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Die nachfolgenden Ausführungen sind im wesentlichen dem Entwurf eines Vortrages entnommen, welchen ich 1881 auf der Naturforscherversammlung zu Salzburg hätte halten sollen, der aber wegen Kollision mit der Pariser Ausstellung nicht zu stande kam. In der Einleitung zu meinen 1883 gehaltenen Vorlesungen »über den physikalischen Unterricht an der Mittelschule« kam ich nochmals auf denselben Stoff zurück, doch gab mir erst die freundliche Einladung des deutschen Realschulmännervereins Gelegenheit, meine Gedanken vor einem weiteren Kreise in der Versammlung zu Dortmund am 16. April 1886 darzulegen. Dieser äußere Anlaß, ohne welchen es zu einer Publikation wohl nicht gekommen wäre, bringt es auch mit sich, daß meine Ausführungen zunächst nur die
deutschen Schulen betreffen, und daß sie auf die
österreichischen nicht ohne die übrigen naheliegenden Modifikationen zu übertragen sind.
Indem ich hier einer starken und vor langer Zeit gefaßten persönlichen Überzeugung Ausdruck gebe, kann es mir nur willkommen sein, daß dieselbe vielfach zu den Ansichten stimmt, die
Paulsen (Geschichte des gelehrten Unterrichts, Leipzig 1885) und
Frary (la question du latin, Paris Cerf. 1885) in ihrer Weise dargelegt haben. Es kommt mir hier durchaus nicht darauf an, viel Neues zu sagen, sondern vielmehr darauf, nach meinen Kräften zur Einleitung der unausbleiblichen Bewegung auf dem Gebiete des Schulwesens beizutragen. Diese Bewegung wird nach der Ansicht erfahrener Schulmänner zunächst dazu führen, das
Griechische einerseits und die
Mathematik anderseits für
akultative Unterrichtsgegenstände der Oberklassen des Gymnasiums zu erklären. (Vergl. Anm. S. 343 die vorzüglichen Einrichtungen in Dänemark.) Die eigentliche Kluft zwischen dem humanistischen Gymnasium und dem (deutschen) Realgymnasium wäre hierdurch überbrückt, und die übrigen unvermeidlichen Wandlungen würden sich dann relativ ruhig und lautlos vollziehen. Prag, im Mai 1886.
Zu den wunderlichsten Vorschlägen, deren Ausführung Maupertuis, Maupertuis, Oeuvres. Dresden 1752. S. 339. der bekannte Präsident der Berliner Akademie, seinen Zeitgenossen ans Herz gelegt hat, gehört wohl jener der Gründung einer Stadt, in welcher (zum Nutzen und zur Ausbildung der studierenden Jugend) ausschließlich lateinisch gesprochen werden sollte. Diese lateinische Stadt ist ein frommer Wunsch geblieben. Doch bestehen seit Jahrhunderten lateinisch-griechische Häuser, in welchen unsere Kinder einen guten Teil ihrer Tage verbringen, und deren Atmosphäre sie auch außerhalb dieser Zeit unausgesetzt umgibt.
Seit Jahrhunderten wird der Unterricht in den antiken Sprachen gepflegt. Seit Jahrhunderten wird die Notwendigkeit desselben von einer Seite behauptet, von der andern bestritten. Energischer als je erheben sich jetzt wieder bedeutende Stimmen gegen das Übergewicht des Unterrichtes in den alten Sprachen und für eine mehr zeitgemäße Erziehung, namentlich für eine ausgiebigere Berücksichtigung der Mathematik und der Naturwissenschaften.
Wenn ich nun, freundlicher und ehrenvoller Aufforderung folgend, hier über den relativen Bildungswert der philologischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer der höheren Schulen spreche, so sehe ich die Rechtfertigung hierfür in der Pflicht und der Notwendigkeit für jeden Lehrenden, sich nach seinen Erfahrungen über diese wichtige Frage eine Meinung zu bilden, und etwa noch in dem besonderen Umstande, daß ich selbst in meiner Jugend nur kurze Zeit (unmittelbar vor dem Übertritt auf die Universität) dem Einflusse einer öffentlichen Schule ausgesetzt war, somit die Wirkung sehr verschiedener Unterrichtsweisen an mir selbst beobachten konnte.
Indem wir nun daran gehen, zu überschauen, was die Vertreter des philologischen Unterrichtes zu gunsten desselben anführen, und was die naturwissenschaftlichen Fächer dagegen für sich geltend machen können, befinden wir uns den ersteren Argumenten gegenüber in einiger Verlegenheit. Denn sehr verschieden waren diese zu verschiedenen Zeiten, und auch heute sind sie sehr mannigfaltig, wie es nicht anders sein kann, wenn man für etwas Bestehendes, das man eben um jeden Preis halten will, alles anführt, was sich nur auftreiben läßt. Wir werden manches finden, was ersichtlich nur ausgesprochen wurde, um dem Nichtwissenden zu imponieren, manches wieder, was in redlichster Absicht vorgebracht, auch der tatsächlichen Begründung nicht ganz entbehrt. Eine leidliche Übersicht der berührten Argumente erhalten wir, wenn wir zuerst diejenigen betrachten, welche sich an die historischen Umstände der Einführung des philologischen Unterrichtes knüpfen, nachher jene, die sich wie zufällige spätere neue Funde hinzugesellten.
Der Lateinunterricht wurde, wie dies Paulsen F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts. Leipzig 1885. eingehend dargelegt hat, durch die römische Kirche mit dem christlichen Glauben eingeführt. Mit der lateinischen Sprache zugleich wurden die spärlichen und dürftigen Überreste der antiken Wissenschaft überliefert. Wer sich diese Bildung – damals die einzige nennenswerte – erwerben wollte, für den war die lateinische Sprache das einzige und notwendige Mittel; er mußte lateinisch lernen, um zu den Gebildeten zu zählen.
Der große Einfluß der römischen Kirche hat mancherlei Wirkungen hervorgebracht. Zu den jedermann willkommenen Wirkungen rechnen wir wohl ohne Widerspruch die Herstellung einer gewissen Uniformität unter den Völkern, eines internationalen Verkehrs durch die lateinische Sprache, der das Zusammenarbeiten der Völker an der gemeinsamen Kulturaufgabe im 15.–18. Jahrhundert wesentlich gefördert hat. Lange war so die lateinische Sprache die Gelehrtensprache und der Lateinunterricht der Weg zur allgemeinen Bildung, welches Schlagwort noch immer festgehalten wird, obgleich es längst nicht mehr paßt.
Für den Gelehrtenstand als solchen mag es bedauerlich bleiben, daß die lateinische Sprache aufgehört hat, das allgemeine internationale Verkehrsmittel zu sein. Wenn man aber die Unhaltbarkeit der lateinischen Sprache in dieser Funktion durch ihre Unfähigkeit zu erklären versucht, den vielen neuen Gedanken und Begriffen zu folgen, welche im Entwicklungsgange der Wissenschaft sich ergeben haben, so halte ich diese Auffassung entschieden für falsch. Nicht leicht hat ein moderner Forscher die Naturwissenschaft mit so vielen neuen Begriffen bereichert wie Newton, und doch wußte er dieselben ganz korrekt und scharf in lateinischer Sprache zu bezeichnen. Wäre die erwähnte Auffassung richtig, so würde sie eben auch für jede lebende Sprache gelten. Jede Sprache muß sich neuen Ideen erst anpassen.
