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XV.
Über das Prinzip der Vergleichung in der Physik.

Vortrag gehalten auf der Naturforscherversammlung zu Wien 1894.

Als Kirchhoff vor 20 Jahren die Aufgabe der Mechanik dahin feststellte: »die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben«, brachte er mit diesem Ausspruch eine eigentümliche Wirkung hervor. Noch 14 Jahre später konnte Boltzmann in dem lebensvollen Bilde, das er von dem großen Forscher gezeichnet hat, von dem allgemeinen Staunen Ich konnte mich an jenem Staunen nicht beteiligen, denn ich hatte schon in meiner 1872 erschienenen Schrift »Über die Erhaltung der Arbeit« die Ansicht vertreten, daß es der Naturforschung durchaus nur auf den ökonomischen Ausdruck des Tatsächlichen ankommt. Aber neu war dieser Satz auch damals nicht. Denn wenn wir auch von der praktischen Betätigung dieser Ansicht bei Galilei und von Newtons Wort: »hypotheses non fingo« absehen wollen, so sagt doch J. R. Mayer ausdrücklich: »Ist einmal eine Tatsache nach allen ihren Seiten hin bekannt, so ist sie eben damit erklärt, und die Aufgabe der Wissenschaft ist beendigt« (1850). Wie sehr aber schon Adam Smith im 18. Jahrhundert in seinen Gedanken über die Wissenschaft sich in verwandten Bahnen bewegt hat, hat kürzlich Mc. Cormack gezeigt. (An Episode in the history of Philosophy. The Open Court. 1895 No. 397) [1895]. Vgl. auch: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 4. Aufl. 1901 und Artikel XIII. über diese neue Behandlungsweise der Mechanik sprechen, und noch heute erscheinen erkenntniskritische Abhandlungen, welche deutlich zeigen, wie schwer man sich mit diesem Standpunkte abfindet. Doch gab es eine bescheidene kleine Zahl von Naturforschern, welchen sich Kirchhoff mit jenen wenigen Worten sofort als ein willkommener und mächtiger Bundesgenosse auf erkenntniskritischem Gebiet offenbarte.

Woran mag es nun liegen, daß man dem philosophischen Gedanken des Forschers so widerstrebend nachgibt, dessen naturwissenschaftlichen Erfolgen niemand die freudige Bewunderung versagen kann? Wohl liegt es zunächst daran, daß in der rastlosen Tagesarbeit, die auf Erwerbung neuer Wissensschätze ausgeht, nur wenige Forscher Zeit und Muße finden, den gewaltigen psychischen Prozeß selbst, durch welchen die Wissenschaft wächst, genauer zu erörtern. Dann aber ist es auch unvermeidlich, daß in den lapidaren Kirchhoffschen Ausdruck nicht manches hineingelegt wird, was derselbe nicht meint, und daß anderseits nicht manches in demselben vermißt wird, was bisher als ein wesentliches Merkmal der wissenschaftlichen Erkenntnis gegolten hat. Was soll uns eine bloße Beschreibung? Wo bleibt die Erklärung, die Einsicht in den kausalen Zusammenhang?


Gestatten Sie mir für einen Augenblick, nicht die Ergebnisse der Wissenschaft, sondern die Art ihres Wachstums schlicht und unbefangen zu betrachten. Wir kennen eine einzige Quelle unmittelbarer Offenbarung von naturwissenschaftlichen Tatsachen – unsere Sinne. Wie wenig aber das zu bedeuten hätte, was der Einzelne auf diesem Wege allein in Erfahrung bringen könnte, wäre er auf sich angewiesen, und müßte jeder von vorn beginnen, davon kann uns kaum jene Naturwissenschaft eine genug demütigende Vorstellung geben, die wir in einem abgelegenen Negerdorfe Centralafrikas antreffen möchten, denn dort ist schon jenes wirkliche Wunder der Gedankenübertragung tätig, gegen welches das Spiritistenwunder nur eine Spottgeburt ist, die sprachliche Mitteilung. Nehmen wir hinzu, daß wir mit Hilfe der bekannten Zauberzeichen, welche unsere Bibliotheken bewahren, über Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, von Faraday bis Galilei und Archimedes unsere großen Toten zitieren können, die uns nicht mit zweifelhaften, höhnenden Orakelsprüchen abfertigen, sondern das Beste sagen, was sie wissen, so fühlen wir, welch gewaltiger, wesentlicher Faktor beim Aufbau der Wissenschaft die Mitteilung ist. Nicht das, was der feine Naturbeobachter oder Menschenkenner an halbbewußten Konjekturen in seinem Innern birgt, sondern nur was er klar genug besitzt, um es mitteilen zu können, gehört der Wissenschaft an.

