Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

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XIV

Der Ausspruch der versammelten Ärzte war nicht so ungünstig ausgefallen, wie John und Katharina es befürchtet hatten. Frau Monja, die Vernünftigste der Gesellschaft, hatte mit ihrem ruhigen Optimismus recht gehabt. Der Zustand des Verletzten war ein bedenklicher, aber kein hoffnungsloser: man durfte, wie Frau Monja ganz richtig bemerkt hatte, das beste von seiner kräftigen Konstitution erwarten.

Frau Monja ließ dem Gatten die aufmerksamste Pflege angedeihen. Ihr Benehmen ihm gegenüber war musterhaft, von unerschütterlicher Sanftmut, unermüdlicher Wachsamkeit. Sie wäre am liebsten gar nicht von seinem Bette gewichen, wenn er selbst sie nicht wiederholt aufgefordert hätte, sich nicht zu sehr zu ermüden und sich durch John oder durch die unverwüstlich starke Katharina ablösen zu lassen. – Jedesmal, wenn sie dann das Zimmer verließ, folgte ihr ein langer, fragender, unruhiger Blick des Leidenden. Und doch hatte sie es an Beweisen nicht fehlen lassen, daß sie zu jedem Opfer bereit sei, um von dem Kranken Beunruhigung fern zu halten. Ihren Stolz sogar hatte sie zum Schweigen gebracht, ja erniedrigt, nur um eine unerklärliche, kindische, wenn nicht krankhafte Laune Harrys zu befriedigen. – Dieser hatte sie, sobald sie das erstemal allein waren, und er sprechen konnte, mit schwacher Stimme gefragt, wo sie an dem Tage, an dem man ihn auf einer Bahre in das Haus getragen hatte, gewesen wäre; er erinnere sich, nur von seinen Geschwistern empfangen worden zu sein.

Frau Monja war wieder bei Valerie gewesen.

»In der Tat!« antwortete er. Es war ein Zweifel in seiner Stimme; sie sah ihn erstaunt an.

»Bist du davon nicht überzeugt?« fragte sie im Tone großer Verwunderung. – »Würde es dich beruhigen, wenn ich den Beweis brächte, daß ich dir die einfache Wahrheit gesagt habe?«

Er lag eine Weile sinnend da, während der sie ihn kopfschüttelnd betrachtete, als stände sie vor einem unlösbaren Rätsel.

»Ja,« sagte er endlich trocken.

Sie stand schnell auf, trat an den kleinen Schreibtisch, der sich im Schlafzimmer befand, und schrieb hastig einige Zeilen. Dann näherte sie sich dem Bette wieder und sagte:

»Wenn es dich ermüden sollte, selbst zu lesen, so will ich dir vorlesen, was ich geschrieben habe.«

Er griff mit schwacher Hand nach dem kleinen Briefbogen, den sie ihm hinhielt, und las:

»Liebe Valerie! Ich weiß nicht, ob du schon von dem Unglück gehört hast, das meinem armen Mann vorgestern, als ich bei dir war, zugestoßen ist: er ist überfahren worden und liegt leidend im Bette. Ich muß mich für heute auf diese kurze Mitteilung beschränken, denn ich habe nicht die Ruhe, dir ausführlich zu schreiben. – Ich hatte vorgestern verschiedene kleine Einkäufe gemacht, die ich aber irgendwo vergessen habe. – Vielleicht bei dir? Es war ein Paket mit weißem Papier und enthielt unter anderem drei Paar Handschuhe. Solltest du es gefunden haben, so schicke es mir durch den Überbringer.

Deine Monja.

Das war alles, was in dem unverfänglichen Briefchen stand. Harry las es aufmerksam durch. Dann reichte er es seiner Frau zurück, schloß die Augen und sagte in gleichgültigem Tone:

»Du kannst es absenden, wenn du willst.«

»Soll ich etwas anderes schreiben?« fragte sie hastig. »Sage mir: was?«

»Nein; es würde doch immer auf dasselbe herauskommen.«

Er wandte sich müde ab. – Sie schien ratlos, aber sie schloß den Brief, klingelte und sagte dem Diener, der gleich darauf erschien, leise, jedoch so, daß ihr Mann jedes Wort verstehen konnte, der Diener solle den Brief sofort zu Fräulein Didier tragen und Antwort zurückbringen. Die Sache habe Eile, er könne eine Droschke nehmen, um den Weg von der Bahn zu Fräulein Didier schneller zurückzulegen. Er solle sich so einrichten, daß er mit dem Vier-Uhr-Zuge wieder zurück sei.

