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Der Direktor der Western Bank hatte soeben die letzten Wechsel und Briefe unterschrieben, die mit der Abendpost noch abgesandt werden sollten, und saß nun abgespannt, wie alle richtigen »Citymänner« es gegen fünf Uhr nachmittags werden, in seinem kleinen Schreibzimmer und schaute, ohne viel zu denken, auf den engen, feuchten Hof, den er von seinem Pult aus erblicken konnte, und in dem ein verkrüppelter Baum seine dürftig beblätterten Zweige wie klagend dem grauen Londoner Himmel entgegenstreckte, als die mit grünem Tuch überzogene Tür, die in das Hauptkontor führte, sich geräuschlos öffnete. Ein Diener trat herein. Maclean machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Kopfe.
»Geschäftsstunden sind vorüber,« sagte er mürrisch. Aber er griff dessenungeachtet nach der Visitenkarte, die ihm der Diener überreichte.
»Nikolaus Ohlsen aus San Francisco« stand darauf.
»Lassen Sie den Herrn eintreten,« sagte der Direktor schnell, und dann erhob er sich und blieb wartend an seinem Pulte stehen.
Er war in der Tat als der Zwillingsbruder John Macleans nicht zu verkennen: dieselbe riesige Gestalt, dieselben guten, dunklen Augen, derselbe kindliche Mund. Aber die Züge des Direktors, von der Stadtluft gebleicht, waren nicht so massiv wie die des Goldgräbers, und seine Haltung war gebeugt, wie die eines Mannes, auf dessen Schultern eine schwere Last ruht.
Die Tür schwang wieder geräuschlos in ihren Angeln und Nikolaus Ohlsen erschien. Maclean ging ihm entgegen. Die beiden begegneten sich in der Mitte des Zimmers, schüttelten sich kräftig die Hände und sagten gleichzeitig:
»Das freut mich!«
Dann trat Ohlsen einen Schritt zurück, und Harry Maclean mit einem wohlgefälligen, gemütlichen Lächeln betrachtend, sagte er:
»Ja, Sie hätte ich erkannt! Es ist mir, als kenne ich Sie seit acht Jahren, gerade so lange, wie ich John Maclean kenne.«
Nach den ersten zwanzig Worten, die Maclean und Ohlsen miteinander gewechselt hatten, wurde das Gespräch zwischen den beiden so ungezwungen, behaglich, als ob sie sich in der Tat seit langen Jahren gekannt hätten. Ohlsen sprach ohne jeden Rückhalt, und Maclean lauschte mit wohlwollender Aufmerksamkeit.
»Nun,« sagte dieser, als Ohlsen schwieg, »John schreibt mir, daß wir Ihnen hier eine Frau suchen sollen.«
»Ja,« antwortete Ohlsen ruhig und bestimmt. »Ich will mich verheiraten.«
Maclean beobachtete Nikolaus mit demselben väterlichen Blick, mit dem sein Bruder den frischen Burschen zu mustern pflegte, und sagte:
»Das soll meine Frau besorgen. Sie wird Ihnen hübsche junge Mädchen zeigen, daß Ihnen die Augen übergehen, und Sie nur die Schwierigkeit der Wahl haben sollen.«
»Das ist gut! Aber ich sage Ihnen im voraus, daß ich sehr wählerisch, sehr schwer zu befriedigen sein werde. Sehen Sie, lieber Herr Maclean, ich habe eine unverantwortlich gute Meinung von mir. Ich bilde mir ein, daß die Beste gerade gut genug für mich ist. – Und warum sollte ich nicht höchst anspruchsvoll sein? Ich bin jung, reich, und ich kann der Frau, die ich lieben will, mein ganzes Herz und mein ganzes Leben geben. Sie soll es gut bei mir haben: jeden Genuß, den sie sich wünschen mag, keine Sorge. Ich will mich ihr ganz hingeben. So habe ich es mir immer gedacht: nichts Halbes! Aber dafür verlange ich, daß sie mich glücklich macht, und daß ich stolz auf sie sein kann. – Sie muß schön sein, sehr schön! Das ist eine Hauptbedingung. Und gut und klug und vornehm obendrein. Das alles steht auf meinem Programm, und ich beabsichtige nicht, irgendwelche Zugeständnisse in dieser Beziehung zu machen.
»Schön, gut, klug, vornehm,« wiederholte Maclean lächelnd. »Etwas viel auf einmal. – Muß sie auch reich sein?«
»Nein. Ich habe Geld genug für zwei und für ein halbes Dutzend mehr.«
»Aber sie muß Sie lieben?«
»Ja, das muß sie. Sie muß mich lieben, wie ich sie lieben werde, sonst kann mir alle Schönheit, Güte und Klugheit nichts nützen. Aber davor ist mir nicht bange. Zeigen Sie mir ein Mädchen, das mir gefällt, und ich will ihr sonnenklar machen, daß sie nichts Besseres und Weiseres tun kann, als sich in mich zu verlieben.«
»O! über den bescheidenen jungen Mann!« rief Maclean lachend aus. »Kommen Sie, daß ich Sie mit meiner Frau bekannt mache. Ich freue mich auf ihr Gesicht, wenn sie hört, was Sie mir soeben gesagt haben.«
»Sie soll es hören: zehnmal, hundertmal, so oft sie will,« entgegnete Nikolaus ebenfalls lachend. – »Glauben Sie nur nicht, daß ich mit meinen Ansichten hinter dem Berg halten werde. – Ich suche mir eine seltene Perle von Frau, und ich suche, bis ich sie gefunden habe. Goldgräber sind geduldige Leute, lieber Herr. Das wußten Sie vielleicht noch nicht. Man gräbt – umsonst . . . weiter – umsonst . . . immer weiter und tiefer – immer noch umsonst. Aber man wirft die Schaufel nicht weg: man gräbt und gräbt – bis man gefunden hat. So ist es John und mir da draußen gegangen, und so will ich es hier machen: suchen – suchen – ohne müde zu werden . . . bis ich gefunden habe.«
Die beiden hatten während des Sprechens das Bureau verlassen. Vor der Tür der Bank hielten mehrere Droschken. Maclean winkte einem der Kutscher, der schnell vorfuhr, und fragte dann Ohlsen, wo er sein Gepäck gelassen habe. Der Kalifornier nannte einen Gasthof.