Wie aber fangen wir das an, eine neugewonnene Erfahrung, eine eben beobachtete Tatsache mitzuteilen? So wie der deutlich unterscheidbare Lockruf, Warnungsruf, Angriffsruf der Herdentiere ein unwillkürlich entstandenes Zeichen für eine übereinstimmende gemeinsame Beobachtung oder Tätigkeit trotz der Mannigfaltigkeit des Anlasses ist, der hiermit schon den Keim des Begriffes enthält, so sind auch die Worte der nur viel weiter spezialisierten Menschensprache Namen oder Zeichen für allgemein bekannte, gemeinsam beobachtbare und beobachtete Tatsachen. Folgt also die Vorstellung zunächst passiv der neuen Tatsache, so muß letztere alsbald selbsttätig in Gedanken aus bereits allgemein bekannten, gemeinsam beobachteten Tatsachen aufgebaut oder dargestellt werden. Die Erinnerung ist stets bereit, solche bekannte Tatsachen, welche der neuen ähnlich sind, d. h. in gewissen Merkmalen mit derselben übereinstimmen, zur Vergleichung darzubieten, und ermöglicht so zunächst das elementare innere Urteil, dem bald das ausgesprochene folgt.

Die Vergleichung ist es, welche, indem sie die Mitteilung überhaupt ermöglicht, zugleich das mächtigste innere Lebenselement der Wissenschaft darstellt. Der Zoologe sieht in den Knochen der Flughaut der Fledermaus Finger, vergleicht die Schädelknochen mit Wirbeln, die Embryonen verschiedener Organismen mit einander, und die Entwicklungsstadien desselben Organismus unter einander. Der Geograph erblickt in dem Gardasee einen Fjord, in dem Aralsee eine im Vertrocknen begriffene Lake. Der Sprachforscher vergleicht verschiedene Sprachen und die Gebilde derselben Sprache. Wenn es nicht üblich ist, von vergleichender Physik zu sprechen, wie man von vergleichender Anatomie spricht, so liegt dies nur daran, daß bei einer mehr aktiven experimentellen Wissenschaft die Aufmerksamkeit von dem kontemplativen Element allzusehr abgelenkt wird. Die Physik lebt und wächst aber, wie jede andere Wissenschaft, durch die Vergleichung.


Die Art, in welcher das Ergebnis der Vergleichung in der Mitteilung Ausdruck findet, ist allerdings eine sehr verschiedene: Wenn wir sagen, die Farben des Spektrums seien rot, gelb, grün, blau, violett, so mögen diese Bezeichnungen von der Technik des Tätowierens herstammen, oder sie mögen später die Bedeutung gewonnen haben, die Farben seien jene der Rose, Citrone, des Blattes der Kornblume, des Veilchens. Durch die häufige Anwendung solcher Vergleichungen unter mannigfaltigen Umständen haben sich aber den übereinstimmenden Merkmalen gegenüber die wechselnden so verwischt, daß erstere eine selbständige, von jedem Objekt, jeder Verbindung, unabhängige, wie man sagt, abstrakte oder begriffliche Bedeutung gewonnen haben. Niemand denkt mehr bei dem Worte »rot« an eine andere Übereinstimmung mit der Rose als jene der Farbe, bei dem Worte » gerade« an eine andere Eigenschaft der gespannten Schnur, als die durchaus gleiche Richtung. So sind auch die Zahlen, ursprünglich die Namen der Finger, Hände und Füße, welche als Ordnungszeichen der mannigfaltigsten Objekte benützt wurden, zu abstrakten Begriffen geworden. Eine sprachliche Mitteilung über eine Tatsache, die nur diese rein begrifflichen Mittel verwendet, wollen wir eine direkte Beschreibung nennen.

Die direkte Beschreibung einer etwas umfangreicheren Tatsache ist eine mühsame Arbeit, selbst dann, wenn die hierzu nötigen Begriffe bereits voll entwickelt sind. Welche Erleichterung muß es also gewähren, wenn man einfach sagen kann, eine in Betracht gezogene Tatsache A verhalte sich nicht in einem einzelnen Merkmal, sondern in vielen oder allen Stücken wie eine bereits bekannte Tatsache B. Der Mond verhält sich wie ein gegen die Erde schwerer Körper, das Licht wie eine Wellenbewegung oder elektrische Schwingung, der Magnet wie mit gravitierenden Flüssigkeiten beladen u. s. w. Wir nennen eine solche Beschreibung, in welcher wir uns gewissermaßen auf eine bereits anderwärts gegebene oder auch erst genauer auszuführende berufen, naturgemäß eine indirekte Beschreibung. Es bleibt uns unbenommen, dieselbe allmählich durch eine direkte zu ergänzen, zu korrigieren oder ganz zu ersetzen. Man sieht unschwer, daß das, was wir eine Theorie oder eine theoretische Idee nennen, in die Kategorie der indirekten Beschreibung fällt.


Was ist nun eine theoretische Idee? Woher haben wir sie? Was leistet sie uns? Warum scheint sie uns höher zu stehen, als die bloße Festhaltung einer Tatsache, einer Beobachtung? Auch hier ist einfach Erinnerung und Vergleichung im Spiel. Nur tritt uns hier aus unserer Erinnerung, statt eines einzelnen Zuges von Ähnlichkeit, ein ganzes System von Zügen, eine wohlbekannte Physiognomie entgegen, durch welche die neue Tatsache uns plötzlich zu einer wohlvertrauten wird. Ja die Idee kann mehr bieten, als wir in der neuen Tatsache augenblicklich noch sehen, sie kann dieselbe erweitern und bereichern mit Zügen, welche erst zu suchen wir veranlaßt werden, und die sich oft wirklich finden. Diese Rapidität der Wissenserweiterung ist es, welche der Theorie einen quantitativen Vorzug vor der einfachen Beobachtung gibt, während jene sich von dieser qualitativ weder in der Art der Entstehung noch in dem Endergebnis wesentlich unterscheidet.