Während seiner Abwesenheit verließ Monja das Krankenzimmer nicht, wenn schon Katharina und John sich erboten, sie in gewohnter Weise abzulösen. Sie schien jeden möglichen Verdacht, als ob sie hinter dem Rücken ihres Mannes mit Valerie korrespondiere, im Grunde ersticken zu wollen.

Der abgesandte Diener kam erst um fünf Uhr nach Lower Norwood zurück. Er entschuldigte die Verspätung damit, daß er eine halbe Stunde bei Fräulein Didier habe warten müssen. Er übergab ein sorgfältig eingewickeltes Paket, das Monja nachlässig öffnete, doch so, daß Harry es sehen konnte, und das verschiedene Kleinigkeiten: Bänder, Knöpfe, Nadeln und auch die ausdrücklich erwähnten drei Paar Handschuhe enthielt. – Die Sache war in Ordnung. Auch der Brief ließ für jeden, der nicht überall Arges wähnen wollte, nichts zu deuten übrig. Er war etwas kurz für einen Brief, der die schreibselige und schreibkundige Valerie eine halbe Stunde beschäftigt hatte. Gewöhnlich waren ihre überschwenglichen Epistel an Monja zum mindesten acht Seiten lang und kreuz und quer beschrieben, mit zahlreichen Nachschriften versehen, dagegen ohne Datum. – Das vorliegende Billett lautete:

»Dienstag, 4. Oktober.

»Meine arme, beklagenswerte Freundin, geliebte Monja – Ich bin durch die entsetzliche Nachricht, die Deine lieben Zeilen mir bringen, auf das tiefste erschüttert. Ich eile heute abend zu Dir, wenn auch nur auf wenige Minuten, um die Einzelheiten des grausigen Ereignisses aus Deinem Munde zu erfahren. – Anbei das kleine Paket, das ich gleich, nachdem Du gegangen warst, gefunden habe. Ich würde es Dir nachgeschickt haben, wenn ich nicht gehofft hätte, Dich in den nächsten Tagen wiederzusehen. – Hast Du neulich nicht den Zug verpaßt? Wir hatten uns verplaudert, und ich bemerkte erst, als Du gegangen warst, daß nur noch wenige Minuten an vier Uhr fehlten. Die zwei Stunden waren wie wenige Sekunden hingeflogen. – Ach, ich fürchte, geliebte Freundin, es wird lange dauern, bis ich wieder ein Plauderstündchen, die einzige Freude meines traurigen Lebens, mit Dir haben kann! Grüße Deinen lieben, lieben, armen Kranken, und sei tausendmal umarmt von Deiner treuen Valerie.«

Harry las den Brief bedächtig durch, ohne eine Miene zu verziehen, von Anfang bis zu Ende, dann ließ er ihn gleichgültig auf die Bettdecke fallen.

»Nun,« sagte Monja, als sie sah, daß er nicht sprechen würde; »bist du befriedigt?«

Er räusperte sich, als wollte er sprechen; aber dann schien er sich eines anderen besonnen zu haben und sagte einfach in müdem Ton:

»Ja.«

Der Brief war in seinen Augen ein elendes, vorher abgekartetes Machwerk. Daß Valerie ihre einzige Stütze in der Welt, Monja, nicht zu Fall bringen würde, darüber war Maclean sich ganz klar. Die Französin hatte sich in Harrys Augen ganz und gar an Monja verkauft, für die Dienste, die sie von dieser erwartete – sie war, nach seiner Ansicht, auf den vorliegenden Fall vorbereitet worden und hatte den ihr gegebenen Anweisungen gemäß, gewissenhaft gehandelt. Was hätte es genützt, diesen neuen Verdacht zu äußern. Monja wäre um eine Antwort sicherlich nicht verlegen gewesen. – Lug und Trug, mit einigem Scharfsinn gepaart, verfügen über viele Waffen. – Harry fühlte sich betrogen, aber er schwieg, wenn er den Betrug auch durchschaute. Er wußte sich der schlauen Monja unendlich überlegen; aber seine Verachtung für sie hatte nun den Grad erreicht, wo sie schweigsam wird und sich nur noch in einem willenlosen Zornausbruch äußern kann. Es gebrach dem kranken Mann an Kraft, sich zur hellen Entrüstung emporzuschwingen. Er war müde – müde, unverdiente Schmach so lange getragen zu haben, müde, von einem untergeordneten Wesen belogen und betrogen zu sein. – »Wozu noch kämpfen?« sagte er sich. – »Bald ist alles aus!« – Und die einzige Sorge, die ihm noch blieb, war die um seine Kinder, die vaterlos heranwachsen, und um seine Geschwister, die ihn beweinen würden. Sorgen um sich selbst hatte er keine mehr.