Viel eher dürfte die lateinische Sprache durch den Einfluß des Adels, der bequemen vornehmen Herren, aus der wissenschaftlichen Litteratur verdrängt worden sein. Indem diese Herren die Ergebnisse der schönen und wissenschaftlichen Litteratur mitgenießen wollten, ohne das schwerfällige Mittel der lateinischen Sprache, erwiesen sie aber auch dem Volke einen wesentlichen Dienst. Denn mit der Beschränkung der Kenntnis der gelehrten Litteratur auf eine
Kaste war es nun vorbei, und darin liegt vielleicht der
wichtigste moderne Fortschritt. Niemand wird nun heute, nachdem der internationale Verkehr sich auch trotz der Mehrheit der modernen Kultursprachen erhalten und gesteigert hat, an Wiedereinführung der lateinischen Sprache denken.
Es liegt eine eigentümliche Ironie des Schicksals darin, daß, während Leibniz nach einem
neuen universellen sprachlichen Verkehrsmittel suchte, die lateinische Sprache, welche diesem Zweck noch am besten genügte, mehr und mehr außer Gebrauch kam, und daß gerade Leibniz selbst nicht am wenigsten dazu beigetragen hat.
[Auf den wissenschaftlichen Kongressen, welche 1900 zu Paris getagt haben, ist das lebhafte Bedürfnis nach einem internationalen Verständigungsmittel lebhaft empfunden worden, und hat zur Bildung der »Délégation pour l'Adoption d'une langue auxiliaire internationale« geführt, welche diese Aufgabe zu lösen hofft. Vgl. L.
Couturat, »über die internationale Hilfssprache« in
Ostwalds Annalen der Naturphilosophie Bd. I 1902].
Wie sehr auch die antiken Sprachen die Fähigkeit besitzen, neuen Begriffen zu folgen, ergibt sich aus dem Umstande, daß die überwiegende Mehrzahl unserer wissenschaftlichen Begriffe als Überlebsel aus jener Zeit des lateinischen internationalen Verkehrs lateinische und griechische Bezeichnungen tragen, und noch vielfach neu erhalten. Wollte man aber aus der Existenz und dem Gebrauch solcher Termini die Notwendigkeit ableiten, auch heute noch lateinisch und griechisch zu lernen, für jeden, der sie gebraucht, so müßte diese Folgerung doch als eine sehr weitgehende erscheinen. Alle Bezeichnungen, ob sie passend oder unpassend sind – und es gibt in der Wissenschaft genug unpassende und ungeheuerliche – beruhen auf Übereinkunft. Daß man an das Zeichen genau die bezeichnete Vorstellung knüpfe, darauf kommt es an. Es wird wenig daran liegen, ob jemand das Wort: Telegraph, Tangente, Ellipse, Evolute u. s. w. philologisch richtig ableiten kann, wenn ihm nur beim Gebrauch des Wortes der richtige Begriff gegenwärtig ist. Kennt er anderseits die Ableitung noch so gut, so nützt ihm dieselbe gar nichts ohne die richtige Vorstellung. Man versuche doch, sich von einem guten Durchschnittsphilologen einige Zeilen aus Newtons »Prinzipien« oder aus Huygens' »Horologium« übersetzen zu lassen, und man wird sofort sehen, welche höchst untergeordnete Rolle in diesen Dingen die bloße Sprachkenntnis spielt. Jeder Name bleibt eben ein Schall ohne den zugehörigen Gedanken. Die Mode lateinische und griechische Termini zu verwenden – denn nicht anders kann man's nennen – hat ihren natürlichen historischen Grund, sie konnte auch nicht plötzlich verschwinden, ist aber schon sehr im Abnehmen begriffen. Die Bezeichnungen: Gas, Ohm, Ampère, Volt u. s. w. sind auch international, aber nicht mehr lateinisch und griechisch. Von einer Notwendigkeit Lateinisch oder Griechisch zu lernen aus dem angeführten Grunde, noch dazu mit einem Zeitaufwand von 8–10 Jahren, kann doch nur der sprechen, welcher die gleichgültige und zufällige Hülle für wichtiger hält, als den sachlichen Inhalt. Kann denn über solche Dinge nicht ein Wörterbuch in wenigen Sekunden Aufschluß geben? Es wird überhaupt dadurch viel gesündigt, daß man das menschliche Hirn mißbraucht, und mit Dingen belastet, welche viel zweckmäßiger und besser in Büchern verwahrt bleiben, wo man sie jederzeit finden kann. – Herr Amtsrichter Hartwich (aus Düsseldorf; schrieb mir jüngst: »Eine Menge Wörter sind sogar noch vollkommen lateinisch oder griechisch und werden von an und für sich sehr gebildeten Leuten, die aber zufällig die alten Sprachen nicht erlernt haben, mit vollem Verständnis angewandt: so z. B. das Wort »Dynastie« ...« Das Kind, respektive der Mensch, erlernt solche Wörter als Bestandteile des » Sprachschatzes«, gleichsam als Teile der Muttersprache, gerade so wie die Worte »Vater, Mutter, Brot, Milch«. Weiß denn ein gewöhnlicher Sterblicher die Etymologie dieser deutschen Worte? Bedurfte es nicht der fast unglaublichen Arbeitskraft der Gebrüder Grimm, um wenigstens einiges Licht in das Werden und Wachsen unserer Muttersprache zu bringen? – Und bedienen sich nicht jeden Augenblick unzählige sogenannte humanistisch Gebildete einer Menge von Fremdwörtern, deren Ursprung sie nicht kennen? Nur wenige halten es der Mühe wert, im Fremdwörterbuch nachzuschlagen, obgleich sie mit Vorliebe behaupten, man müßte die alten Sprachen »schon der Etymologie wegen« erlernen.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß unsere moderne Kultur an die antike angeknüpft hat, daß dies sogar mehrmals stattgefunden hat, daß vor Jahrhunderten die Überreste der antiken Kultur die einzige überhaupt in Europa vorhandene Kultur darstellten. Damals war gewiß die philologische Bildung die allgemeine Bildung, die höhere Bildung, die ideale Bildung, denn sie war die einzige Bildung. Wenn aber jetzt für dieselbe noch der gleiche Anspruch erhoben wird, so muß dieser als durchaus ungerechtfertigt mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Denn unsere Kultur ist doch allmählichn eine ganz selbständige geworden; sie hat sich weit über die antike erhoben, und überhaupt eine ganz neue Richtung eingeschlagen. Ihr Schwerpunkt liegt in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Aufklärung, die nicht nur die Technik, sondern nach und nach alle Gebiete, selbst die philosophischen und historischen Wissenschaften, die Sozial- und Sprachwissenschaften durchdringt. Was an Spuren antiker Anschauungen in der Philosophie, im Rechtsleben, in Kunst und Wissenschaft noch zu finden ist, wirkt mehr hemmend als fördernd, und wird sich gegenüber der Entwicklung unserer eigenen Ansichten auf die Dauer nicht halten können.
