Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

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VIII

Die Gesellschaft, die sich an jenem Abend um den Teetisch in der Villa von Lower Norwood versammelt hatte, war eine sehr unbehagliche. Nikolaus, der schon seit geraumer Zeit außerstande zu sein schien, seine Niedergeschlagenheit zu verbergen, saß stumm und teilnahmslos da. Aber auch der Hausherr, der sonst die Unterhaltung zu leiten pflegte, war heute von undurchdringlicher, unruhiger Nachdenklichkeit, und das, was seine Gedanken beschäftigte, mußte wohl peinlicher Natur sein, denn es verhinderte ihn, auch nur einen Bissen zu genießen und sich auch nur mit einem Worte an der Unterhaltung zu beteiligen. Er sah sehr angegriffen aus. Die glattrasierten Lippen waren fest zusammengepreßt, und ein schmerzlicher Zug hatte sich um seinen Mund gelagert. Man hätte sagen können, er sei in wenigen Stunden merklich älter geworden. – Seine rechte Hand lag auf dem Tisch, und seit einer Viertelstunde klopfte er ununterbrochen mit dem Zeigefinger »1, 2, 3 . . . 1, 2, 3.« – Das monotone, regelmäßige Geräusch hatte etwas Beunruhigendes. Harrys Augen waren auf die Lampe gerichtet, die in der Mitte des Tisches stand; aber von Zeit zu Zeit flog ein forschender Blick auf Nikolaus und auf Frau Monja. Diese erschien unbefangen und aß und trank mit ihrem regelmäßigen, guten Appetit. Daß sie nicht sprach, konnte nicht auffallen; denn sie war im allgemeinen eine stille Frau.

Nach einer Weile wurde das tiefe Schweigen, das nur durch Harrys »1, 2, 3 . . . 1, 2, 3« . . . unterbrochen, und dadurch noch bemerkbarer wurde, plötzlich allen drückend.

»Eine schöne, warme Nacht,« sagte John.

Frau Monja sah ihn verwundert an, und als niemand auf die Bemerkung des Kaliforniers einging, nahm sie selbst das Wort.

»Sie sind noch immer entschlossen, uns morgen zu verlassen,« fragte sie, sich an John wendend.

Dieser richtete einen unentschlossenen Blick auf seinen Bruder und sagte: »Was meinst du?«

Der Bankdirektor hatte nicht gehört.

»Harry!« fuhr John fort.

Der Angeredete schlug die Augen schnell, gleichsam erschreckt in die Höhe und fragte hastig: »Was gibt's?«

»Was meinst du . . . soll ich morgen nach Edinburg gehen, oder ist es dir lieber, wenn ich noch einige Tage hierbleibe? Besondere Eile habe ich nicht. Mir ist übermorgen gerade so recht wie morgen. Nur möchte ich die Mädchen nicht gar zu lange warten lassen.«

Harry dachte eine kleine Weile nach.

»Ich glaube, es ist am besten, du gehst morgen,« sagte er sodann. Gleichzeitig erhob er sich mit jener eigentümlichen Unentschlossenheit in den Bewegungen, die man annimmt, wenn man eine Gesellschaft zum Aufbruch mahnen will. Frau Monja gähnte leise. Natalie legte eine Handarbeit zusammen, mit der sie sich seit einer Weile beschäftigt hatte. Dann standen alle wie auf ein gegebenes Zeichen auf und näherten sich der Ausgangstür. Harry ging voran. An der Tür blieb er stehen.

»Der Schnellzug geht um zehn Uhr,« sagte er, sich an seinen Bruder wendend. »Du begleitest mich nach der City, und ich bringe dich dann zur Bahn . . . Gute Nacht!«

Er war gegangen, ohne einem der Anwesenden die Hand gereicht zu haben.

»Ihr Bruder scheint sehr verstimmt über Ihre unerwartete Abreise,« sagte Frau Monja zu John. – »Nun, vielleicht besinnen Sie sich noch eines andern.«

»Natürlich, natürlich,« antwortete der Kalifornier.

Es war ihm seit einigen Stunden, als wandle er in einem dunklen, pfadlosen Walde. Er hatte sich verirrt und wußte nirgends einen Ausgang zu finden. Nicks Benehmen war ihm seit seiner Ankunft ein Rätsel. Seit einer Stunde war ihm Harry ebenso geheimnisvoll. Er würde nun zwar trotz alledem bald eingeschlafen sein, wenn er sich zur Ruhe begeben hätte, denn seine Nerven waren nicht leicht zu erschüttern, auch war er mehr verwirrt als beunruhigt, doch war es ihm ganz angenehm, als Ohlsen ihn mit halblauter Stimme aufforderte, noch einen Spaziergang mit ihm zu machen. Die beiden wünschten den Damen gute Nacht und traten sodann in den Park.

