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John Maclean stand vor dem Hause seines Bruders. Er war sicher, sich nicht darin zu irren, denn der Konstabler, den er befragte, hatte ihn bis vor die Tür geleitet und gesagt: »Dies ist Herrn Macleans Haus.« Er hatte dabei höflich an seinen Helm gefaßt, denn es war seinem Polizistenauge nicht entgangen, daß er einen nahen Blutsverwandten des angesehenen Bankdirektors vor sich haben mußte.
John öffnete die kleine Gartentür, die neben dem großen Tor für Wagen angebracht war, und trat in den stillen Park, in dem die Vögel soeben zur Ruhe gegangen waren, und über den sich friedliche Abenddämmerung gelagert hatte. Seine schweren Schritte knirschten auf dem weißen Kies, der die sorgfältig unterhaltenen Wege bedeckte. Ein schöner, schottischer Schäferhund, mit glänzend schwarzem, seidenem Haar kam ihm in wilden Sprüngen bellend entgegen. – »Komm hierher!« sagte John freundlich. – Das Tier stutzte und näherte sich vorsichtig dem fremden Besuch, dann, als habe es einen Freund erkannt, wedelte es mit dem Schweif und, neben John einherschreitend, führte es ihn gerade auf das Haus zu. Der Ankömmling streichelte dem Tier den Kopf und sagte vergnüglich vor sich hin: »Das wäre also der erste Freund, den ich hier antreffe: einen treuen Hund! Ein gutes Vorzeichen!«
John Maclean hatte den Tag über ruhig in London gewartet, um sein Programm ganz genau ausführen zu können. Er hatte zur Dämmerungsstunde in Lower Norwood eintreffen wollen und befand sich nun zur bestimmten Zeit dort. Aber jetzt, da er seine Geliebten in wenigen Minuten sehen sollte, schlug ihm das Herz so gewaltig, daß er einige Minuten still stehen mußte, um seine Fassung wieder zu gewinnen. Der Hund ging langsam voran und blieb oben auf der Freitreppe stehen.
Auf der rechten Seite der Treppe, die zu einer kurzen Veranda führte, stand ein Fenster offen, durch das man, von der Treppe aus, in ein Zimmer hineinblicken konnte. – John Maclean trat an dies Fenster und sah vor sich ein großes, stilles Gemach. Darin, nicht weit vom Fenster und diesem den Rücken kehrend, saß ein großer Mann. Neben ihm, auf dem Teppich, lag eine Zeitung, in der er gelesen hatte und die seiner müden Hand entfallen war. Er schien zu schlummern. – Nicht weit von ihm, auf einem niedrigen Sessel, befand sich ein junges, etwa sechzehnjähriges Mädchen, das den Kopf dem Fenster zugewandt hatte und den Fremdling mit großen Augen ängstlich beobachtete. – Nie hatte die trockene Einbildungskraft des Schotten etwas so Schönes geträumt! Sein Blick haftete gebannt auf dem weißen Gesichte des blonden Kindes.
»Vater!« sagte dieses leise und zaghaft, »Vater!«
Der Schlummernde hob mit einer raschen Bewegung das Haupt. Das junge Mädchen zeigte nach dem Fenster. Der Bankdirektor wandte sich um, dann sprang er in die Höhe, und die beiden Brüder standen sich gegenüber.
»Harry! Harry!«
»Jack!«
Sie liefen, der eine aus dem Zimmer, der andere nach der Haustür, und sie begegneten sich im Flur. Dort packten sie einander wie zwei Ringer an den Schultern und drückten sich und blickten, wie in einen Spiegel, der eine in das Auge des andern, und eine Minute lang konnte keiner von den beiden Worte finden.
Jetzt, da die Zwillingsbrüder nebeneinanderstanden, sah man erst, daß das Leben die ursprünglich fast vollkommene Ähnlichkeit stark angegriffen hatte. John mit seinen schwarzen, dichten Haaren, den wettergebräunten, harten Zügen und den mächtigen, herkulischen Gliedmaßen, schien doppelt so stark und so schwer wie der Bankdirektor, dessen hagere Gestalt gebeugt, und dessen glattrasiertes Gesicht von tiefen Furchen durchzogen war. Aber wie es in beiden Gesichtern vor freudiger Aufregung zuckte, und wie die dunklen Augen in demselben warmen Glanze leuchteten, da war die außerordentliche Ähnlichkeit zwischen den Zwillingsbrüdern wieder unverkennbar.
»Nun komm herein!« rief Harry endlich, »und sei hunderttausendmal willkommen!«
Er ergriff Johns Hand und führte ihn in das Zimmer. Das junge Mädchen, das der Ankommende dort bereits erblickt hatte, war aufgestanden und hatte sich scheu auf die Tür der entgegengesetzten Seite des Zimmers zurückgezogen.