Es steht also den Philologen schlecht an, wenn sie sich noch immer für die vorzugsweise Gebildeten halten, wenn sie jeden, der nicht Lateinisch und Griechisch versteht, für ungebildet erklären, sich darüber beschweren, daß man mit ihm kein Gespräch führen könne u. s. w. Die ergötzlichsten Geschichten werden da als Beleg der mangelhaften Bildung mancher Naturforscher und Techniker in Umlauf gesetzt. Ein namhafter Naturforscher z. B. soll ein Collegium publicum mit der Bezeichnung »frustra« angekündigt, ein Insekten sammelnder Ingenieur erzählt haben, daß er »Etymologie« treibe. Es ist richtig, ähnliche Vorkommnisse verursachen uns, je nach Stimmung oder Naturell, eine Gänsehaut oder eine heftige Erschütterung der Lachmuskel. Im nächsten Augenblicke müssen wir uns aber doch sagen, daß wir da nur einem kindischen Vorurteil unterlegen sind. Ein Mangel an Takt allerdings, nicht aber ein Mangel an Bildung, spricht sich in dem Gebrauch solcher halbverstandener Bezeichnungen aus. Jeder, der aufrichtig ist, wird eingestehen, daß manches Gebiet existiert, über welches er besser schweigt. Wir wollen auch nicht so boshaft sein, den Spieß umzudrehen, und hier die Frage zu erörtern, welchen Eindruck etwa die Philologen auf den Naturforscher oder Ingenieur machen, wenn von Naturwissenschaft die Rede ist? Ob sich da nicht manche sehr heitere Geschichte ergeben würde, zugleich von tief ernster Bedeutung, welche die mitgeteilten mehr als kompensieren möchte?
Diese gegenseitige Härte des Urteils, auf die wir da gestoßen sind, kann uns übrigens zum Bewußtsein bringen, wie wenig verbreitet noch eine wirkliche allgemeine Bildung ist. Es liegt in dieser Urteilsweise etwas von dem beschränkten mittelalterlichen Standesprotzentum, für welches je nach dem Standpunkt des Urteilenden der Mensch beim Gelehrten, beim Soldaten oder beim Baron anfängt. Ja, gestehen wir's, es liegt wenig Sinn für die ganze Aufgabe der Menschheit, wenig Verständnis für die gegenseitige Hülfeleistung bei der Kulturarbeit, wenig freier Blick, wenig allgemeine Bildung darin!
Die Kenntnis des Lateinischen (und teilweise auch jene des Griechischen) bleibt ein Bedürfnis für die Angehörigen jener Berufszweige, welche noch stärker an die antike Kultur anknüpfen, also für Juristen, Theologen und Philologen, für Historiker, sowie überhaupt für die geringe Zahl derjenigen, zu welchen auch ich mich zeitweilig rechnen muß, die aus der lateinischen Litteratur der verflossenen Jahrhunderte schöpfen wollen. Ich würde als Nichtjurist nicht gewagt haben, zu sagen, daß das Studium des Griechischen für den Juristen unnötig sei; doch ist diese Ansicht bei der dem Vortrage folgenden Debatte von sehr sachverständiger Seite vertreten worden. Hiernach würde die auf einem (deutschen) Realgymnasium erworbene Vorbildung auch für den angehenden Juristen genügen, und nur für Theologen und Philologen unzureichend sein. Daß aber deshalb unsere ganze nach höherer Bildung strebende Jugend in so unmäßiger Weise Lateinisch und Griechisch treiben muß, daß deshalb die angehenden Mediziner und Naturforscher mangelhaft gebildet, ja verbildet, an die Hochschule kommen müssen, daß sie nur von jener Schule kommen dürfen, welche ihnen nicht die nötige Vorbildung zu geben vermag, das sind doch etwas starke Folgerungen.
Nachdem auch die Umstände, welche dem lateinischen und griechischen Unterricht seine hohe Bedeutung gegeben hatten, längst nicht mehr wirksam waren, wurde doch wie natürlich der einmal hergebrachte Unterricht festgehalten. Es konnte auch nicht fehlen, daß mancherlei Wirkungen dieses Unterrichtes, gute und schlimme, an die bei Einführung desselben niemand gedacht hatte, sich einstellten und beobachtet wurden. Ebenso natürlich betonten diejenigen, welche an der Erhaltung dieses Unterrichtes ein starkes Interesse hatten, weil sie nur diesen kannten, oder von demselben lebten, oder aus irgend einem anderen Grunde, die guten Wirkungen dieses Unterrichtes. Sie hoben dieselben so hervor, als wären sie mit Vorbedacht erzielt worden, und nur auf diesem Wege zu erzielen.
Ein wirklicher Vorteil, der sich durch den richtig geleiteten philologischen Unterricht für die Jugend ergeben könnte, würde in der Erschließung des reichen Inhaltes der antiken Litteratur, in der Bekanntschaft mit der Weltanschauung zweier hochstehender Völker bestehen. Wer die griechischen und römischen Autoren gelesen und verstanden hat, hat mehr erlebt, als derjenige, der auf die Eindrücke der Gegenwart beschränkt bleibt. Er sieht, wie die Menschen unter anderen Umständen ganz anders über dieselben Dinge urteilen, als heute. Er wird selbst freier urteilen. Ja die griechischen und römischen Autoren sind wirklich eine reiche Quelle der Erfrischung, der Aufklärung und des Genusses nach des Tages Arbeit, und stets wird der Einzelne, sowie die europäische Menschheit, denselben dankbar bleiben. Wer würde nicht gern der Irrfahrten des Odysseus sich erinnern, wer nicht gern der naiven Erzählung Herodots lauschen? Wer könnte es bereuen, Platons Dialoge kennen gelernt, oder Lucians göttlichen Humor verkostet zu haben? Wer wollte durch Ciceros Briefe, durch Plautus und Terentius nicht ins antike Privatleben geblickt haben? Wem wären Suetons Schilderungen nicht unvergeßlich? Ja wer wollte überhaupt ein Wissen von sich werfen, das er einmal erworben hat?
Aber wer nur aus diesen Quellen schöpft, wer nur diese Bildung kennt, hat allerdings kein Recht über den Wert einer andern abzusprechen. Als Forschungsobjekt für Einzelne ist ja diese Litteratur äußerst wertvoll, ob aber als fast einziges Unterrichtsmittel für die Jugend, das ist eine andere Frage.
Gibt es nicht noch andere Völker, andere Litteraturen, von welchen wir zu lernen haben? Ist nicht die Natur selbst unsere höchste Lehrmeisterin? Sollen uns die Griechen mit ihrer beschränkten kleinstädtischen Anschauung, in welcher sie alles in »Griechen und Barbaren« einteilen, mit ihrem Aberglauben, mit ihrem ewigen Orakelbefragen immer die höchsten Muster bleiben? Aristoteles mit seiner Unfähigkeit von Tatsachen zu lernen, mit seiner Wortwissenschaft, Platon mit seinem schwerfälligen schleppenden Dialog, mit seiner unfruchtbaren, oft kindlichen Dialektik, sind sie unübertrefflich? Wenn ich an dieser Stelle die Schattenseiten der Schriften des Platon und Aristoteles hervorhebe, die mir bei Lektüre vorzugsweise in deutscher Übersetzung aufgefallen sind, – denn das Griechische ist mir nicht mehr geläufig genug – so denke ich natürlich nicht daran, hiermit die großen Verdienste und die hohe historische Bedeutung beider Männer herabsetzen zu wollen. Allerdings darf man die Bedeutung dieser Männer nicht nach dem Umstande messen, daß unsere spekulative Philosophie sich noch zum großen Teil in ihren Gedankenbahnen bewegt. Vielleicht folgt daraus eher, daß dieses Gebiet seit Jahrtausenden sehr geringe Fortschritte gemacht hat. War doch auch die Naturwissenschaft durch Jahrhunderte in Aristotelischen Gedanken befangen, und verdankt sie doch ihren Aufschwung wesentlich dem Abschütteln dieser Fesseln!
