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XXIV.
Die Leute ihrer Gesellschaftsklasse

Herr Henry B. Boltwood saß und schlief wunderbar in einem Stuhl des Aussichtswagens, während Claire auf der großen hinteren Plattform unbeweglich still saß, anscheinend vollständig vertieft in die Schönheit der Gebirgslandschaft und der bebauten Felder ringsum. Doch man hätte auch bemerken können, daß eine ihrer Hände krampfhaft die Holzstütze ihres Feldsesselchens umschlungen hielt, und daß ihr gebeugter Rücken sich nicht regte.

Als sie sich umgedreht hatte, um ihrem Vater in den Zug zu folgen, hatte Milt sie bei den Schultern gepackt und geküßt.

Eine halbe Stunde lang war dieser Kuß ein wahrnehmbarer warmer Druck auf ihren Lippen geblieben. Und eine halbe Stunde lang hatte sie das erleichternde Gefühl, ohne selbst lenken zu müssen, an Bergen vorbei gleiten zu können, das wohlige Behagen, den unsichtbaren, geheimnisvollen Lokomotivführer vorne automatisch für sie fahren zu lassen. Sie hatte ihrem Vater gegenüber jubiliert, daß sie sich nun dem Pazifischen Ozean näherten. Ihre Nervosität hatte sich in ausgelassener Fröhlichkeit Luft gemacht.

Doch als er sich für ein Schläfchen zurückgezogen hatte und Claire sich durch den Vorwand leeren Geschnatters nicht mehr länger verbergen konnte, welch großen Entschluß sie auf dem Eisenbahnperron gefaßt hatte, fühlte sie sich einsam und verängstigt – und hätte gar zu gerne den Entschluß wieder unentschieden gemacht. Sie konnte nicht klar denken. Sie konnte Milt Daggett nur als einen feierlichen jungen Mann in einem billigen Sweater sehen, der am Geleise stand im trübselig nachmittägigen Lichte, der ihr bei Ausfahrt des Zuges winkte, bis er in grauer Dunkelheit verschwand, unbedeutender und nichtssagender als das Stationsgebäude selbst oder die vorbeiziehenden Telegraphenstangen oder der Portier, der – an nur ihm allein bekannten geheimnisvollen Verstecken – ihr Gepäck verstaute. Sie konnte nur in immer wachsendem Schrecken flüstern: »Ich bin verrückt. Ver – rückt! Mich an diesen Burschen zu binden, bevor ich weiß, was aus ihm werden wird. Wird er überhaupt etwas lernen außer Maschinenbau? Ich weiß – ich möchte gerne seine Wangen streicheln und – sein Kuß hat mich erschreckt, aber – Werd ich ihn nicht verachten, wenn ich ihn unter ordentlichen Leuten sehe? Kann ich ihn bei Gilsons vorstellen? Oh, ich war verrückt; war so aufgeregt und verwirrt durch diese idiotische Jagd nach Dlorus und so überzeugt davon, daß ich eine romantische Heldin bin und – Und ich bin einfach ein unentschlossenes Mädel in einer höchst realistischen Patsche!«

Geängstigt durch die einbrechende Dunkelheit und den düsteren, kalten Gebirgsabend, während der Zug nicht mehr lustig den felsigen Bergrücken hinaufkletterte sondern ratternd und schnaubend durch einen Engpaß fuhr und sie durch angeregtes Vorwärtshüpfen erschreckte, als ob die Bremsen ausgelassen hätten, konnte es Claire auf der trüben Plattform nicht länger aushalten und noch weniger das Sitzen im Wagen mit all den Sitzplätzen und von den geschniegelten Reisenden beäugt – Leute, ebenso leer von aller Romantik, die sie erfüllte, wie sie unfähig waren, so tiefe Tragik zu erfassen. Sie wankte zum Vestibüle weiter. Sie stand in diesem kalten, schwankenden, dunklen Raum, der nach Gummi und Metall und Schmiere roch und von dem Klappern aufeinanderschlagender Stahlbestandteile erfüllt war; sie versuchte, in die fliehende Finsternis hinauszusehen, sie versuchte, sich vorzustellen, daß der Zug sie dem verfolgenden Feinde entführe – ihrem eigenen, schwachen Ich. Ihr Vater erschien, vergnügt und strahlend und wohligangeregt, um sie zum Essen zu führen. Herr Boltwood war nicht von quälenden Überlegungen geplagt: er war von einem gesunden Interesse für eine gute Suppe erfüllt. Doch er warf verstohlen einen Blick auf sie, über den sauberen kleinen Eßtisch; er schien sie zu beobachten; und plötzlich entdeckte Claire, daß er ein sehr kluger Mann war. Sein Blick besagte: »Du bist betrübt, meine Liebe«, aber seine Stimme äußerte nichts ähnliches nur behagliche, nichtssagende Bemerkungen, zu denen sie, aus der Tiefe ihres düsteren Grübelns, nur mechanisch nicken brauchte.