»Das ist Natalie, unsere Tochter,« sagte Harry, den fragenden Blick seines Bruders beantwortend. »Komm' her, Kind, und begrüße deinen Onkel, Onkel John aus San Francisco, von dem ich euch so oft erzählt habe.«
Das schöne Mädchen näherte sich mit zu Boden geschlagenen Augen und ergriff die mächtige Hand, die der Kalifornier ihr freundlich entgegenstreckte, und führte sie ehrfurchtsvoll an ihre Lippen. – Etwas Ähnliches war dem braven John niemals begegnet, er wußte nicht einmal, daß so etwas geschehen könnte, und hatte das Mädchen deshalb auch ohne Widerstand gewähren lassen; aber als er seine rauhe Hand von den jugendlichen Lippen sanft berührt fühlte, da zuckte er zurück, und das braune, männliche Gesicht wurde von heißem Rot übergossen. Er sah seinen Bruder betroffen an, aber der sagte lächelnd:
»Das sind so fremdländische Sitten, die Monja dem Kinde angewöhnt hat, und die es wohl von selbst ablegen wird, wenn es längere Zeit unter uns lebt. – Natalie ist erst vor Kurzem aus einer Pension auf dem Kontinent zu uns gekommen,« setzte er hinzu.
Das junge Mädchen hatte diesen Erklärungen befangen und wie beschämt zugehört. Ihr Stiefvater bemerkte es und sagte freundlich:
»Ich mache dir keine Vorwürfe, liebe Tascha. – Nun geh' und rufe deine Mutter und sage ihr, wir hätten Besuch bekommen: aber verrate nicht, wer hier ist.«
Natalie wollte sich sofort entfernen. Einige Worte des Kaliforniers hielten sie zurück.
»Wo ist Nick?« fragte er.
»Er wird mit Monja spazieren gehen,« antwortete Harry. »Sie werden beide zusammen kommen.«
»Wo gehen sie spazieren?«
»Hier in der Nähe, im Park.«
»Dann laß sie mich aufsuchen.«
»Wie du willst,« sagte Harry. »Es ist mir auch recht, daß wir noch etwas allein sind.«
»So darf ich auf mein Zimmer gehen?« fragte Natalie leise.
In ihrer Aussprache des Englischen lag etwas Fremdartiges; aber die Stimme war unbeschreiblich anmutig.
»Tu was du willst, mein Kind. Nur verrate uns nicht, wenn du deine Mutter und Ohlsen sehen solltest. – Wie Nick sich freuen wird!«
»Ja, er wird sich freuen,« wiederholte John zerstreut. Dann atmete er tief auf und setzte sich nieder, während Natalie mit einem stummen Gruß das Zimmer verließ.
Die beiden Brüder unterhielten sich darauf eine halbe Stunde lang mit großer Lebhaftigkeit. Jeder hatte viele Fragen des andern zu beantworten und erzählte in gedrängter Kürze, was ihm während der langen Trennung begegnet war. – Plötzlich unterbrach Harry seinen Bruder.
»Es wird dunkel,« sagte er. »Monja und Ohlsen können jeden Augenblick eintreten. Willst du sie aufsuchen, damit sie uns nicht überraschen? Wir wollen später weitersprechen.«
John war mit dem Vorschlage seines Bruders einverstanden, und die beiden traten auf die Terrasse, um in den Park zu gehen. Da sagte der Kalifornier:
»Du meinst, Nikolaus könne nicht weit von hier sein?«
»Zehn Minuten weit, falls er am äußersten Ende des Parkes sein sollte.«
»Dann laß mich ihn rufen, wenn du nicht fürchtest, daß ich die Nachbarn erschrecke.«
»Die Nachbarn gehen mich nichts an. Rufe so laut du willst.«
Da tat John Maclean, wie Nikolaus Ohlsen an Bord des Dampfschiffes getan, als er von dort aus seinem Kameraden Lebewohl zugerufen hatte. Er setzte beide Hände an den Mund und stieß einen langgezogenen, wilden Schrei aus:
»Haia–o–hi!«
Der zivilisierte Bankdirektor wich einen Schritt zurück.
»Ja,« sagte er, »das könnte die Nachbarn in der Tat erschrecken. In welchem Lande der Welt schreien die Menschen so, den wilden Tieren gleich?«
Der Kalifornier antwortete nicht. Er hatte eine Hand an das Ohr gelegt und lauschte aufmerksam. – Aber alles blieb stumm. Da ließ er von neuem, mit womöglich noch größerer Kraft, seinen wilden Ruf erschallen, und gleich darauf hörten die beiden Brüder Hundegebell, und in geringerer Entfernung als sie erwartet hatten, tönte es vernehmlich, wenn auch schwach zurück:
»Haia–o–hi!«
»Das ist Ohlsen,« sagte James freundlich nickend. »Er kann schon nicht mehr so schön rufen, wie in Kalifornien; aber ich erkenne seinen Schrei. Da unten rechts ist er. Nun komm! – Wir wollen ihm entgegengehen.«