Die Römer mit ihrer wort- und silbenreichen prahlenden prunkvollen Äußerlichkeit und Gefühllosigkeit, mit ihrer beschränkten Philisterphilosophie, mit ihrer wütenden Sinnlichkeit, mit ihrer in Tier- und Menschenhetzen schwelgenden grausamen Wollust, mit ihrem rücksichtslosen Mißbrauchen und Ausbeuten der Menschen, sind sie nachahmenswerte Muster? Oder soll vielleicht unsere Naturwissenschaft an Plinius sich erbauen, der Hebammen als Gewährsmänner zitiert, und der selbst auf ihrem Standpunkt steht?
Und wenn eine Bekanntschaft mit der antiken Welt wirklich erzielt würde, so möchte man sich mit dem philologischen Unterricht noch abfinden. Allein Worte und Formen sind es und Formen und Worte, die der Jugend immer wieder geboten werden. Und alles, was daneben noch getrieben werden kann, verfällt derselben trostlosen Methode, und wird zur Wissenschaft aus Worten, zum bloßen gehaltlosen Gedächtniskram.
Ja wirklich, man fühlt sich zurück versetzt um ein Jahrtausend, in die dumpfe Klosterzelle des Mittelalters! Das muß anders werden! Man kann die Anschauungen der Griechen und Römer auf einem kürzern Wege kennen lernen, als durch den Verstand betäubendes 8 bis 10 jähriges Deklinieren, Konjugieren, Analysieren und Extemporieren. Es gibt auch jetzt schon Gebildete genug, welche mit Hilfe guter Übersetzungen lebendigere, klarere und umfassendere Ansichten über das klassische Altertum erworben haben als unsere Gymnasialabiturienten. Ich will durchaus nicht behaupten, daß man ganz denselben Gewinn aus einem griechischen Autor zieht, ob man denselben im Original oder in der Übersetzung liest. Die Differenz aber, der Mehrgewinn im ersteren Fall, scheint mir, und wohl den meisten Menschen, welche nicht Fachphilologen werden wollen, mit einem Zeitaufwand von 8 Jahren viel zu teuer erkauft.
Die Griechen und Römer sind für die moderne Zeit einfach zwei Objekte der Archäologie und Geschichtsforschung wie alle andern. Führt man sie der Jugend in frischer und anschaulicher Weise und nicht bloß in Worten und Silben vor, so wird die Wirkung nicht ausbleiben. Ganz anders genießt man auch die Griechen, wenn man nach dem Studium der modernen Kulturforschung an dieselben herankommt. Anders liest man manches Kapitel im Herodot, wenn man mit Naturwissenschaft ausgerüstet, mit Kenntnissen über die Steinzeit und den Pfahlbau daran geht. Was die Philologie zu leisten vorgibt, das wird ein zureichender historischer Unterricht, der freilich nicht bloß Namen und Zahlen, patriotisch und confessionell gefärbte Dynastie- und Kriegsgeschichte bieten darf, sondern wahre Kulturgeschichte sein muß, der Jugend in viel ausgiebigerer Weise wirklich leisten.
Die Anschauung ist noch sehr verbreitet, daß alle » höhere ideale Bildung«, alle Erweiterung der Weltanschauung durch philologische und etwa noch durch historische Studien gewonnen werde, daß dagegen die Mathematik und die Naturwissenschaften wegen ihres Nutzens nicht zu vernachlässigen seien. Ich kann dieser Ansicht durchaus nicht zustimmen. Es wäre auch sonderbar, wenn der Mensch aus einigen alten Topfscherben, beschriebenen Steinen und Pergamentblättern, die doch auch nur ein Stückchen Natur sind, mehr lernen, mehr geistige Nahrung schöpfen könnte, als aus der ganzen übrigen Natur. Gewiß geht den Menschen zunächst der Mensch an, aber doch nicht allein.
Wenn wir den Menschen nicht als Mittelpunkt der Welt ansehen, wenn uns die Erde als ein um die Sonne geschwungener Kreisel erscheint, der mit dieser in unendliche Ferne fliegt, wenn wir in Fixsternweiten dieselben Stoffe antreffen wie auf der Erde, überall in der Natur denselben Vorgängen begegnen, von welchen das Leben des Menschen nur ein verschwindender gleichartiger Teil ist, so liegt hierin auch eine Erweiterung der Weltanschauung, auch eine Erhebung, auch eine Poesie! Vielleicht liegt hierin Größeres und Bedeutenderes, als in dem Brüllen des verwundeten Ares, in der reizenden Insel der Kalypso, dem Okeanos, der die Erde umfließt. Über den relativen Wert beider Gedankengebiete, beider Poesien, darf nur der sprechen, der beide kennt!
Der » Nutzen« der Naturwissenschaft ist gewissermaßen nur ein Nebenprodukt des geistigen Aufschwungs, der sie erzeugt hat. Doch darf ihn niemand unterschätzen, der sich die Verwirklichung der orientalischen Märchenwelt durch unsere moderne Technik willig gefallen läßt, am wenigsten derjenige, dem diese Schätze ohne sein Zutun, unverstanden, wie aus der »vierten Dimension«, zufallen.
Auch das darf man nicht glauben, daß die Naturwissenschaft etwa nur dem Techniker nützt. Ihr Einfluß durchdringt alle unsere Verhältnisse, unser ganzes Leben, ihre Anschauungen werden also auch überall maßgebend. Wie ganz anders wird auch der Jurist, der Staatsmann, der Nationalökonom urteilen, welcher sich z. B. nur lebhaft gegenwärtig hält, daß eine Quadratmeile fruchbarsten Landes mit der alljährlich verbrauchten Sonnenwärme nur eine ganz bestimmte begrenzte Menschenzahl zu ernähren vermag, welche durch keine Kunst, keine Wissenschaft weiter gesteigert werden kann. Gar manche volkswirtschaftliche Theorie, die mit luftigen Begriffen neue Bahnen bricht, natürlich wieder nur in der Luft, wird ihm vor dieser Einsicht hinfällig.
Sehr gern betonen die Lobredner des philologischen Unterrichts die Geschmacksbildung, welche durch Beschäftigung mit den antiken Mustern erzielt wird. Ich gestehe aufrichtig, daß dies für mich etwas Empörendes hat. Also um den Geschmack zu bilden, muß die Jugend ein Decennium opfern! Der Luxus geht also dem Notwendigsten vor! Hat die künftige Generation angesichts der schwierigen Probleme, angesichts der sozialen Fragen, welchen sie an Verstand und Gemüt gekräftigt entgegen gehen sollte, wirklich nichts Wichtigeres zu tun?