Das Beobachten zweier Handelsreisender brachte ihr nach dem Essen ein gut Stück Befriedigung und verursachte ihr nicht geringen Schrecken. Milt hatte diese Menschenklasse gepriesen und einer von den Beiden dort, ein schlanker junger Mann mit hellem sauberen Gesicht, glich Milt ein wenig, trotz seinem angepickten Haar, einer Uhrkette, die diagonal über seine Weste gespannt war, maronbrauner Seidensocken, und Schuhe mit Perlmutterknöpfen, grauem Einsatz und Lacklederfuß. Der andere Handelsagent war ein Butterklümpchen. Beide hatten rauhe, dröhnende Stimmen – die arrogant ungebildeten Stimmen des Raucher-Abteils. Der schlanke Mann brüllte:

»Ja, mein Herr, er hat dort ein feines Angebot – er bekommt dort eine hübsche, kleine Fabrik, lassen Sie sich das von mir gesagt sein. Er kann dort Zahnstocher erzeugen, die sich mit Michigan messen können. Er stapelt dort einfach sein Geld auf – ja, was sagen Sie dazu, er hat ein Haus mit achtzehn Zimmern – jedes Zimmer in einem anderen Stil eingerichtet.«

Claire überlegte, ob Milt, wenn jugendlicher Ehrgeiz und romantischer Glaube erloschen sein würden, auch feine Angebote annehmen würde und um Ranganerkennung seiner – Zahnstocher kämpfen würde. Würden seine Schöpfungen in den besten Frühstückstuben Anerkennung finden? Würde er Geld aufstapeln?

Dann wurde ihr Gedankengang unterbrochen von der Aufregung, sich Seattle zu nähern und ihren Gastfreunden – Claires Cousin, Eugene Gilson, einem aufreizend erfolgreichen Besitzer von Schindelfabriken. Er stammte aus einer alten Familie von Broocklyn Heights. Er hatte Eva Goutz von Englewood geheiratet. Er liebte Musik und schrieb lustige kleine Briefe und kannte die Adressen aller besten New-Yorker Geschäfte. Er war einer der »Ihren« und sie fühlte sich nun der Sicherheit seiner Freundschaft nahe, am Ende der langen Reise. Immer mehr und mehr Lichter – eine von Bogenlampen erleuchtete Fabrik – das Gepäck – der Portier – der hastende Zug von Menschen im Korridor – Hinunterklettern auf den Perron – rote Kappen – an der paffenden Lokomotive vorbei, die sie hergebracht hatte – die Prozession vor dem Ausgang – Gesichter hinter einem Gitter – Eugene Gilson und Eva, die winkten – Küsse, Rufe: »Wie war die Tour?« und »Oh, wir hatten eine wundervolle Fahrt!« – das riesige Stationsgebäude und neugierig wartende Passagiere, japanische Kulis in Rotten, Holzfäller in Tropenhelmen – der elegante Wagen der Gilsons und der Chauffeur, der das Gepäck versorgte, statt daß sie es mit müden Händen selbst tun mußten – Straßen, seltsam still nach dem Tumult des Bahnhofs – Seattle und Küste des Sonnenuntergangs endlich erreicht.