Aber die Annahme einer Theorie schließt immer auch eine Gefahr ein. Denn die Theorie setzt in Gedanken an die Stelle einer Tatsache A doch immer eine andere, einfachere oder uns geläufigere B, welche die erstere gedanklich in gewisser Beziehung vertreten kann, aber eben weil sie eine andere ist, in anderer Beziehung doch wieder gewiß nicht vertreten kann. Wird nun darauf, wie es leicht geschieht, nicht genug geachtet, so kann die fruchtbarste Theorie gelegentlich auch ein Hemmnis der Forschung werden. So hat die Emissionstheorie, indem sie den Physiker gewöhnte, die Projektilbahn der »Lichtteilchen« als unterschiedslose Gerade zu fassen, die Erkenntnis der Periodizität des Lichtes nachweislich erschwert. Indem Huygens an die Stelle des Lichtes in der Vorstellung den ihm vertrauteren Schall treten läßt, erscheint ihm das Licht vielfach als ein Bekanntes, jedoch als ein doppelt Fremdes in Bezug auf die Polarisation, welche den ihm allein bekannten longitudinalen Schallwellen fehlt. So vermag er die Tatsache der Polarisation, die ihm vor Augen liegt, nicht begrifflich zu fassen, während Newton, seine Gedanken einfach der Beobachtung anpassend, die Frage stellt: »Annon radiorum luminis diversa sunt latera?« mit welcher die Polarisation ein Jahrhundert vor Malus begrifflich gefaßt oder direkt beschrieben ist. Reicht hingegen die Übereinstimmung zwischen einer Tatsache und der dieselbe theoretisch vertretenden weiter als der Theoretiker anfänglich voraussetzte, so kann er hierdurch zu unerwarteten Entdeckungen geführt werden, wofür die konische Refraktion, die Cirkularpolarisation durch Totalreflexion, die Hertzschen Schwingungen naheliegende Beispiele liefern, welche zu den obigen im Gegensatz stehen.

Vielleicht gewinnen wir noch an Einblick in diese Verhältnisse, wenn wir die Entwicklung einer oder der andern Theorie mehr im einzelnen verfolgen. Betrachten wir ein magnetisches Stahlstück neben einem sonst gleich beschaffenen unmagnetischen. Während letzteres sich gegen Eisenfeile gleichgiltig verhält, zieht ersteres dieselbe an. Auch wenn die Eisenfeile nicht vorhanden ist, müssen wir uns das magnetische Stück in einem andern Zustand denken, als das unmagnetische. Denn daß das bloße Hinzubringen der Eisenfeile nicht die Erscheinung der Anziehung bedingt, zeigt ja das andere unmagnetische Stück. Der naive Mensch, dem sich zur Vergleichung sein eigener Wille als bekannteste Kraftquelle darbietet, denkt sich in dem Magnet eine Art Geist. Das Verhalten eines heißen oder eines elektrischen Körpers legt ähnliche Gedanken nahe. Dies ist der Standpunkt der ältesten Theorie, des Fetischismus, den die Forscher des frühen Mittelalters noch nicht überwunden hatten, und der mit seinen letzten Spuren, mit der Vorstellung von den Kräften, noch in unsere heutige Physik herüberragt. Das dramatische Element braucht also, wie wir sehen, in einer naturwissenschaftlichen Beschreibung eben so wenig zu fehlen, wie in einem spannenden Roman.

Wird bei weiterer Beobachtung etwa bemerkt, daß ein kalter Körper an einem heißen sich sozusagen auf Kosten des letzteren erwärmt, daß ferner bei gleichartigen Körpern der kältere, etwa von doppelter Masse, nur halb soviel Temperaturgrade gewinnt, als der heißere von einfacher Masse verliert, so entsteht ein ganz neuer Eindruck. Der dämonische Charakter der Tatsache verschwindet, denn der vermeintliche Geist wirkt nicht nach Willkür, sondern nach festen Gesetzen. Dafür tritt aber instinktiv der Eindruck eines Stoffes hervor, der teilweise aus dem einen Körper in den andern überfließt, dessen Gesamtmenge aber, darstellbar durch die Summe der Produkte der Massen und der zugehörigen Temperaturänderungen, konstant bleibt. Black ist zuerst von dieser Ähnlichkeit des Wärmevorganges mit einer Stoffbewegung überwältigt worden, und hat unter Leitung derselben die spezifische Wärme, die Verflüssigungs- und Verdampfungswärme entdeckt. Allein durch diese Erfolge gestärkt, ist nun die Stoffvorstellung dem weiteren Fortschritt hemmend in den Weg getreten. Sie hat die Nachfolger Blacks geblendet und verhindert, die durch Anwendung des Feuerbohrers längst bekannte, offenkundige Tatsache zu sehen, daß Wärme durch Reibung erzeugt wird. Wie fruchtbar die Vorstellung für Black war, ein wie hilfreiches Bild sie auch heute noch jedem Lernenden auf dem Blackschen Spezialgebiet ist, bleibende und allgemeine Giltigkeit als Theorie konnte sie nicht in Anspruch nehmen. Das begriftlich Wesentliche derselben aber, die Konstanz der erwähnten Produktensumme, behält seinen Wert, und kann als direkte Beschreibung der Blackschen Tatsachen angesehen werden.