Nehmen wir aber die Aufgabe an! Läßt sich der Geschmack nach Rezepten bilden? Ändert sich nicht das Schönheitsideal? Ist es nicht eine gewaltige Verkehrtheit, sich künstlich in die Bewunderung von Dingen hineinzuzwingen, die bei allem historischen Interesse, bei aller Schönheit im einzelnen, unserm übrigen Denken und Sinnen, wenn wir überhaupt ein eigenes haben, doch vielfach fremd gegenüberstehen? Eine wirkliche Nation hat ihren eigenen Geschmack, und holt ihn nicht bei andern. Und jeder einzelne volle Mensch hat seinen eigenen Geschmack. »Die Versuchung – schreibt Herr Amtsrichter Hartwich – den »Geschmack« der Alten für so »erhaben« und »unübertrefflich« zu halten, scheint mir wesentlich darin ihren Grund zu haben, daß die Alten in der Darstellung des Nackten allerdings unübertrefflich dastehen; erstens schufen sie durch unausgesetzte Pflege des menschlichen Körpers herrliche Modelle und zweitens hatten sie diese Modelle in ihren »Gymnasien« und bei ihren Festspielen stets vor Augen; kein Wunder, daß ihre Statuen noch heute unser Staunen erregen; denn die Form, das Ideal des menschlichen Körpers, hat sich im Laufe der Jahrhunderte nicht verändert. Ganz anders steht es aber mit den geistigen Idealen; diese ändern sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, ja von Jahrzehnt zu Jahrzehnt! Es ist nun zu natürlich, daß man das Anschaulichste, nämlich die Werke der Bildhauerkunst, unbewußt als allgemeinen Maßstab für den hochentwickelten Geschmack der Alten anlegt, ein Fehlschluß, vor dem man nach meiner Ansicht nicht genug warnen kann.«
Und worauf kommt es bei dieser Geschmacksbildung hinaus? Auf Aneignung des persönlichen Stils einiger Autoren! Was würden wir nun von einem Volke halten, das etwa nach 1000 Jahren seine Jugend zwingen würde, sich durch vieljährige Übung in den geschraubten oder überladenen Stil eines gewandten Advokaten oder Reichstags-Abgeordneten der Gegenwart einzuleben? Würden wir ihm nicht mit Recht Geschmacklosigkeit vorwerfen?
Die üble Wirkung dieser vermeintlichen Geschmacksbildung äußert sich auch oft genug. Wenn ein junger Gelehrter das Niederschreiben einer wissenschaftlichen Arbeit für ein Advokatenkunststück hält, statt einfach die Tatsachen und die Wahrheit unverhüllt darzulegen, so sitzt er unbewußt auf der Schulbank, und vertritt unbewußt den römischen Standpunkt, auf dem das Ausarbeiten von Reden als wissenschaftliche (!) Beschäftigung erscheint.
Nicht unterschätzen wollen wir die Entwicklung des Sprachgefühles und das gesteigerte Verständnis der Muttersprache, welches durch philologische Studien erzielt wird. Durch die Beschäftigung mit einer fremden Sprache, namentlich mit einer von der Muttersprache sehr verschiedenen, ergibt sich eine Sonderung der sprachlichen Zeichen und Formen von dem bezeichneten Gedanken. Die sich am nächsten entsprechenden Worte verschiedener Sprachen koinzidieren nicht genau mit denselben Vorstellungen, sondern treffen etwas verschiedene Seiten derselben Sache, auf welche eben durch das Sprachstudium die Aufmerksamkeit hingelenkt wird. Daß aber das Studium des Lateinischen und Griechischen das erfolgreichste und natürlichste oder gar das einzige Mittel sei, diesen Zweck zu erreichen, dürfen wir deshalb noch nicht behaupten. Wer sich einmal das Vergnügen macht, in einer chinesischen Grammatik zu blättern, wer sich die Sprech- und Denkweise eines Volkes klar zu machen sucht, welches nicht bis zur Lautanalyse fortschreitet, sondern bei der Silbenanalyse stehen bleibt, welchem daher unsere Buchstabenschrift das merkwürdigste Rätsel ist, welches durch wenige Silben mit geänderter Betonung und Stellung alle seine reichen und tiefen Gedanken ausdrückt, dem gehen vielleicht noch andere Lichter auf über das Verhältnis von Sprechen und Denken. Soll aber vielleicht unsere Jugend deshalb Chinesisch treiben? Gewiß nicht! Aber auch mit dem Lateinischen soll sie wenigstens nicht in dem Maße belastet werden, als es geschieht.
Es ist ein sehr schönes Kunststück, einen lateinischen Gedanken möglichst sinngetreu und sprachgetreu deutsch wiederzugeben – für den Übersetzer. Wir werden auch dem Übersetzer hierfür sehr dankbar sein, aber von jedem gebildeten Menschen dieses Kunststück zu verlangen, ohne Rücksicht auf die Opfer an Zeit und Mühe, ist unvernünftig. Eben deshalb wird, wie die Pädagogen selbst zugestehen, dieses Ziel auch nur unvollkommen erreicht, nur bei einzelnen Schülern, bei besonderer Anlage und andauernder Beschäftigung. Ohne also die hohe Wichtigkeit des Studiums der antiken Sprachen als Fachstudium in Abrede zu stellen, glauben wir doch, daß das zur allgemeinen Bildung gehörige Sprachbewußtsein auf andere Art gewonnen werden kann, und gewonnen werden soll. Wären wir denn wirklich so ganz verloren, wenn etwa die Griechen gar nicht vor uns gelebt hätten?
Wir müssen ja mit unsern Forderungen sogar etwas weiter gehen, als die Vertreter der klassischen Philologie. Wir müssen wünschen, daß ein gebildeter Mensch sich eine dem Standpunkte der Wissenschaft einigermaßen entsprechende Vorstellung von dem Wesen und Wert der Sprache, von der Sprachbildung, von dem Bedeutungswechsel der Wurzeln, von dem Verfall ständiger Redensarten zu grammatischen Formen, kurz von den sehr aufklärenden Ergebnissen der modernen vergleichenden Sprachwissenschaft aneigne. Man sollte meinen, daß dies durch ein vertieftes Studium der Muttersprache und der nächst verwandten Sprachen, nachher älterer Sprachen, von denen jene abstammen, zu erreichen wäre. Wer mir einwendet, daß dies zu schwierig ist, und zu weit führt, dem rate ich, neben eine deutsche Bibel einmal eine holländische, dänische und schwedische zu legen, und nur einige Zeilen zu vergleichen; er wird erstaunen über die Fülle von Anregungen. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüste und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. – (Holländisch.) In het begin schiep God den hemel en de aarde. De aarde nu was woest en ledig, en duisternis was op den afgrond; en de Geest Gods zwefde op de wateren. – (Dänisch.) I Begyndelsen skabte Gud Himmelen og Jorden. Og Jorden var ode og tom, og der var morkt ovenover Afgrunden, og Guds Aand svoevede ovenover Vandene. – (Schwedisch.) I begynnelsen skapade Gud Himmel och Jord. Och Jorden war öde och tom, och mörker war pä djupet, och Guds Ande swäfde öfwer wattnet.