»Worüber ist dein Bruder so verstimmt?« fragte Ohlsen besorgt, sobald er sich in genügender Entfernung vom Hause befand, um unbeobachtet sprechen zu können.

»Über meine Abreise. – Worüber sollte er sonst verstimmt sein?« antwortete John.

»Hast du ihm gesagt, weshalb du abreist?«

»Natürlich.«

»Was hast du ihm gesagt? – Erzähle mir alles.«

Ohlsen sprach mit auffallender Ungeduld.

John blieb stehen, nahm einen tiefen Atemzug, kreuzte die Arme langsam über die breite Brust, maß Ohlsen vom Kopf bis zu den Füßen und sagte nach einer Pause:

»Ich will verdammt sein, wenn ich von alledem, was hier vorgeht, auch nur das Geringste verstehe . . . Was ist los? Ist ein Mord begangen worden, verbirgt sich eine Falschmünzergesellschaft im Keller, oder wird ein Angriff auf die Bank von England geplant? – Wo spukt es? – Soeben hat Harry hundert Fragen über dich an mich gerichtet, die ich alle nach bestem Wissen beantwortet habe, ohne auch nur zu ahnen, woher diese außergewöhnliche Teilnahme für deine Angelegenheiten bei ihm kommt, – und jetzt brennst du darauf, zu wissen, was ich mit Harry gesprochen habe. – Was hast du mit Harry, und was hat er mit dir zu tun? Du bist doch kein altes Weib, das neugierig ist, und du hast doch kein böses Gewissen, daß du dich zu ängstigen brauchst, wenn du erfährst, jemand habe von dir gesprochen! – Schenke mir reinen Wein ein, wenn du etwas von mir erfahren willst.«

»Ist der Name Taschas ausgesprochen worden?« fragte Nikolaus, unbekümmert um die Aufforderung zu sprechen, die John an ihn gerichtet hatte.

»Nein,« antwortete dieser gedehnt.

»Der deiner Schwägerin?«

»Nein.« Diesmal kam die Antwort zerstreut aber schnell.

Eine Pause trat ein. John glaubte endlich verstanden zu haben. – Ob von Tascha die Rede gewesen wäre? – Das war Ohlsens erste Sorge gewesen. – John strich sich mit derselben Gebärde wie sein Bruder Mund und Kinn, und ein nie gekanntes Weh beschlich ihn. Er empfand einen dumpfen Schmerz in der Brust, wie wenn sie zugeschnürt würde, und er stand plötzlich still. –

»Natürlich!« murmelte er vor sich hin.

»Was willst du sagen?« sagte Nikolaus.

»Laß die Fragen! – Ich habe auch meine Gedanken.« Die Worte waren in einem feindlichen, gehässigen Ton ausgesprochen. Aber der Sprecher schien sie gleich darauf zu bereuen. »Gib mir einen Augenblick Zeit, nachzudenken,« sagte er milde. Er ließ sich schwerfällig auf eine Bank fallen, vor der er stehen geblieben war, und die Hände auf die Knie gelegt, den Kopf gesenkt, blickte er vor sich hin. – Also um Natalie handelte es sich! Natalie war es, die von Nikolaus geliebt wurde, und aus irgend einem noch nicht aufgeklärten Grunde war diese Liebe eine unglückliche! – Aber was ging das ihn, John Maclean, an? Hatte er vielleicht für sich selbst an Natalie gedacht? – Nein, das hatte er nicht. Aber in dem Augenblicke, wo er verstanden zu haben glaubte, daß ein anderer sich um sie bewerbe, ein anderer, Jüngerer, ihrer Würdigerer, dem sie sich früher oder später hingeben würde, in dem Augenblick war ihm klar geworden, was er an dem Mädchen verlieren werde. Er hatte kein Glück für sich geträumt, aber nun fühlte er mit der bittern Wehmut selbstloser Menschen, wie elend er ohne Glück, wie dunkel das Leben ohne die lichte Natalie für ihn sein werde. – Alles dies zog wirr und wüst durch sein Gehirn. Er atmete schwer.

»Was gibt es?« fragte Nikolaus, der besorgt vor ihm stehen geblieben war.