Es ist eine natürliche Sache, daß jene Theorien, welche sich ganz ungesucht von selbst, sozusagen instinktiv, aufdrängen, am mächtigsten wirken, die Gedanken mit sich fortreißen und die stärkste Selbsterhaltung zeigen. Vgl. V, S. 74 und XIV, S. 256. Anderseits kann man auch beobachten, wie sehr dieselben an Kraft verlieren, sobald sie kritisch durchschaut werden. Mit Stoff haben wir unausgesetzt zu tun, dessen Verhalten hat sich unserem Denken fest eingeprägt, unsere lebhaftesten anschaulichsten Erinnerungen knüpfen sich an denselben. So darf es uns nicht allzusehr wundern, daß Robert Mayer und Joule, welche die Blacksche Stoffvorstellung endgiltig vernichtet haben, dieselbe Stoffvorstellung in abstrakterer Form und modifiziert auf einem viel umfassenderen Gebiet wieder einführen.

Auch hier liegen die psychologischen Umstände klar vor uns, welche der neuen Vorstellung ihre Gewalt gegeben haben. Durch die auffallende Röte des venösen Blutes im tropischen Klima wird Mayer aufmerksam auf die geringere Ausgabe an Eigenwärme und den entsprechend geringeren Stoffverbrauch des Menschenleibes in diesem Klima. Allein da jede Leistung des Menschenleibes, auch die mechanische Arbeit, an Stoffverbrauch gebunden ist, und Arbeit durch Reibung Wärme entwickeln kann, so erscheinen Wärme und Arbeit als gleichartig, und zwischen beiden muß eine Proportionalbeziehung bestehen. Zwar nicht jede einzelne Post, aber die passend gezählte Summe beider, als an einen proportionalen Stoffverbrauch gebunden, erscheint selbst substanziell.

Durch ganz analoge Betrachtungen, die an die Ökonomie des galvanischen Elementes anknüpfen, ist Joule zu seiner Auffassung gekommen; er findet auf experimentellem Wege die Summe der Stromwärme, der Verbrennungswärme des entwickelten Knallgases, der passend gezählten elektromagnetischen Stromarbeit, kurz aller Batterieleistungen an die proportionale Zinkkosumtion gebunden. Demnach hat diese Summe selbst substanziellen Charakter.

Mayer wurde von der gewonnenen Ansicht so ergriffen, daß ihm die Unzerstörbarkeit der Kraft, nach unserer Terminologie der Arbeit, a priori einleuchtend schien. »Die Erschaffung und die Vernichtung einer Kraft – sagt er – liegt außer dem Bereich menschlichen Denkens und Wirkens.« Auch Joule äußert sich ähnlich und meint: »Es ist offenbar absurd, anzunehmen, daß die Kräfte, welche Gott der Materie verliehen hat, eher zerstört als geschaffen werden könnten.« Man hat auf Grund solcher Äußerungen merkwürdiger Weise zwar nicht Joule, wohl aber Mayer zu einem Metaphysiker gestempelt. Wir können aber dessen wohl sicher sein, daß beide Männer halb unbewußt nur dem starken formalen Bedürfnis nach der neuen einfachen Auffassung Ausdruck gegeben haben, und daß beide recht betroffen gewesen wären, wenn man ihnen vorgeschlagen hätte, etwa durch einen Philosophenkongreß oder eine kirchliche Synode über die Zulässigkeit ihres Prinzipes entscheiden zu lassen. Diese beiden Männer verhielten sich übrigens bei aller Übereinstimmung höchst verschieden. Während Mayer das formale Bedürfnis mit der größten instinktiven Gewalt des Genies, man möchte sagen mit einer Art von Fanatismus, vertritt, wobei ihm auch die begriffliche Kraft nicht fehlt, vor allen anderen Forschern das mechanische Äquivalent der Wärme aus längst bekannten, allgemein zur Verfügung stehenden Zahlen zu berechnen und ein die ganze Physik und Physiologie umfassendes Programm für die neue Lehre aufzustellen, wendet sich Joule der eingehenden Begründung derselben durch wunderbar angelegte und meisterhaft ausgeführte Experimente auf allen Gebieten der Physik zu. Bald nimmt auch Helmholtz in seiner ganz selbständigen und eigenartigen Weise die Frage in Angriff. Nächst der fachlichen Virtuosität, mit welcher dieser alle noch unerledigten Punkte des Mayerschen Programms und noch andere Aufgaben zu bewältigen weiß, tritt uns hier die volle kritische Klarheit des 26 jährigen Mannes überraschend entgegen. Seiner Darstellung fehlt das Ungestüm, der Impetus der Mayerschen. Ihm ist das Prinzip der Energieerhaltung kein a priori einleuchtender Satz. Was folgt, wenn er besteht? In dieser hypothetischen Frageform bewältigt er seinen Stoff.