Ich bin sogar der Meinug, daß auf diesem Wege allein der Sprachunterricht zu einem wirklich förderlichen, fruchtbaren, vernünftigen und aufklärenden werden kann. Mancher meiner Zuhörer erinnert sich vielleicht noch aus seiner Jugend der aufheiternden erwärmenden Wirkung, ähnlich jener eines Sonnenblicks an trübem Tage, welche die spärlichen und schüchternen sprach vergleichenden Bemerkungen der Curtiusschen griechischen Grammatik in die öde geistlose Silbenstecherei brachten.
[Um jedem Mißverständnis zu begegnen, muß ich hier nochmals hervorheben, daß meine Ausführungen nicht gegen die philologische Forschung, sondern nur gegen die Gymnasialpädagogik und Gymnasialdidaktik gerichtet sind. Die Entzifferung der Hieroglypheninschrift von Rosette oder der Keilschrift von Behistun erscheint mir als eine ebenso große Geistestat, wie irgend eine bedeutende naturwissenschaftliche Entdeckung. Solche Leistungen sind aber überhaupt erst möglich geworden durch die Erziehung in der Schule der klassischen Philologie, abgesehen davon, daß die dort entwickelte Kunst der Entzifferung, die Kunst zwischen den Zeilen zu lesen, und aus den leisesten Andeutungen auf den psychischen Zustand des Schreibers Konjekturen zu machen, an sich in keiner Weise unterschätzt werden darf. – 1895.]
Der wesentlichste Erfolg, welcher bei der gegenwärtigen Art, das Studium der antiken Sprachen zu treiben, wirklich noch erzielt wird, ist an die Beschäftigung mit der komplizierten Grammatik derselben gebunden. Er besteht in der Schärfung der Aufmerksamkeit und in der Übung des Urteils durch Subsumieren besonderer Fälle unter allgemeine Regeln, und durch Unterscheiden verschiedener Fälle von einander. Selbstverständlich kann dasselbe Resultat auf mancherlei andere Art, z. B. durch irgend ein schwieriges Kartenspiel erreicht werden. Jede Wissenschaft, so auch die Mathematik und die Naturwissenschaften, leisten in Bezug auf Übung des Urteils dasselbe, wo nicht mehr. Hierzu kommt noch, daß der Stoff dieser Wissenschaften für die Jugend ein viel höheres Interesse hat, wodurch die Aufmerksamkeit von selbst gefesselt wird, und daß dieselben noch in andern Richtungen aufklärend und nützlich wirken, in welchen die Grammatik gar nichts leisten kann. Wem wäre es an sich nicht gänzlich gleichgiltig, ob man im Genitiv Pluralis »hominum« oder »hominorum« sagt, so interessant dies auch für den Sprachforscher sein mag. Und wer wollte es bestreiten, daß das Kausalitätsbedürfnis durch die Naturwissenschaften und nicht durch die Grammatik geweckt wird?
Den günstigen Einfluß, den auch das Studium der lateinischen und griechischen Grammatik auf die Schärfung des Urteils ausübt, stellen wir also durchaus nicht in Abrede. Insofern nun die Beschäftigung mit dem Wort an sich die Klarheit und Schärfe des Ausdrucks besonders fördern muß, insofern auch das Lateinische und Griechische für manche Berufszweige noch nicht ganz entbehrlich ist, räumen wir diesen Lehrstoffen gern einen Platz in der Schule ein, wünschen aber die ihnen ungebührlich zugemessene Zeit, welche sie in ganz ungerechtfertigter Weise andern fruchtbareren Disziplinen entziehen, schon jetzt bedeutend beschränkt. Daß aber das Lateinische und Griechische als allgemeine Bildungsmittel sich auf die Dauer nicht halten werden, davon sind wir überzeugt. Sie werden sich in die Stube des Gelehrten, des Fachphilologen zurückziehen, und allmählich den modernen Sprachen und der modernen Sprachw issenschaft Platz machen.
Schon Locke hat die übertriebenen Vorstellungen von dem engen Zusammenhange von Denken und Sprechen, von Logik und Grammatik auf ihr richtiges Maß zurückgeführt und neuere Forscher haben seine Ansicht noch fester begründet. Wie wenig eine komplizierte Grammatik mit der Feinheit der Gedanken zu tun hat, beweisen die Italiener und Franzosen, welche, obgleich sie den grammatischen Luxus der Römer fast gänzlich abgeworfen haben, doch an Feinheit der Gedanken gegen dieselben nicht zurückstehen, und deren poetische und namentlich wissenschaftliche Litteratur, wie wohl niemand bestreiten wird, sich mit der römischen messen kann.
Überblicken wir noch einmal die Argumente, welche für den Unterricht in den antiken Sprachen in die Wagschale geworfen werden, so müssen wir sagen, daß dieselben großenteils überhaupt nicht mehr gelten. Soweit aber die Ziele, welche dieser Unterricht verfolgen könnte, noch erstrebenswert sind, erscheinen sie uns als zu beschränkt, als eben so einseitig und beschränkt aber auch die Mittel, welche verwendet werden. Fast als einziges unbestreitbares Ergebnis dieses Unterrichts werden wir eine größere Gewandtheit und Genauigkeit im Ausdruck zu betrachten haben. Wollte man boshaft sein, so könnte man sagen, daß unsere Gymnasien erwachsene Menschen erziehen, die sprechen und schreiben können, aber leider nicht viel zu berichten wissen. Von dem freien umfassenden Blick, von der gerühmten allgemeinen Bildung, welche dieser Unterricht erzeugen soll, werden wir kaum im Ernst sprechen können. Vielleicht würde diese Bildung richtiger die einseitige oder beschränkte heißen.
Wir haben schon bei Betrachtung des Sprachunterrichts einige Seitenblicke auf die Mathematik und auf die Naturwissenschaften geworfen. Stellen wir uns nun noch die Frage, ob diese als Unterrichtsfächer nicht manches leisten können, was auf keine andere Weise zu erzielen ist. Ich werde zunächst auf keinen Widerspruch stoßen, wenn ich sage, daß der Mensch ohne eine wenigstens elementare mathematische und naturwissenschaftliche Bildung ein Fremdling bleibt in der Welt, in welcher er lebt, ein Fremdling in der Kultur der Zeit, die ihn trägt. Was ihm in der Natur oder in der Technik begegnet, spricht ihn entweder gar nicht an, weil er kein Ohr und kein Auge dafür hat, oder es spricht zu ihm in einer unverständlichen Sprache.
Das sachliche Verständnis der Welt und der Kultur ist aber nicht die einzige Wirkung des Studiums der Mathematik und der Naturwissenschaften. Viel wichtiger für die Vorbereitungsschule ist die formale Bildung durch diese Fächer, die Kräftigung des Verstandes und Urteils, die Übung der Anschauung. Die Mathematik, die Physik, die Chemie und die sogenannten beschreibenden Naturwissenschaften verhalten sich in dieser Richtung so ähnlich, daß wir dieselben in der Betrachtung, einzelne Punkte abgerechnet, gar nicht zu trennen brauchen.