John erwachte wie aus einem Traum.

»Es ist alles in Ordnung,« sagte er. »Ich will dir helfen, mein Sohn.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Ich verstehe mich, das genügt. – Nun wollen wir die Geschichte noch einmal von vorn anfangen, und wie zwei vernünftige Menschen besprechen. Also: was willst du wissen? Was Harry gefragt, und ich über dich gesagt habe? – Warte eine Sekunde. Ich weiß nicht, woher mir der Kopf auf einmal so schwer ist. – Jetzt habe ich den Faden . . .«

Er zauderte noch einige Augenblicke, um sich zu sammeln, und berichtete dann in geschäftsmäßigem Tone: – »Als ich Harry sagte, ich habe versprochen, mit dir nach Kalifornien zurückzukehren, fragte er, was dich dort hinziehe. – ›Eine Frau,‹ sagte ich. – ›In Kalifornien? Er wollte sich doch hier verheiraten, hattest du mir geschrieben.‹ – ›Nein, keine Frau in Kalifornien, eine Frau von hier treibt ihn fort.‹ – ›Wer ist das?‹ – ›Das mußt du besser wissen. Mit wem ist Nikolaus hier zusammengetroffen?‹ – Darauf antwortete Harry nicht, sondern schien nachzudenken. Endlich richtete er allerhand Fragen an mich, die mir in dem Augenblick schwer verständlich waren. – Ich erzählte ihm unsere Unterhaltung, die ja kein Geheimnis war, wenigstens nicht für Harry, ich erzählte ihm auch, wie ich dich verändert gefunden, wie ich dich hätte ausforschen wollen, ohne daß es mir gelungen wäre, dir dein Geheimnis zu entreißen; daß aber für mich kein Zweifel darüber walte, daß eine Frau dich umgewandelt, aus einem heiteren, gesunden Menschen einen trübseligen Duckmäuser aus dir gemacht habe.«

»Wie kamst du dazu, das zu sagen?« fragte Nikolaus zornig. »Hatte ich dir irgend etwas Ähnliches anvertraut? Hatte ich dir nicht im Gegenteil gesagt, du irrtest dich, als du schon bei unserer ersten Unterredung hier, darauf versessen warst, mir eine alberne Frauenzimmergeschichte anzuhängen?«

Aber John war nicht mehr so versöhnlich gestimmt, wie an dem Tage. da er jene erste Unterhaltung mit Nikolaus gehabt hatte, und kurz angebunden entgegnete er:

»Es wird mir jetzt zu viel mit all der Geheimniskrämerei! Sprich heraus wie ein Mann oder laß mich in Frieden! Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, seitdem du Kalifornien verlassen hast. Du bist wie umgewandelt. Wenn du wieder der Alte sein kannst, so komm' zu mir – ich bin immer da. Und damit gute Nacht!«

Er wandte sich mürrisch ab und wollte seiner Wege gehen.

»John, noch ein Wort!«

»Nun?« fragte der Kalifornien

Nikolaus zauderte und sagte dann leise: »Entziehe mir deine Freundschaft nicht! Ich fühle mich so elend, so allein! – O John. alter, guter, lieber Freund, ich wünschte, du ständest an meinem Grabe und sagtest ›Da liegt einer, der treu war.‹«

John Maclean sah seinen Freund ernst an.

»Willst du mir vertrauen?« fragte er.

Nikolaus antwortete nicht.

»Nun wohl, ich will nicht weiter in dich dringen. Ich gehe als Freund von dir. – Du sprichst wie einer, der eine große Sünde auf sein Gewissen geladen hat. Gott behüte dich! Gib niemals klein bei, sage niemals, alles ist verloren! Das ist Weiberart. Männertrotz kann Schweres durchsetzen. – Es gibt immer nur einen richtigen Weg, auf dem ein Mann wandeln soll. Wenn du ihn verlassen hast, so suche ihn wieder auf, und wenn er auch steil und steinig ist und dir die Füße bluten macht, gehe mutig darauf vorwärts, unbekümmert um Schmerz und Müdigkeit! In fünfzig Jahren ist alles gleich, was wir erlitten haben und was uns erfreut hat; aber das, was wir Gutes und Schlechtes getan haben, das blüht oder wuchert fort!«

Es war, als wäre ein Geist in ihn gefahren, und Nikolaus blickte der großen Gestalt, die sich jetzt abgewandt hatte und in der Nacht verschwand, mit weit aufgerissenen Augen nach, wie einer überirdischen Erscheinung.


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