Ich muß gestehen, ich habe immer den ästhetischen und ethischen Geschmack mancher unserer Zeitgenossen bewundert, welche aus diesem Verhältnisse gehässige nationale und personale Fragen zu schmieden wußten, anstatt das Glück zu preisen, das mehrere solche Menschen zugleich wirken ließ, und anstatt sich an der so lehrreichen und für uns so fruchtbringenden Verschiedenheit bedeutender intellektueller Individualitäten zu erfreuen.

Wir wissen, daß bei Entwicklung des Energieprinzipes noch eine theoretische Vorstellung wirksam war, von der sich Mayer allerdings ganz frei zu halten wußte, nämlich die, daß die Wärme und auch die übrigen physikalischen Vorgänge auf Bewegung beruhen. Ist einmal das Energieprinzip gefunden, so spielen diese Hilfs- und Durchgangstheorien keine wesentliche Rolle mehr, und wir können das Prinzip, sowie das Blacksche, als einen Beitrag zur direkten Beschreibung eines umfassenden Gebietes von Tatsachen ansehen.

Es möchte nach diesen Betrachtungen nicht nur ratsam, sondern sogar geboten erscheinen, ohne bei der Forschung die wirksame Hilfe theoretischer Ideen zu verschmähen, doch in dem Maße, als man mit den neuen Tatsachen vertraut wird, allmählich an die Stelle der indirekten die direkte Beschreibung treten zu lassen, welche nichts Unwesentliches mehr enthält und sich lediglich auf die begriffliche Fassung der Tatsachen beschränkt. Fast muß man sagen, daß die mit einem gewissen Anflug von Herablassung so genannten beschreibenden Naturwissenschaften an Wissenschaftlichkeit die noch kürzlich sehr üblichen physikalischen Darstellungen überholt haben. Allerdings ist hier mitunter aus der Not eine Tugend geworden.


Wir müssen zugestehen, daß wir außer stande sind, jede Tatsache sofort direkt zu beschreiben. Wir müßten vielmehr mutlos zusammensinken, würde uns der ganze Reichtum der Tatsachen, den wir nach und nach kennen lernen, auf einmal geboten. Glücklicherweise fällt uns zunächst nur Vereinzeltes, Ungewöhnliches auf, welches wir, mit dem Alltäglichen vergleichend, uns näher bringen. Hierbei entwickeln sich die Begriffe der gewöhnlichen Verkehrssprache. Mannigfaltiger und zahlreicher werden dann die Vergleichungen, umfassender die verglichenen Tatsachengebiete, entsprechend allgemeiner und abstrakter die gewonnenen Begriffe, welche die direkte Beschreibung ermöglichen.

Erst wird uns der freie Fall der Körper vertraut. Die Begriffe Kraft, Masse, Arbeit werden in geeigneter Modifikation auf die elektrischen und magnetischen Erscheinungen übertragen. Der Wasserstrom soll Fourier das erste anschauliche Bild für den Wärmestrom geliefert haben. Ein besonderer, von Taylor untersuchter Fall der Saitenschwingung erklärt ihm einen besonderen Fall der Wärmeleitung. Ähnlich wie Dan. Bernoulli und Euler die mannigfaltigsten Saitenschwingungen aus Taylorschen Fällen, setzt Fourier die mannigfaltigsten Wärmebewegungen analog aus einfachen Leitungsfällen zusammen, und diese Methode verbreitet sich über die ganze Physik. Ohm bildet seine Vorstellung vom elektrischen Strom jener Fouriers nach. Dieser schließt sich auch Ficks Theorie der Diffusion an. In analoger Weise entwickelt sich eine Vorstellung vom magnetischen Strom. Alle Arten von stationären Strömungen lassen nun gemeinsame Züge erkennen, und selbst der volle Gleichgewichtszustand in einem ausgedehnten Medium teilt diese Züge mit dem dynamischen Gleichgewichtszustand, der stationären Strömung. So weit abliegende Dinge wie die magnetischen Kraftlinien eines elektrischen Stromes und die Stromlinien eines reibungslosen Flüssigkeitswirbels treten dadurch in ein eigentümliches Ähnlichkeitsverhältnis. Der Begriff Potential, ursprünglich für ein engbegrenztes Gebiet aufgestellt, nimmt eine umfassende Anwendbarkeit an. An sich so unähnliche Dinge wie Druck, Temperatur, elektromotorische Kraft zeigen nun doch eine Übereinstimmung in ihrem Verhältnis zu den daraus in bestimmter Weise abgeleiteten Begriffen: Druckgefälle, Temperaturgefälle, Potentialgefälle und zu den ferneren: Flüssigkeits-, Wärme-, elektrische Stromstärke. Eine solche Beziehung von Begriffssystemen, in welcher sowohl die Unähnlichkeit je zweier homologer Begriffe als auch die Übereinstimmung in den logischen Verhältnissen je zweier homologer Begriffspaare zum klaren Bewußtsein kommt, pflegen wir eine Analogie zu nennen. Dieselbe ist ein wirksames Mittel, heterogene Tatsachengebiete durch einheitliche Auffassung zu bewältigen. Es zeigt sich hier deutlich der Weg, auf dem sich eine allgemeine, alle Gebiete umfassende physikalische Phänomenologie entwickeln wird.