Die für ein ersprießliches Denken so notwendige Folgerichtigkeit und Stetigkeit der Vorstellungen wird vorzugsweise durch die Mathematik, die Fähigkeit mit den Vorstellungen den Tatsachen zu folgen, d. h. zu beobachten oder Erfahrungen zu sammeln, vorzugsweise durch die Naturwissenschaften gefördert. Ob wir nun aber bemerken, daß die Seiten und Winkel eines Dreieckes in gewisser Weise von einander abhängen, daß ein gleichschenkliges Dreieck gewisse Symmetrieeigenschaften hat, oder ob wir die Ablenkung der Magnetnadel durch den elektrischen Strom, die Auflösung des Zinks in verdünnter Schwefelsäure wahrnehmen, ob wir bemerken, daß die Flügel der Tagfalter unten, die Vorderflügel der Nachtfalter oben unscheinbar gefärbt sind, überall gehen wir von Beobachtungen, von intuitiven Erkenntnissen aus. Das Gebiet der Beobachtungen ist etwas kleiner und näher liegend in der Mathematik, etwas reicher und weiter, aber schwieriger zu durchmessen in den Naturwissenschaften. Doch müssen wir vor allem andern in jedem dieser Gebiete beobachten lernen. Die philosophische Frage ist hier für uns von keiner Bedeutung, ob etwa die intuitiven Erkenntnisse der Mathematik von besonderer Art seien. Gewiß kann nun die Beobachtung auch an sprachlichem Stoffe geübt werden. Niemand wird aber bezweifeln, daß die konkreten lebendigen Bilder, welche in den vorher bezeichneten Gebieten auftreten, ganz anders anziehend auf den jugendlichen Geist wirken werden, als die abstrakten Schattengestalten, welche der sprachliche Stoff bietet, und denen die Aufmerksamkeit gewiß nicht so spontan und also nicht mit gleich großem Erfolg sich zuwenden wird. Vgl. die vortreffliche Ausführung von Herzen (de l'enseignement secondaire dans la suisse romande. Lausaune 1886).
Haben wir durch Beobachtung verschiedene Eigenschaften etwa eines geometrischen oder eines Naturgebildes gefunden, so bemerken wir in vielen Fällen eine gegenseitige Abhängigkeit dieser Eigenschaften voneinander. In keinem Gebiete drängt sich nun diese Abhängigkeit (wie etwa Gleichschenkligkeit und Gleichheit der Winkel an der Grundlinie des Dreiecks, Zusammenhang von Druck und Bewegung) so deutlich auf, nirgends wird die Notwendigkeit und Beständigkeit dieser Abhängigkeit so bemerklich, wie in den bezeichneten Gebieten. Daher die Stetigkeit und Folgerichtigkeit der Vorstellungen, welche man sich durch Beschäftigung mit diesen Gebieten erwirbt. Die relative Einfachheit und Übersichtlichkeit geometrischer und physikalischer Verhältnisse wirkt hier sehr fördernd. Verhältnisse von ähnlicher Einfachheit finden sich auf den Gebieten nicht, welche der sprachliche Unterricht zu erschließen vermag. Mancher dürfte sich schon gewundert haben, wie wenig Achtung vor den Begriffen Ursache und Wirkung und deren Verhältnis bei Vertretern der philologischen Fachgruppe zuweilen gefunden wird. Die Erklärung mag wohl darin liegen, daß das ihnen geläufige analoge Verhältnis von Motiv und Handlung lange nicht die übersichtliche Einfachheit und Bestimmtheit darbietet, wie das erstere.
Die vollständige Übersicht aller möglichen Fälle, die daraus hervorgehende ökonomische Ordnung und organische Verbindung der Gedanken, welche jedem, der sie einmal gekostet hat, zu einem bleibenden Bedürfnis wird, das er in jedem neuen Gebiet zu befriedigen strebt, kann sich nur bei der relativen Einfachheit des mathematischen und naturwissenschaftlichen Stoffes in gleichem Maße entwickeln.
Wenn eine Reihe von Tatsachen mit einer Reihe von anderen Tatsachen in scheinbaren Widerstreit gerät, und dadurch ein Problem auftritt, so besteht die Lösung gewöhnlich nur in einer verfeinerten Unterscheidung, in einer vervollständigten Übersicht der Tatsachen, wie dies z. B. an der Newtonschen Lösung des Dispersionsproblems sich sofort erläutern läßt. Wenn eine neue mathematische oder naturwissenschaftliche Tatsache bewiesen oder erklärt wird, so beruht dies wieder nur auf der Darlegung des Zusammenhanges der neuen Tatsache mit schon bekannten. Daß z. B. der Kreisradius sechsmal in der Peripherie aufgetragen werden kann, wird erklärt oder bewiesen durch Zerlegung des dem Kreise eingeschriebenen regulären Sechseckes in gleichseitige Dreiecke. Daß die in einem Stromleiter in der Sekunde entwickelte Wärmemenge mit der Verdoppelung der Stromstärke sich vervierfacht, erklären wir durch das zur doppelten Stromstärke gehörige doppelte Potentialgefälle und die ebenfalls zugehörige doppelte durchfließende Menge, mit einem Wort durch die Vervierfachung der zugehörigen Arbeit. Erklärung und direkter Beweis sind nicht wesentlich voneinander verschieden.
Wer eine geometrische, physikalische oder technische Aufgabe wissenschaftlich löst, bemerkt leicht, daß sein Verfahren ein durch die ökonomische Übersicht ermöglichtes methodisches Suchen in Gedanken ist, ein vereinfachtes zielbewußtes Suchen, zum Unterschied von dem planlosen unwissenschaftlichen Probieren. Der Geometer z. B., der einen zwei gegebene Gerade berührenden Kreis zu konstruieren hat, überblickt die Symetrieverhältnisse der gesuchten Konstruktion, und sucht den Kreismittelpunkt nur mehr in der Symmetrielinie der gegebenen Geraden. Wer ein Dreieck mit zwei gegebenen Winkeln und gegebener Seitensumme sucht, überblickt die Formbestimmtheit des Dreiecks, und sucht nur mehr in einer gewissen Reihe formgleicher Dreiecke. So macht sich unter den verschiedensten Umständen die Einfachheit und Durchdringbarkeit des mathematisch-naturwissenschaftlichen Stoffes fühlbar, und fördert die Übung und das Selbstvertrauen im Gebrauch des Verstandes.
Ohne Zweifel wird sich durch den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht noch viel mehr erreichen lassen, als jetzt schon erreicht wird, wenn noch eine etwas natürlichere Methode in Gebrauch kommt. Hierzu gehört, daß die Jugend nicht durch verfrühte Abstraktion verdorben wird, sondern den Stoff durch die Anschauung kennen lernt, bevor sie mit demselben denkend zu arbeiten hat. Eine zweckentsprechende Ansammlung von geometrischer Erfahrung würde z. B. durch das geometrische Zeichnen und durch das Herstellen von Modellen gewonnen. An die Stelle der unfruchtbaren nur für einen beschränkten Zweck passenden Euklidesschen Methode muß eine freiere und mehr bewußte treten, wie dies schon Hankel betont hat Geschichte der Mathematik. Leipzig 1874. Werden nun etwa bei Wiederholung des geometrischen Stoffes, wenn dieser selbst keine Schwierigkeiten mehr bereitet, die allgemeineren Gesichtspunkte, die Grundsätze des wissenschaftlichen Verfahrens hervorgehoben, und zum Bewußtsein gebracht, wie dies v. Nagel, Geometrische Analysis. Ulm 1886 J. K. Becker, In seinen mathematischen Elementarbüchem. Mann Abhandlungen aus dem Gebiete der Mathematik. Würzburg 1883. u. A. in vorzüglicher Weise getan haben, so kann eine fruchtbringende Wirkung nicht ausbleiben. Ebenso muß auch der naturwissenschaftliche Lehrstoff durch Anschauung und Experiment bekannt sein, bevor eine tiefere denkende Erfassung desselben versucht wird. Auch hier werden die allgemeineren Gesichtspunkte zuletzt hervorzuheben sein.
