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Aus Eders Jahrbuch für Photographie (1888) zur Erläuterung der Artikel V und VI abgedruckt.
Es wird nicht bestritten, daß alle wissenschaftliche Erkenntnis von der sinnlichen Anschauung ausgeht. Und in welcher Weise die sinnliche Anschauung durch die graphischen Künste überhaupt, insbesondere durch die Photographie (mit Einschluß der Stereoskopie) unterstützt wird, braucht hier ebenfalls nicht weiter auseinander gesetzt zu werden.
Aber die Kraft der sinnlichen Anschauung kann durch die graphischen Künste noch sehr gesteigert und der Spielraum derselben noch bedeutend erweitert werden. Wenn wir eine große Anzahl physikalischer Beobachtungsdaten gesammelt haben, so haben wir dieselben allerdings aus der direkten sinnlichen Anschauung geschöpft, allein dieselbe mußte am Einzelnen haften bleiben. Wie groß ist dagegen der Reichtum, die Weite, die Verdichtung der Anschauung, wenn wir die Gesamtheit der Beobachtungsdaten durch eine Kurve darstellen!
Und wie sehr wird hierdurch die intellektuelle Verwertung erleichtert! Registrierapparate und Registriermethoden werden in der Physik, in der Meteorologie, ja fast in allen Naturwissenschaften angewandt und vielfach findet die Photographie hierbei ihre Verwertung. Wie viel insbesondere Marey zur Entwicklung der Registriermethoden beigetragen hat, ist allgemein bekannt.
Selbst in Fällen, in welchen die unmittelbare sinnliche Anschauung gar nichts zu leisten vermag, können für dieselbe und für die graphischen Künste durch entsprechende Mittel neue Gebiete eröffnet werden. Das Mikroskop und seine Leistungen, welche wesentlich auf dem Prinzip der Raumvergrößerung beruhen, werden allgemein bewundert. Seltener denkt man daran, wie wichtig auch das entgegengesetzte Prinzip ist, das der Raumverkleinerung. Zu einer klaren Vorstellung der Verteilung von Land und Meer auf unserer Erde, würden wir wohl durch unmittelbare sinnliche Anschauung, durch die weitesten Reisen niemals gelangen, einfach weil das Objekt für unser Gesichtsfeld zu groß, stets eine nur schwerfällige intellektuelle Zusammenfassung der einzelnen Teile zu einem Ganzen zuläßt. Die Karte drängt das Bild der ganzen Erde in unser Gesichtsfeld zusammen. Was ist die geographische Beschreibung Libyens durch einen Augenzeugen, durch Herodot, gegen die Vorstellung eines Schulknaben, der die Karte von Afrika gegenwärtig hat!
Die einzelnen Phasen einer Bewegung, die für unsere unmittelbare Anschauung zu rasch verläuft, fixieren wir durch Momentphotographie und können dann dieselben in beliebig langsamer Folge unserer Anschauung vorführen. Die Leistungen von Anschütz, die Analyse des Vogelflugs durch Marey, die Momentbilder von fliegenden Projektilen samt den eingeleiteten Luftbewegungen, sind passende Beispiele und erläutern das Prinzip der Zeitvergrößerung, welches in diesen Fällen zur Anwendung kommt.
Hat man mit periodischen Bewegungen zu tun, so kann man die sogenannte stroboskopische Methode anwenden, welche ebenfalls auf dem Prinzip der Zeitvergrößerung beruht und selbstverständlich auch Verwertung der Photographie zuläßt. Die Bewegungen einer schwingenden Stimmgabel G von z. B. 100 Schwingungen per Sekunde lassen sich wegen der zu großen Geschwindigkeit nicht direkt beobachten. Blicken wir aber auf die Gabel durch eine rotierende Scheibe S, welche 100 Spalten per Sekunde vor dem Auge vorbeiführt, so sehen wir die Gabel immer nach Ablauf einer Schwingung immer in derselben Phase, also scheinbar ruhig. Gehen aber nur 99 Spalten per Sekunde am Auge vorbei, so führt die Gabel, während 1 und 2 ihren Platz tauschen, eine Schwingung und fast noch 1/100 mehr (genau 1/99) aus. Beim Blick durch die Spalte 3 ist die Gabel um 2/99 einer Schwingung vorgeschritten u. s. w., so daß nach dem Vorbeigang von 99 Spalten (die erste nicht gerechnet), also in einer Sekunde, die Stimmgabel genau eine scheinbare Schwingung ausgeführt hat, während sie in Wirklichkeit 100 vollführt hat. Die Zeit ist also für den Beobachter 100 mal vergrößert. Es ist dem Fachmann gegenüber unnötig auseinander zusetzen, wie nach dem stroboskopischen Verfahren Momentbilder gewonnen werden können, die in einer stroboskopischen Trommel zur langsamen Reproduktion einer ihrer Schnelligkeit wegen direkt unwahrnehmbaren Bewegung verwendbar sind. (Vergl. Mach, optisch-akustische Versuche. Die spektrale und stroboskopische Untersuchung tönender Körper. Prag, Calve 1873.)
Sollte nicht auch das Prinzip der Zeitverkleinerung von Wert sein? In der Tat, denken wir uns die Wachstumsstadien einer Pflanze, Praktisch ausgeführt wurde der Versuch, das Wachstum einer Pflanze in dieser Weise darzustellen, von meinem Sohne Med. Dr. Ludwig Mach. Vgl. dessen Artikel: Über das Princip der Zeitverkürzung in der Serienphotographie«. Scoliks photogr. Rundschau, April 1893.) – 1902. die Entwicklungsstadien eines Embryo, die Glieder des Darwinschen Stammbaumes der Tierreihe photographisch fixiert und in einer raschen Folge sich verdrängender »Nebelbilder« vorgeführt! Welchen auch intellektuell stärkenden Eindruck müßte das hervorbringen! Die Bilder eines Menschen von der Wiege an, in seiner aufsteigenden Entwicklung und dann in seinem Verfall bis ins Greisenalter in wenigen Sekunden so vorgeführt, müßten ästhetisch und ethisch großartig wirken.
Daß uns dabei auch neue Einsichten aufleuchten würden, ist kaum zu bezweifeln. Wäre denn ein Kepler nötig gewesen, zu erraten, daß die Planeten in Ellipsen um die Sonne sich bewegen, wenn diese Bewegung räumlich und zeitlich verkleinert, sozusagen im Modell, anschaulich vorgelegen hätte? Freilich war diese Erkenntnis schwieriger aus einzelnen Beobachtungsdaten stückweise intellektuell zusammen zu setzen.
Vielleicht tragen diese Bemerkungen dazu bei, die Überzeugung zu befestigen, daß die hier berührten Fragen nicht allein von praktischem und industriellem, sondern auch von philosophischem Interesse sind.