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IX.
Über wissenschaftliche Anwendungen der Photographie und Stereoskopie.

Dieser Artikel, welcher aus den Sitzungsberichten der Wiener Akademie math.-naturw. Kl. II. Abt., Juni 1866 abgedruckt ist, dient zur Erläuterung des Artikels VI.


Bei Gelegenheit einer Untersuchung über den Effekt räumlich verteilter Lichtreize auf die Netzhaut, deren Resultate für die physiologische Optik und die Beleuchtungs-Konstruktionen der darstellenden Geometrie verwertbar sind, fühlte ich das Bedürfnis, mir unveränderliche Flächen zu verschaffen, deren Lichtintensität von Stelle zu Stelle nach einem beliebigen Gesetz variiert. Ich erhielt dieselben, indem ich mit schwarzen und weißen Sectoren von beliebiger Form bemalte Scheiben und Cylinder in der Rotation photographierte, nachdem ich durch photometrische Bestimmungen mich zuvor überzeugt, daß solche rotierende Körper auf das photographische Papier nach demselben Gesetz wirken, welches Plateau für ihre Wirkung auf die Netzhaut aufgestellt hat. In der Tat wurde ich durch diese theoretischen Betrachtungen zu meinen Versuchen geführt, bevor mir noch die hierher gehörigen Erfahrungen bekannt waren, die sich den praktischen Photographen natürlich leicht zufällig präsentieren mußten.

Der photographische Effekt an irgend einer Stelle der präparierten Platte hängt hiernach nur von der Bestrahlungszeit und von der Bestrahlungs-Intensität ab, und ist beiden nahezu proportional. Man kann also schon a priori erwarten, daß mehrere Bilder, welche nacheinander auf dieselbe Platte fallen, so lange noch kein Punkt vollständig ausgewertet ist, sich einfach summieren und übereinander legen werden wie elementare Bewegungen. Auf diese Weise könnte man auch schöne Musterflächen für die Beleuchtungskonstruktionen der darstellenden Geometrie theoretisch konstruieren. Das Auge vermag in gewissen Fällen, deren nähere Bezeichnung nicht hierher gehört, diese Bilder getrennt wahrzunehmen. Namentlich sind es Linearzeichnungen von verschiedener Farbe oder Helligkeit, welche selbst dann noch gut unterschieden werden, wenn sie in eine Ebene fallen.

Die angeführten Bemerkungen bilden die wissenschaftliche Grundlage für das Verfahren, welches man zur photographischen Darstellung der sogenannten Geistererscheinungen anwendet.

Ich verfiel noch auf eine andere Anwendung, die ich trotzdem, daß sie sehr nahe liegt, für neu halten muß, da ich weder in der Litteratur noch durch mündliche Nachfragen bei Sachverständigen, darüber etwas erfahren konnte. Ich photographiere einen Körper, z. B. einen Würfel, stereoskopisch und stelle während der Operation einen andern, z. B. ein Tetraëder, an den Ort des Würfels. Dann sehe ich im Stereoskopbilde beide Körper durchsichtig und sich durchdringend.

Man kann diesen Erfolg des Experimentes wieder von vornherein erwarten. Denn es ist bekannt, daß man durch ein unbelegtes Planglas, welches man zwischen zwei Körper, Würfel und Tetraëder z. B. bringt, scheinbar den Effekt hervorbringen kann, als ob beide Körper durchsichtig wären und sich durchdringen würden. Selbst die feinsten Details beider Körper stören sich also nicht in ihrer Wirkung auf das Auge, sobald ihre Netzhautbilder nur verschiedenen Raumpunkten entsprechen. Für die Photographie ist es nun einerlei, ob die beiden Bilder nach einander oder gleichzeitig auf dieselbe Platte fallen, immer summieren sie sich. Das Verhalten der Augen aber einem solchen Stereoskopbilde gegenüber erklärt sich einfach aus dem Wettstreit der Sehfelder. Die beiden Bilder des momentan fixierten Raumpunktes überwiegen alle anderen, weil sie sich sehr ähnlich sind und zu keinem Wettstreit Veranlassung geben.

Die Unterstützung, welche solche Stereoskopbilder bei dem Studium der Stereometrie, der deskriptiven und der Steiner'schen Geometrie gewähren, ist unmittelbar klar. Das dreiseitige Prisma, welches sich in drei gleiche Pyramiden zerfällen läßt, kann weder durch eine Planzeichnung, noch durch ein Modell so anschaulich gemacht werden, wie durch ein durchsichtiges Stereoskopbild. Um die sich durchdringenden Kegel, Cylinder und windschiefen Flächen für die Zwecke der deskriptiven Geometrie darzustellen, hätte man einfach Fäden oder Drähte vor dem Stereoskop-Apparate so zu bewegen, daß die sämtlichen Flächen, die sich durchdringen sollen, nach einander beschrieben werden.

Sehr nette Resultate erhält man, wenn man den bewegten Faden in einem dunklen Raume mit intermittierendem Licht beleuchtet. Das Zimmer wird verfinstert und vor der Öffnung des Fensterladens eine mit Ausschnitten versehene rotierende Scheibe aufgestellt.

