Äußeres. Ich bin ein schmieriger Hund. Wie ich auf dem Gymnasium war, hab ich mehr aufgepaßt auf meine Kleider. Werd langsam faul – so ähnlich wie Mac. Denk einer, da hab ich letzte Nacht in meinen Kleidern geschlafen!«

»Mrwr!« stimmte die Katze scheltend zu.

»Hast ganz recht. Wüst, ist das richtige Wort. Will nie mehr in meinen Fetzen schlafen, Mietze-Katze. Das heißt, wenn ich ein regelrechtes, menschliches Bett habe. 'türlich, im Freien kampieren ist wieder was anderes. Aber immerhin – wollen mal sehen, was wir alles für sonderbare Dinge für uns tun können.«

Er rasierte sich – zweimal, vollständig vom Einseifen bis zum Abtrocknen. Er bürstete sein Haar. Er setzte sich am Lagerfeuer nieder, das durch zwei große Steine geschützt war, und bearbeitete seine Nägel, obwohl sie in entmutigender Weise voll Motorschmiere waren. Während dieser ganzen interessanten, doch ziemlich schmerzlichen Zeremonie unterhielt Milt eine Konversation mit der Katze. Doch als alles erledigt und das Feuer heruntergebrannt und Vere de Vere im Ärmel seines Ulsters eingeschlafen war, da sank seine murmelnde Stimme zu mutlosem Flüstern herab und wie in Todesangst stammelte er:

»Aber oh, wozu das alles? Ich werde immer nur ein dummer, ungeschickter Kerl sein. Putz meine Nägel, um auf ein Mädchen Eindruck zu machen, die Hände hat wie sie! 's ist ein weites Stück bis Seattle, aber noch tausendmal weiter ist's – bis man – umgemodelt wird. Oh! Und nebstbei, was zum Teufel werd ich in Seattle machen, wenn ich jemals hinkommen sollte?«


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