Bei dem geschilderten Vorgang gewinnen wir nun erst dasjenige, was zur direkten Beschreibung größer Tatsachengebiete unentbehrlich ist, den weitreichenden abstrakten Begriff. Und da muß ich mir die schulmeisterliche, aber unerläßliche Frage erlauben: Was ist ein Begriff? Ist derselbe eine verschwommene, aber doch immer noch anschauliche Vorstellung? Nein! Nur in den einfachsten Fällen wird sich diese als Begleiterscheinung einstellen. Man denke etwa an den Begriff » Selbstinduktionskoeffizent« und suche nach der anschaulichen Vorstellung. Oder ist der Begriff etwa ein bloßes Wort? Die Annahme dieses verzweifelten Gedankens, der kürzlich von geachteter mathematischer Seite Paul du Bois-Reymond, über die Grundlagen der Erkenntnis. Tübingen 1890, S. 80. wirklich geäußert worden ist, würde uns nur um ein Jahrtausend zurück in die tiefste Scholastik stürzen. Wir müssen denselben also ablehnen.

Die Aufklärung liegt nahe. Wir dürfen nicht denken, daß die Empfindung ein rein passiver Vorgang ist Die niedersten Organismen antworten auf dieselbe mit einer einfachen Reflexbewegung, indem sie die herankommende Beute verschlingen. Bei höheren Organismen findet der centripetale Reiz im Nervensystem Hemmungen und Förderungen, welche den centrifugalen Prozeß modifizieren. Bei noch höheren Organismen kann – bei Prüfung und Verfolgung der Beute – der berührte Prozeß eine ganze Reihe von Cirkelbewegungen durchlaufen, bevor derselbe zu einem relativen Stillstand gelangt. Auch unser Leben spielt sich in analogen Prozessen ab, und alles, was wir Wissenschaft nennen, können wir als Teile, als Zwischenglieder solcher Prozesse ansehen.

Es wird nun nicht mehr befremden, wenn ich sage: Die Definition eines Begriffes, und, falls sie geläufig ist, schon der Name des Begriffes, ist ein Impuls zu einer genau bestimmten, oft komplizierten, prüfenden, vergleichenden oder konstruierenden Tätigkeit, deren meist sinnliches Ergebnis ein Glied des Begriffsumfangs ist. Es kommt nicht darauf an, ob der Begriff nur die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Sinn (Gesicht) oder die Seite eines Sinnes (Farbe, Form) hinlenkt, oder eine umständliche Handlung auslöst, ferner auch nicht darauf, ob die Tätigkeit (chemische, anatomische, mathematische Operation) muskulär, oder gar technisch, oder endlich nur in der Phantasie ausgeführt, oder gar nur angedeutet wird. Der Begriff ist für den Naturforscher, was die Note für den Klavierspieler. Der geübte Mathematiker oder Physiker liest eine Abhandlung so, wie der Musiker eine Partitur liest. So wie aber der Klavierspieler seine Finger einzeln und kombiniert erst bewegen lernen muß, um dann der Note fast unbewußt Folge zu leisten, so muß auch der Physiker und Mathematiker eine lange Lehrzeit durchmachen, bevor er die mannigfaltigen feinen Innervationen seiner Muskeln und seiner Phantasie, wenn ich so sagen darf, beherrscht. Wie oft führt der Anfänger in Mathematik oder Physik anderes, mehr oder weniger aus, als er soll, oder stellt sich anderes vor. Trifft er aber nach der nötigen Übung auf den » Selbstinduktionskoeffizienten«, so weiß er sofort, was das Wort von ihm will. Wohlgeübte Tätigkeiten, die sich aus der Notwendigkeit der Vergleichung und Darstellung der Tatsachen durch einander ergeben haben, sind also der Kern der Begriffe. Will ja auch sowohl die positive wie die philosophische Sprachforschung gefunden haben, daß alle Wurzeln durchaus Begriffe, und ursprünglich durchaus nur muskuläre Tätigkeiten bedeuten. Und nun wird uns auch die zögernde Zustimmung der Physiker zu Kirchhoffs Satz verständlich. Die konnten ja fühlen, was alles an Einzelarbeit, Einzeltheorie und Fertigkeit erworben sein muß, bevor das Ideal der direkten Beschreibung verwirklicht werden kann.