Claire hatte vergessen, wie viele köstliche, höchst begehrenswerte Dinge es auf der Welt gab. Die Gilsons fuhren den Queen Anne Hill hinauf, zu einem Haus mit buchtförmig gewölbter Fassade auf einem luftigen Hügel – ein Haus in georgischer Bauart, von einer Stechpalmenhecke umgeben, mit französischen Flügeltüren und bis zum Boden reichenden Fenstern, einer Terrasse, die zum Tee einlud und einer großen Halle aus Mahagoni und weißem Email, mit fernem Rosenduft und einem Kaminfeuer im holzverkleideten Salon, in den man von der Halle aus sehen konnte. Wärme und Weichheit und die vertrauensvolle Herzlichkeit der Gilsons schmiegten sich wohlig um Claire; und in zufriedener Müdigkeit stieg sie zu ihrem Schlafzimmer hinauf, mit einem Himmelbett, einem Nachtkästchen mit schwarz- und orangefarbener, elektrischer Stehlampe und einer Sammlung von Arthur Symons Essays. Sie sank auf das Bett nieder, rieb ihre Wange in mitleiderregender Weise an der Seidendecke, die am Fußende des Bettes, jungfräulich ihrer Befehle harrte und rief: »Oh, Himmelbetten sind notwendig! Ich kann sie nicht aufgeben! Ich will nicht! Sie – Niemand hat ein Recht, das von mir zu verlangen!« Sie strampfte im Geiste mit den Füßen. »Ich will einfach nicht in einem Blockhaus leben und Wäsche waschen. Es lohnt nicht die Mühe.« Ein schwach parfümiertes Bad in einer im Boden eingebauten Wanne, in einem eigenen, gekachelten Badezimmer. Ein unsinnig und wunderbar großes türkisches Frottiertuch. Eines von Eva Gilsons schleierartigen Negligées. Langsames, erlesenes Ankleiden – nicht kratzendes Hüpfen über eingewachsenen Schmutz und eingewachsene üble Gerüche eines schmierigen, billigen Hotelzimmers; sondern schwelgerisches Dahinwandern über Teppiche, die sich sammetweich unter den bloßen Füßen anfühlten. Müßig beschauliches Betrachten der frivolen Farben und Linien der die Wände schmückenden Zeichnungen von Bakst und George Plank und Helen Dryden. Ein Blick auf den reichen Luxus des Toilette-Tisches und die Samtvorhänge, welche sie von der gemeinen Welt abschlossen.

Hingegeben dem Behagen, wie eine Orchidee der überladenen Tropenluft, zog sie ihre zarteste Wäsche an, ihre allerfrivolsten Seidenstrümpfe. In träumerischer, überreizter Freude sah sie, wie glatt und weich ihre Arme und Beine waren; schläfrig bedauerte sie, daß ihre Handgelenke so rot waren und ihre Handflächen schwielig und lederfarben vom Halten des Volants.

Ja, sie war froh, daß sie die Probe bestanden hatte – aber noch mehr froh darüber, daß sie gesund zurück war von der langen, staubweißen Straße, wieder daheim in ihrer Welt von Schönheit und Behagen; und sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie es je wieder versuchen würde.

An einen Milt Daggett dachte sie überhaupt nicht.

Wundervoll schläfrig – und in dem wundervollen Bewußtsein, daß sie nach und nach – nicht vielleicht in einem stinkenden Hotelbett, mit einer Meute von Rippen, die in ihren müden Rücken bissen, sondern – in einem federweichen Bett in Schlummer sinken würde, in diesem süßen Bewußtsein stieg sie hinab in den Salon und saß in einem bequemen Fauteuil am Feuer, feinste Schokoladebonbons neben sich, und weiche Polster hinter ihren Schultern, und plauderte von den Abenteuern und fragte um Neuigkeiten über ihre Freunde und Verwandten drüben im Osten.