»Da müssen wir also zunächst Ihre Koffer holen,« meinte Maclean; »denn Sie wohnen natürlich bei uns.«
Nikolaus, für den das Wort »Gastfreundschaft« einen weiten Begriff deckte, fand dies ganz in Ordnung und begnügte sich zu sagen, er hoffe, er werde nicht stören – eine Bemerkung, die Maclean unberücksichtigt ließ. Der Kutscher empfing die Adresse des Gasthofes, in dem Ohlsen abgestiegen war, das Reisegepäck wurde dort abgeholt und bald darauf saßen der Direktor und der Kalifornier auf der Eisenbahn und fuhren nach Lower Norwood, einem friedlichen Ort, der eine halbe Stunde von London gelegen ist, und in dem Harry Maclean inmitten eines großen Parkes eine schöne, geräumige Villa besaß, die er seit seiner Verheiratung mit seiner Familie bewohnte.
Es war zu Anfang des Monats Mai. Mehr als zwei Stunden waren vergangen, seitdem Ohlsen sich seinem neuen Freunde vorgestellt hatte; und als die beiden nun in den Park traten, hatte sich Abenddämmerung über die stille Landschaft gelagert. Die untergehende Sonne schimmerte goldig durch das dunkle Laub der alten Bäume, hinter denen Ohlsen undeutlich etwas Helles, die weißen Mauern der Villa, hervorleuchten sah. Maclean hatte einen engen Fußsteg eingeschlagen und führte den Weg.
»Sie wohnen ja hier wie im Urwalde,« sagte Ohlsen.
Aber der Fußweg machte plötzlich eine scharfe Biegung nach rechts, und Ohlsen stand, nachdem er noch einige Schritte gegangen war, auf einem offenen Platze und erblickte, unmittelbar vor sich, ein großes Rasenbeet von saftigstem Grün, eingerahmt von einem weißen, breiten Kiesweg, auf dem man zu der nahen Villa gelangte. Vor der Tür des Hauses, zu der eine steinerne Treppe von wenigen Stufen emporführte, stand eine große, in helles Gewand gehüllte Frau. Sie hatte die Arme in fremdartiger Weise über der Brust gekreuzt und schaute regungslos in den Abend hinaus. Als sie die Schritte auf dem Kies hörte, wandte sie das Haupt langsam nach links, und als sie zwei Gestalten erblickte, von denen ihr die eine fremd war, hob sie die eine Hand und beschattete damit die Augen. Dann stieg sie wunderbar ruhig, gleichsam als schwebe sie, die Treppe hinunter und trat den Ankommenden entgegen.
»Willkommen, Herr Nikolaus Ohlsen!«
Der Kalifornier nahm die schmale Hand, die ihm geboten wurde; aber er schien alle Fassung verloren zu haben, und starrte die schöne Erscheinung sprachlos an.
»Er kommt von weit her,« sagte Harry Maclean mit weicher, treuherziger Stimme. »Sieh' nur, wie fremd ihm noch alles ist. Nimm ihn freundlich auf: er hat nie eine Heimat gekannt.«
»Dies soll seine Heimat sein,« sagte Monja leise.
»Dies soll meine Heimat sein?« wiederholte Ohlsen; aber nicht zustimmend, sondern zögernd, fragend.
Was ging plötzlich in ihm vor? Wie kam es, daß ihm die Kehle wie zugeschnürt war und daß ihn ein Schauer des Grausens überlief? Hatte er nicht dies alles schon einmal erlebt? Das Getöse in den Straßen von London, – das Zusammentreffen mit dem Doppelgänger seines Freundes John – die rasselnde, schüttelnde Fahrt nach Lower Norwood – der Weg durch den dunklen, stillen Park – die lichte, stille Frauenerscheinung, die ihm entgegenzuschweben schien. – Alles war so bekannt – und doch wiederum so nebelhaft, undeutlich! . . . War dies Wirklichkeit . . . träumte er, oder hatte er es schon einmal geträumt? . . . Aber es fehlte noch etwas. – Was? . . . Wie endete der Traum?
»Woran denken Sie?« fragte Monja.
Er richtete seine Augen auf sie, ohne sie zu sehen, und blieb stumm.
»Woran denken Sie?« wiederholte Monja ängstlich.
Da schien er zu erwachen. Leben und Licht kamen wieder in seinen Blick; jedoch nicht der alte, freudige, helle Glanz. Er strich sich wie einer, der erschöpft ist oder sich sammeln will, das blonde Haar aus der Stirn und murmelte:
»Die lange Reise muß mich verwirrt haben . . . Mir war es . . .« und dann stockte er wieder.
»Kommen Sie!« sagte Frau Monja sanft, »Sie sind müde. – Hier sollen Sie Ruhe finden!«
Sie schritt voran und die drei traten in das Haus. Aber Ohlsen versank bald wieder in Nachdenklichkeit und blieb während des ganzen Abends wortkarg und zerstreut.