Es sei nun das Ideal für ein Tatsachengebiet erreicht. Leistet die Beschreibung alles, was der Forscher verlangen kann? Ich glaube ja! Die Beschreibung ist ein Aufbau der Tatsachen in Gedanken, welcher in den experimentellen Wissenschaften oft die Möglichkeit einer wirklichen Darstellung begründet. Für den Physiker insbesondere sind die Maßeinheiten die Bausteine, die Begriffe die Bauanweisung, die Tatsachen das Bauergebnis. Unser Gedankengebilde ist uns ein fast vollständiger Ersatz der Tatsache, an welchem wir alle Eigenschaften derselben ermitteln können. Nicht am schlechtesten kennen wir das, was wir selbst herzustellen wissen.

Man verlangt von der Wissenschaft, daß sie zu prophezeien verstehe, und auch Hertz gebraucht diesen Ausdruck in seiner nachgelassenen Mechanik. Der Ausdruck, obgleich naheliegend, ist jedoch zu eng. Der Geologe, Paläontologe, zuweilen der Astronom, immer der Historiker, Kulturforscher, Sprachforscher prophezeien, sozusagen, nach rückwärts. Die deskriptiven Wissenschaften, ebenso wie die Geometrie, die Mathematik prophezeien nicht vor- und nicht rückwärts, sondern suchen zu den Bedingungen das Bedingte. Sagen wir lieber: Die Wissenschaft hat teilweise vorliegende Tatsachen in Gedanken zu ergänzen. Dies wird durch die Beschreibung ermöglicht, denn diese setzt Abhängigkeit der beschreibenden Elemente von einander voraus, da ja sonst nichts beschrieben wäre.

Man sagt, daß die Beschreibung das Kausalitätsbedürfnis unbefriedigt läßt. Wirklich glaubt man Bewegungen besser zu verstehen, wenn man sich die ziehenden Kräfte vorstellt, und doch leisten die tatsächlichen Beschleunigungen mehr, ohne Überflüssiges einzuführen. Ich hoffe, daß die künftige Naturwissenschaft die Begriffe Ursache und Wirkung, die wohl nicht für mich allein einen starken Zug von Fetischismus haben, ihrer formalen Unklarheit wegen beseitigen wird. Es empfiehlt sich vielmehr, die begrifflichen Bestimmungselemente einer Tatsache als abhängig von einander anzusehen, einfach in dem rein logischen Sinne, wie dies der Mathematiker, etwa der Geometer, tut. Die Kräfte treten uns ja durch Vergleich mit dem Willen näher; vielleicht wird aber der Wille noch klarer durch den Vergleich mit der Massenbeschleunigung.

Fragen wir uns aufs Gewissen, wann uns eine Tatsache klar ist, so müssen wir sagen, dann, wenn wir dieselbe durch recht einfache, uns geläufige Gedankenoperationen, etwa Bildung von Beschleunigungen, geometrische Summation derselben u. s. w., nachbilden können. Diese Anforderung an die Einfachheit ist selbstredend für den Sachkundigen eine andere, als für den Anfänger. Ersterem genügt die Beschreibung durch ein System von Differentialgleichungen, während letzterer den allmählichen Aufbau aus Elementargesetzen fordert. Ersterer durchschaut sofort den Zusammenhang beider Darstellungen. Es soll natürlich nicht in Abrede gestellt werden, daß, sozusagen, der künstlerische Wert sachlich gleichwertiger Beschreibungen ein sehr verschiedener sein kann.

Am schwersten werden Fernerstehende zu überzeugen sein, daß die großen allgemeinen Gesetze der Physik für beliebige Massensysteme, elektrische, magnetische Systeme u. s. w. von Beschreibungen nicht wesentlich verschieden seien. Die Physik befindet sich da vielen Wissenschaften gegenüber in einem leicht darzulegenden Vorteil. Wenn z. B. ein Anatom, die übereinstimmenden und unterscheidenden Merkmale der Tiere aufsuchend, zu einer immer feineren und feineren Klassifikation gelangt, so sind die einzelnen Tatsachen, welche die letzten Glieder des Systems darstellen, doch so verschieden, daß dieselben einzeln gemerkt werden müssen. Man denke z. B. an die gemeinsamen Merkmale der Wirbeltiere, die Klassencharaktere der Säuger und Vögel einerseits, der Fische anderseits, an den doppelten Blutkreislauf einerseits, den einfachen anderseits. Es bleiben schließlich immer isolierte Tatsachen übrig, die unter einander nur eine geringe Ähnlichkeit aufweisen.

Eine der Physik viel verwandtere Wissenschaft, die Chemie, befindet sich oft in einer ähnlichen Lage. Die sprungweise Änderung der qualitativen Eigenschaften, die vielleicht durch die geringe Stabilität der Zwischenzustände bedingt ist, die geringe Ähnlichkeit der koordinierten Tatsachen der Chemie, erschweren die Behandlung. Körperpaare von verschiedenen qualitativen Eigenschaften verbinden sich in verschiedenen Massenverhältnissen; ein Zusammenhang zwischen ersteren und letzteren ist aber zunächst nicht wahrzunehmen.