Zwei Wochen waren dahingegangen, ohne daß sich eine erhebliche Veränderung im Zustande des Kranken gezeigt hätte. Er war vielleicht etwas schwächer geworden – wenigstens glaubten Katharina und John das zu bemerken. Dem Arzt war es entgangen, auch Frau Monja sah es nicht. Aber sie hatte dessenungeachtet ihre Sorgen – ernste, schwere Sorgen. – Sie fühlte sich vernachlässigt, vereinsamt. Ganz unmerklich, trotz ihrer aufrichtigen Bereitwilligkeit zu jeder Dienstleistung am Bette des Kranken, war sie dort durch Katharina und John verdrängt worden. Die beiden waren ihr an rein physischen Kräften erheblich überlegen. Die knochige Katharina handhabte den kranken Bruder wie ein kleines Kind, während Monja ihn beim besten Willen kaum bewegen konnte, wenn er in die Höhe gehoben werden oder seine Lage im Bett verändern wollte, um sich Linderung der Schmerzen zu verschaffen, die ihn nur selten verließen. Ihre schönen, weichen Hände waren dienstwillig genug, aber nicht diensttüchtig. – »Rufe nur Katharina oder John,« sagte Harry, wenn er sah, wie sie sich mit Anstrengung aller ihrer Kräfte vergeblich bemühte, ihn emporzurichten. Und Katharina oder John waren immer in der nächsten Nachbarschaft, erschienen auf den ersten Wink und taten mit Leichtigkeit, was der Kranke verlangte. Und wenn das geschehen war, dann blieben sie im Zimmer, und nach einer Weile tiefen Schweigens von allen Seiten empfand dann Monja stets, daß sie nicht nur entbehrlich sei, nein, daß sie störe. Und dann entfernte sie sich, nicht ohne die Empfindung eines gewissen eifersüchtigen Grams. Sie wäre so gern eine unübertreffliche Krankenwärterin für ihren Mann gewesen: an gutem Willen dazu fehlte es ihr nicht; aber sie hatte nun einmal nicht die Kräfte dazu. Dagegen ließ sich nichts machen.

Auch die Ärzte fanden bald heraus, daß die Geschwister die eigentlichen Pfleger ihres Patienten seien und wandten sich vorzugsweise an diese, höchstens aus Höflichkeit auch an Frau Monja, um Weisungen über die Behandlung des Kranken zu erteilen. Selbst die zahlreichen fremden Besucher, wie Herr Brent zum Beispiel, schienen es natürlicher zu finden, Miß Katharina oder Herrn John Maclean nach dem Befinden des Bruders zu fragen als Frau Monja nach dem des Herrn Gemahls. Monja fühlte sich verringert, und das kränkte sie. Sie konnte sich stundenlang auf dem Zimmer einschließen, das sie sich nach der Erkrankung Harrys für ihren Privatgebrauch eingerichtet hatte, ohne daß irgend jemand ihre Abwesenheit zu bemerken schien. Alles ging, auch wenn sie nirgends eingriff, seinen ruhigen Gang. – Sie kümmerte sich um die Kinder, um wenigstens nicht ganz nutzlos zu sein, sie ging mit der stillen Natalie spazieren, um irgend welche Gesellschaft zu haben. – Katharina und John vermieden sie nicht gerade, aber sie suchten sie niemals auf; und dann waren sie stets durch die Sorge um den kranken Bruder beschäftigt. – Die Familie des Gatten war Frau Monja niemals sympathisch gewesen; die anwesenden Mitglieder derselben wurden ihr nunmehr geradezu antipathisch. – Sie verhehlte sich nicht, daß ihr die alles überwuchernde Geschwisterliebe der Macleans unangenehm, lästig werde. – Der Mann sollte zuerst der Frau gehören, so schickte es sich, so wollten es Religion, Gesetz, Gesellschaft! – Harry aber gehörte Katharina und John viel mehr als ihr. – War das recht? – Sie fühlte sich ungerecht, schlecht behandelt, tief verletzt! Sie war eine vernachlässigte Frau!