Eugene und Eva Gilson fragten mit raketenartiger Munterkeit nach den »komischen Leuten, denen sie unterwegs begegnet sein mußte.« Mit unterdrückter, versteckter Bekümmernis fand Claire, daß sie Milt's nicht erwähnen konnte – daß sie Angst hatte, ihr Vater würde seiner erwähnen – diesen Leuten gegenüber, die es für selbstverständlich hielten, daß alle Menschen, die nicht in großen Häusern wohnten und gut Bridge spielen konnten, entweder »merkwürdig« oder »gewöhnlich« seien; die glaubten, daß ihr Westen in dem Maße allem Wünschenswerten näherkam, als er dem Osten ähnlicher wurde; und daß sie, obwohl Leute des Westens, den Arbeitern mit schwieligen Händen ebenso überlegen wären wie Brooklyn Heights selbst.

Claire versuchte, sich dem Gedanken an Milt zu entwinden, während sie, die Gilsons als vollendetes Auditorium, über das Thema des Wanderns zu improvisieren anfing. Mit einigen unbeabsichtigten Übertreibungen und gewissen, nicht ganz wahrheitsgetreuen Umgruppierungen der Ereignisse, beschrieb sie die Bauern und Cowboys, die unglaublichen Hotels und Garagen. Ja, wirklich, sie waren schon für sie selbst unglaubhaft geworden. Offenbar konnte dieses seidegekleidete Mädchen eine Dlorus Kloh doch unmöglich ernst nehmen – oder einen jungen Garagemann, der »net« statt »nicht« sagte.

Eva Gilson war in diesem selben Monat in Brooklyn gewesen und in leidenschaftlicher Erinnerung an zuhause rief Claire: »oh, erzähl mir doch von allen Leuten!«

»Ich hab ein paar so nette Tage mit Amy Dorrance verlebt,« sagte Frau Gilson. »Natürlich ist Amy ein bißchen fad, aber sie ist so ein guter Kerl und – wir hatten einmal die lustigste Nachmittagsgesellschaft bei ihr. Dann haben wir bei Ritz Lunch gegessen und waren bei einer Matinee und da haben wir einen so interessanten Menschen gesehen – Gene wird furchtbar eifersüchtig, wenn ich von ihm zu schwärmen anfange – ich bin überzeugt, er ist ein Violinkünstler – er ist einfach ein Prachtmensch – ich hätt ihn am liebsten geküßt. Jetzt wird Gene gleich sagen: ›Warum hast du's nicht getan?‹«

Und Gene sagte: »Na, warum hast du's denn nicht getan?« und Claire lachte und ihre Füße waren angenehm warm und behaglich und sie war vollkommen glücklich und murmelte: »Es war schön, wieder einmal gut Violine spielen zu hören. Oh, was hat George Worlicht gemacht, wie Ihr daheim wart?«

»Findest du nicht auch, daß Georgie ein herrlicher Mensch ist?« sprudelte Frau Gilson los. »In seiner Gegenwart werde ich mir meiner sechsunddreißig Jahre immer noch trauriger bewußt. Ich glaub, ich werd ihn adoptieren. Du weißt, daß er beinahe den Tennispreis in Long Branch gewonnen hat?«

Georgie hatte einen kleinen Schnurrbart und ein Einkommen – eben groß genug, um den kleinen Schnurrbart zu erhalten, und er sang erträglich und gewann immer Tennispreise – beinahe – und er sagte immer, mindestens einmal in jeder Gesellschaft: »Die Grundlage des savoir faire ist zu wissen, zu welchen Leuten man grob sein muß«. Feuerumstrahlt und in einen duftenden Nebel süßer Schläfrigkeit sinkend erschien Georgie der glücklichen Claire ebenso heroisch wie klug. Aber das flackernde Licht des Feuers blendete ihre Augen und ihre Lider wollten nicht mehr offen bleiben und in ihren Ohren klang ein sanftes Brummen wie von Millionen Bienen auf einer fernen, goldgesprenkelten Wiese – und Gene half ihr die Treppe hinauf; Schläfrigkeit umgab sie wie das süß-warme Wasser eines Bades; sie tastete nach Knöpfen und Häckchen und Bändern, ließ die Dinge liegen, wohin sie eben fielen – und an all dem sie umgebenden Luxus war nichts so angenehm als das Bewußtsein, daß sie keine Vorsichtsmaßregeln ergreifen müsse gegen Ratten und Mäuse und Schwaben und all deren obszöne kleine Brüder, die sie – auf irgendeiner weit zurückliegenden, phantastischen Reise, als sie noch jung und närrisch gewesen war – wie sie sich dunkel entsann, in ihrem Zimmer gefunden hatte. Dann sank sie in ein Bett, gleich einer Flut regenbogenfarbenen Schaumes, sank tief, tief, tief –