Die Physik hingegen zeigt uns ganze große Gebiete qualitativ gleichartiger Tatsachen, die sich nur durch die Zahl der gleichen Teile, in welche deren Merkmale zerlegbar sind, also nur quantitativ unterscheiden. Auch wo wir mit Qualitäten (Farben und Tönen) zu tun haben, stehen uns quantitative Merkmale derselben zur Verfügung. Hier ist die Klassifikation eine so einfache Aufgabe, daß sie als solche meist gar nicht zum Bewußtsein kommt, und selbst bei unendlich feinen Abstufungen, bei einem Kontinuum von Tatsachen, liegt das Zahlensystem im voraus bereit, beliebig weit zu folgen. Die koordinierten Tatsachen sind hier sehr ähnlich und verwandt, ebenso deren Beschreibungen, welche in einer Bestimmung der Maßzahlen gewisser Merkmale durch jene anderer Merkmale mittels geläufiger Rechnungsoperationen, d. i. Ableitungsprozesse bestehen. Hier kann also das Gemeinsame aller Beschreibungen gefunden, damit eine zusammenfassende Beschreibung oder eine Herstellungsregel für alle Einzelbeschreibungen angegeben werden, die wir eben das Gesetb nennen. Allgemein bekannte Beispiele sind die Formeln für den freien Fall, den Wurf, die Centralbewegung u. s. w. Leistet also die Physik mit ihren Methoden scheinbar so viel mehr, als andere Wissenschaften, so müssen wir anderseits bedenken, daß dieselbe in gewissem Sinne auch weitaus einfachere Aufgaben vorfindet.

Die übrigen Wissenschaften, deren Tatsachen ja auch eine physikalische Seite darbieten, werden die Physik um diese günstigere Stellung nicht zu beneiden haben, denn deren ganzer Erwerb kommt schließlich ihnen wieder zu gut. Aber auch auf andere Weise kann und soll sich dieses Leistungsverhältnis ändern. Die Chemie hat es ganz wohl verstanden, sich der Methoden der Physik in ihrer Art zu bemächtigen. Von älteren Versuchen abgesehen, sind die periodischen Reihen von L. Meyer und Mendelejeff ein geniales und erfolgreiches Mittel, ein übersichtliches System von Tatsachen herzustellen, welches, sich allmählich vervollständigend, fast ein Kontinuum von Tatsachen ersetzen wird. Und durch das Studium der Lösungen, der Dissoziation, überhaupt der Vorgänge, welche wirklich ein Kontinuum von Fällen darbieten, haben die Methoden der Thermodynamik Eingang in die Chemie gefunden. So dürfen wir auch hoffen, daß vielleicht einmal ein Mathematiker, welcher das Tatsachenkontinuum der Embryologie auf sich wirken läßt, dem die Paläontologen der Zukunft vielleicht mehr Schaltformen und Abzweigungsformen zwischen dem Saurier der Vorwelt und dem Vogel der Gegenwart vorführen können, als dies jetzt mit dem vereinzelten Pterodaktylus, Archaeopteryx, Ichthyornis u. s. w. geschieht, daß dieser uns durch Variation einiger Parameter wie in einem flüssigen Nebelbild die eine Form in die andere überführt, so wie wir einen Kegelschnitt in den andern umwandeln. Dieser Mathematiker hat sich recht bald in der Person des genialen, weit über sein F«ach ausblickenden Astronomen Schiaparelli gefunden. Vgl. J. V. Schiaparelli, Studio comparativo tra le forme organiche naturali e le forme geometriche pure. U. Hoepli. Milano 1898. – 1902.


Denken wir nun an Kirchhoffs Worte zurück, so werden wir uns über deren Bedeutung leicht verständigen. Gebaut kann nicht werden ohne Bausteine, Mörtel, Gerüst und Baufertigkeit. Doch aber ist der Wunsch wohlbegründet, den fertigen, nun auf sich beruhenden Bau dem künftigen Geschlecht ohne Verunstaltung durch das Gerüst zu zeigen. Es ist der reine logisch-ästhetische Sinn des Mathematikers, der aus Kirchhoff spricht. Seinem Ideal streben neuere Darstellungen der Physik wirklich zu, und dasselbe ist auch uns verständlich. Ein schlechtes didaktisches Kunststück aber wäre es allerdings, wollte man Baumeister bilden, indem man sagt: Sieh hier einen Prachtbau, willst du auch bauen, so gehe hin, und tue desgleichen.

Die Schranken zwischen Fach und Fach, welche Arbeitsteilung und Vertiefung ermöglichen, und die uns doch so frostig und philisterhaft anmuten, werden allmählich schwinden. Brücke auf Brücke wird geschlagen. Inhalt und Methoden selbst der abliegendsten Fächer treten in Vergleichung. Wenn nach 100 Jahren die Naturforscherversammlung einmal tagt, dürfen wir erwarten, daß sie in höherem Sinne als heute eine Einheit darstellen wird, nicht nur der Gesinnung und dem Ziele, sondern auch der Methode nach. Fördernd für diese Wandlung muß es aber sein, wenn wir uns die innere Verwandtschaft aller Forschung gegenwärtig halten, welche Kirchhoff mit so klassischer Einfachheit zu bezeichnen wußte.


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