Von Nikolaus Ohlsen sah Frau Monja so gut wie nichts mehr. Es konnte kein Zweifel darüber obwalten, daß er sie absichtlich vermied. Niemals war er mit ihr allein, ja, sie konnte nicht einmal seine Blicke antreffen, wenn er ihr bei Tisch stumm und bleich gegenübersaß. Den Kranken hatte Ohlsen nicht gesehen. Die Ärzte hatten ausdrücklich befohlen, daß niemand außer den Wärtern das Krankenzimmer betreten sollte. Jede Aufregung sei dem Leidenden schädlich, und es sollte deshalb auch die kleinste sorgfältig vermieden werden. – Ohlsen war fast nie mehr zu Hause. Er verließ Lower Norwood gewöhnlich mit frühem Morgen und kehrte erst zum Essen nach der Villa zurück. – Katharina und John vermißten ihn nicht. Sie waren zu sehr mit Harry beschäftigt. Auch war augenscheinlich eine gewisse Verstimmung zwischen John und Nikolaus eingetreten. – Gleich einem kalten, dunklen Schatten erhob sich zwischen ihnen ein finsteres Geheimnis, das John mit der Zeit mißtrauisch gemacht und das Nikolaus schon vom ersten Tage ab sein altes, offenes Zutrauen zu John geraubt hatte.

John, der als schlichter Mann der Tat nur selten über seine Verhältnisse zu andern nachgrübelte, sondern sie aufnahm, wie sie sich gerade gestalteten, legte sich von der Verstimmung nicht genau Rechenschaft ab. Ja, wenn er an Ohlsen dachte, so geschah es noch immer in alter Freundschaft, und er sagte sich sodann, daß die Geheimniskrämerei, die seinen Freund augenblicklich von ihm entfernt halte, doch endlich einmal ein Ende nehmen, und daß das gute, offene Verhältnis, wie es zehn Jahre lang ungetrübt bestanden hatte, dann wieder aufblühen werde. – Ohlsen aber schien unter der Behandlung, die ihm seit Harrys Erkrankung in Lower Norwood zuteil wurde, empfindlich zu leiden. Eines Abends bemerkte er bei Tische, es sei wohl besser, wenn er das Haus zeitweilig verlasse. Er fürchte, daß seine Gegenwart störe.

»Unsinn!« rief John.

»Wie können Sie fürchten, daß Sie stören?« sagte Frau Monja. »Man hört und sieht Sie ja nicht. Mein Mann würde lebhaft bedauern, wenn er erführe, daß er Sie aus dem Hause vertrieben hat. In seinem und in meinem Namen bitte ich Sie zu bleiben.«

Katharina war nicht gegenwärtig, als diese Unterredung stattfand. Sie saß wie gewöhnlich bei ihrem Bruder. Die arme, kleine Natalie, um die sich kein Mensch zu bekümmern schien, und von der kein Mensch eine Äußerung erwartete, sagte kein Wort, und niemand bemerkte, wie schmerzlich es um den kindlichen Mund zuckte und bebte.

Nikolaus ließ die Unterhaltung fallen, aber nicht wie einer, der in seinem Vorhaben wankend gemacht worden ist.

Frau Monja entfernte sich bald nach dem Essen, um nach dem kürzlich eingeführten Gebrauch, Katharina am Krankenbette abzulösen und dieser Zeit zu geben, ihre Mahlzeit einzunehmen. – John leistete der Schwester dabei Gesellschaft. – Ohlsen trat auf die Veranda und zündete sich dort eine Zigarre an. Natalie gesellte sich still zu ihm. Da trat Nikolaus plötzlich leise und scheu auf sie zu, als sei er im Begriff, eine böse Handlung zu begehen und flüsterte:

»Liebe Natalie, wenn ich gegangen sein werde, so bewahren Sie mir ein freundliches Angedenken!«

Sie stand sprachlos, entzückt und verwirrt. Er erhob die Arme, als wollte er sie an seine Brust ziehen. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Aber plötzlich machte er eine abwehrende Bewegung mit den Händen, und ehe Natalie sich von dem, was vorgegangen war, Rechenschaft abgelegt hatte, war er verschwunden.


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