Vorzüglich eignet sich die Methode zur Darstellung von Maschinenansichten. Man nimmt eine Maschine stereoskopisch auf, unterbricht die Operation, entfernt einige Maschinenteile, welche andere verdecken, und photographiert dann auf derselben unveränderten Platte weiter. Eine solche Ansicht leistet oft mehr als eine Perspektivzeichnung oder Projektionen oder selbst ein Modell. Daß man auch rotierende Körper stereoskopisch aufnehmen könne, versteht sich nach dem vorigen von selbst.

Die Versuche, die ich bisher ausgeführt, fielen sämtlich so schön und nett aus, daß man erwarten kann, die Methode werde auch bei Darstellung anatomischer Präparate gute Dienste leisten. Ich habe während des Druckes dieser Notiz erfahren, daß Brewster stereoskopische Geistererscheinungen dargestellt hat. Dagegen scheint noch niemand anatomische Präparate in dieser Art photographiert zu haben. ( Brewster, the stereoscope. P. 175, 205.) Nehmen wir z. B. das Schläfenbein auf und setzen während der Operation des Photographierens einen Abguß der Höhlen des Gehörorgans an die passende Stelle, so sehen wir in dem Stereoskopbilde das Schläfenbein durchsichtig und in demselben die Höhlen des Gehörorgans. – Durch mehrmalige Aufnahme ließe sich wohl ein Stereoskopbild einer Extremität herstellen, in welchem man die Knochen, die Nerven, die Blutgefäße und die Muskel durchsichtig, sich durchdringend, und von einer durchsichtigen Haut überkleidet erblicken würde. So viel kann kein Präparat bieten. Ja selbst ein durchsichtiges Modell bleibt hier zurück, weil die Lichtbrechung der Medien störend ins Spiel tritt. Kurz, es würde gar nichts geben, was dem Chirurgen ein so unauslöschliches Bild einprägen könnte, wie die stereoskopische Darstellung.

Diese vielleicht etwas idyllisch erscheinenden Erwartungen werden fast noch übertroffen durch den Erfolg des einzigen Versuches, den ich bisher mit einem anatomischen Präparate ausführen konnte. Ein menschlicher Schädel mit abgesägtem Schädeldach wurde photographiert mit und ohne Dach. Im Stereoskopbilde sieht man nun durch das durchsichtige Schädeldach, an dem gleichwohl alle Details sehr deutlich und plastisch sind, hindurch auf die eben so deutliche Schädelbasis. Der Anblick ist wahrhaft klassisch. Ich beehre mich gleichzeitig der hohen k. Akademie dieses Bild vorzulegen. Seither habe ich auch eine sehr schöne und instruktive stereoskopische Durchsicht des gesamten Gehörorgans durch vier Aufnahmen dargestellt.

Eine Anwendung des Stereoskops, welche sehr nahe liegt und bisher noch nicht ausgeführt ist, wäre die zur Schätzung oder Messung von Raumgrößen. Bringt man einen beliebigen Körper und etwa das Drathmodell eines Kubikfußes, der in Kubikzoll abgeteilt ist, neben einander und dazwischen ein unbelegtes Planglas, so scheint der Kubikfuß den Körper zu durchdringen und es ist nicht schwer, Schätzungen oder Messungen an dem Körper auf diese Weise vorzunehmen.

Ähnlich muß es nun sein, wenn man durch ein solches kubisches Netz, welches stereoskopisch auf Glas abgebildet ist, in den Raum hinaussieht. Es werden dann die Gegenstände einfach von diesem Netz durchdrungen. Es hat dies eine kleine Schwierigkeit, die übrigens gehoben werden kann. Die Linsen des Stereoskop-Apparates sollen nämlich nur die Netzzeichnung, nicht aber die Gegenstände im Raum affizieren. Dies kann erreicht werden durch eine Disposition, die durch nebenstehende Zeichnung erläutert wird.

Fig. 28.

Zwei unbelegte Plangläser werden durch a b und a c im Durchschnitt dargestellt, b d und e c sind Linsen, die sich an die Kästchen b h i d und c g f e anschließen, welche mit den beiden, die stereoskopischen Netzzeichnungen tragenden Glastafeln h i und g f endigen. Sehen nun die beiden Augen O und O' durch die Plangläser a b und a c in den Raum A hinüber, so spiegeln sich in diesen gleichzeitig die Linsen und die Stereoskopbilder und der Effekt ist ganz derselbe, als ob zwar die Stereoskopbilder nicht aber die Gegenstände im Raum A durch die Linsen gesehen würden. Die Verbindung mit dem Telestereoskop wäre für manche Fälle zweckmäßig. Es hat über dreißig Jahre gewährt, bevor die hier mit voller Deutlichkeit ausgesprochene Idee in der Technik Verwendung gefunden hat. – Auch die Durchsichtsstereoskopien, deren Herstellung in manchen Fällen durch Röntgens große Entdeckung so sehr erleichtert wird, haben kaum noch ausgiebige Anwendung gefunden. Vgl. meinen Artikel »On the stereoscopic application of Roentgens rays«. (The Monist, April 1896) Deutsch, mit Verbesserung der Übersetzungsfehler, im Jahrgang 1896 der Wiener elektrotechnischen Zeitschrift. 1902.


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