Und als es Morgen wurde, entdeckte sie, daß der Zweck des Morgenlichtes eigentlich war, die Formen und Farben von Mahagonimöbel und Glasgegenständen und rotgelbem Samt deutlich zu beleuchten, und daß nur ein Narr solchen Ort jemals verlassen könnte, um herumzugehen und schmutzige Garagemänner zu bitten, daß sie den Wagen mit stinkendem Benzin und Öl versorgen sollten.

Nach dem Frühstück ging sie auf die Terrasse hinaus, um die Aussicht zu besehen.

Unter Claire lag der Hafen mit weit in das Meer hinausragenden Docks und Dampfschiffen, die vor Rauch lebendig schienen. Frau Gilson sagte, daß sie Ladung nach Wladi-Wostok und Japan aufnähmen. Diese Namen, eben nur die Namen, erweckten in Claires Herz einen sehnsüchtigen, unausgesprochenen Wunsch, der irgendwie unklar mit einem Milt Daggett zusammenhing, der sich weit hinten im Kot und Regen von Middle-West, nach Purpurbergen und Kirschenblüten und dem Meer gesehnt hatte. Aber sie unterdrückte den Wunsch und erhob ihre Augen zu den Bergen über dem Sund – nicht Purpurberge sondern blankes Silber schwarz gestreift, wie die gefrorene Oberfläche einer öden Küste des Nordens – die Olympics, vierzig Meilen weit weg. Dort oben könnte man kampieren mit einem Burschen – in einem über alle Maßen schlechten Sweater – der beim Kaffeekochen fröhliche Lieder sang …

Hastig blickte sie nach links, über die Stadt hin, mit ihren hellen, neuen Wolkenkratzern, die viel lustiger aussah als ihr graues Brooklyn. Hinter der Stadt war eine trübe Wolke, doch als sie scharf hinsah, kroch weit oben aus dem Gewölke etwas hervor und hing dort wie ein trüber Vollmond, unabsehbar ferne, majestätisch, überwältigend, und sie erkannte, daß sie die Spitze des Mount Rainier anstarrte, zu seinen Füßen die Stadt, wie weiße Quarzsteinchen unter einem Turm. Eine Landungsstelle für Engel, überlegte sie.

Es erschien größer und wichtiger als Toilettetische und Samtvorhänge und parfümierte Bäder.

Aber sie entriß sich dem verführerischen Gang dieses Gedankens und seufzte verquält: »Oh ja, er verstünde Rainier zu schätzen, aber wie – wie würde er mit einer Traube bei Tisch fertig werden? Ich darf kein Narr sein! Ich darf nicht!« Sie bemerkte, daß Frau Gilson sie von der Seite ansah und sie zwang sich, angemessene Dinge zu sagen über die Aussicht, bevor sie ins Haus flüchtete – vor den hervordrängenden Fragen ihres eigenen Ichs.

Nachmittags fuhren sie nach Capitol Hill; sie sprachen in verschiedenen, hübschen Häusern vor und kamen mit Leuten zusammen, die von derselben Art waren, wie Claires Bekannte daheim. Mit all den Leuten zusammen besahen sie verschiedene Aussichten; und das vernünftige Fräulein Boltwood machte eine philosophische Entdeckung und sagte sich: »Schließlich hab ich von dieser Limousine aus ebensoviel gesehen wie von einem knochendurchbeutelnden Teal Karren aus. Unsinn, sich darum unglücklich zu machen, weil man etwas sehen will. Oh ja, ich will noch mehr herumwandern, aber nicht wie ein Landstreicher. Aber – Was soll ich ihm nur sagen? Du lieber Gott, er kann jetzt jeden Augenblick hier sein mit unserem Wagen. Oh, warum – warum – warum bin ich nur damals auf dem Eisenbahnperron verrückt geworden?«


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