In diesem Kreise habe ich wohl nicht nötig, weiter darzulegen, daß Mathematik und Naturwissenschaften berechtigte Bildungselemente sind, was ja selbst die Philologen, mit einigem Wiederstreben allerdings, schon zugeben. Hier kann ich vielleicht sogar auf Zustimmung rechnen, wenn ich sage, daß Mathematik und Naturwissenschaften als Unterrichtsfächer für sich allein eine ausgibigere materielle und formale Bildung, eine mehr zeitgemäße, eine allgemeinere Bildung erzeugen, als die philologischen Fächer für sich allein.
Wie soll nun dieser Anschauung in dem Lehrplan der Mittelschulen Rechnung getragen werden? Mir scheint es unzweifelhaft, daß die Realschule und das Realgymnasium, welche den sprachlichen Unterricht nicht vernachlässigen, dem mittleren Menschen eine zweckmäßigere Bildung geben als das Gymnasium, wenn auch erstere als Vorbildungsschulen für angehende Theologen und Philologen zur Zeit nicht für zureichend gehalten werden. Es ist hier nur von den deutschen Realschulen i. O. und von den deutschen Realgymnasien die Rede. Die österreichischen Realschulen, welche die antiken Sprachen gar nicht berücksichtigen, können selbstverständlich als Vorbildungsschulen für Juristen, Theologen u. s. w. nicht in Betracht kommen. Die Gymnasien sind zu einseitig. An diesen ist zunächst zu modifizieren; mit diesen allein wollen wir uns hier, um nicht weitläufig zu werden, einen Augenblick beschäftigen. Vielleicht möchte auch eine zweckmäßige Vorbereitungsschule allen Bedürfnissen genügen.
Sollen wir nun in den Gymnasien die Lehrstunden, welche wir zur Verfügung haben, oder welche wir etwa den Philologen noch abringen können, mit möglichst viel und möglichst mannigfaltigem, mathematisch-naturwissenschaftlichem Stoff ausfüllen? Erwarten Sie keine solchen Vorschläge von mir. Niemand wird sie vorbringen, der sich selbst mit naturwissenschaftlichem Denken beschäftigt hat. Gedanken lassen sich anregen und befruchten, wie ein Feld durch Sonnenschein und Regen befruchtet wird. Gedanken lassen sich aber nicht durch Häufung von Stoff und Unterrichtsstunden, überhaupt nicht nach Rezepten heraushetzen und herausdressieren; sie wollen freiwillig wachsen. Gedanken lassen sich auch ebensowenig über ein gewisses Maß in einem Kopf anhäufen, als der Ertrag eines Feldes unbegrenzt gesteigert werden kann.
Ich glaube, daß der für eine zweckmäßige Bildung zureichende Lehrstoff, welcher allen Zöglingen einer Vorbereitungsschule gemeinsam geboten werden muß, sehr bescheiden ist. Hätte ich den nötigen Einfluß, so würde ich mit voller Beruhigung, und in der Überzeugung das Beste zu thun, zunächst in den Unterklassen den gesamten Unterrichtsstoff in den philologisch-historischen und in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern bedeutend reduzieren; ich würde die Zahl der Schulstunden und die Arbeitszeit außer der Schule bedeutend einschränken. Ich bin nicht mit vielen Schulmännern der Meinung, daß 10 Arbeitsstunden täglich für einen Knaben nicht zu viel seien. Ich bin überzeugt, daß die reifen Männer, die so gelassen dieses Wort aussprechen, selbst nicht im stande sind täglich durch so lange Zeit einem ihnen neuen Stoff z. B. elementarer Mathematik oder Physik, die Aufmerksamkeit mit Erfolg zuzuwenden, und ich bitte jeden, der das Gegenteil glaubt, an sich die Probe zu machen. Das Lernen, sowie das Unterrichten, ist keine Bureauarbeit, die nach der schon geläufigen Schablone lange fortgesetzt werden kann. Und auch solche Arbeit ermüdet endlich. Soll der junge Mensch nicht abgestumpft und erschöpft auf die Hochschule kommen, soll er nicht in der Vorbereitungsschule seine Lebenskraft ausgeben, die er daselbst doch zu sammeln hat, so muß hier eine bedeutende Änderung eintreten. Sehe ich auch von den schädlichen Folgen der Überbürdung in leiblicher Beziehung hier ganz ab, so erscheinen mir die Nachteile für den Verstand schon furchtbar.
Ich kenne nichts Schrecklicheres als die armen Menschen, die zu viel gelernt haben. Statt des gesunden kräftigen Urteils, welches sich vielleicht eingestellt hätte, wenn sie nichts gelernt hätten, schleichen ihre Gedanken ängstlich und hypnotisch einigen Worten, Sätzen und Formeln nach, immer auf denselben Wegen. Was sie besitzen, ist ein Spinnengewebe von Gedanken, zu schwach, um sich darauf zu stützen, aber kompliziert genug, um zu verwirren.
Wie soll nun aber eine bessere mathematisch-naturwissenschaftliche Erziehung mit Verminderung des Stoffes vereinigt werden? Ich glaube einfach durch Aufgeben des systematischen Unterrichts, wenigstens soweit er für alle Zöglinge gemeinsam ist. Es scheint mir keine Notwendigkeit, daß aus der Mittelschule Menschen hervorgehen, welche kleine Philologen, zugleich aber auch kleine Mathematiker, Physiker, Botaniker sind; ja ich sehe gar nicht die Möglichkeit eines solchen Ergebnisses. Ich sehe in dem Streben nach diesem Resultat, in welchem jeder für sein Fach allen andern gegenüber eine Ausnahmsstellung wünscht, den Hauptfehler unserer Schuleinrichtung. Ich wäre zufrieden, wenn jeder Jüngling einige wenige mathematische oder naturwissenschaftliche Entdeckungen so zu sagen mit erlebt, und in ihre weiteren Konsequenzen verfolgt hätte. Der Unterricht würde sich da vorzüglich und natürlich an die ausgewählte Lektüre der großen naturwissenschaftlichen Klassiker anschließen Ich denke hier an eine zweckmaßige Zusammenstellung von Lesestücken aus den Schriften von Galilei, Huygens, Newton u.s.w. Die Wahl läßt sich leicht so treffen, daß von einer ernstlichen Schwierigkeit nicht die Rede sein kann. Der Inhalt würde mit den Schülern durchgesprochen und durchexperimentiert. Diesen Unterricht allein würden in den Oberklassen jene Schüler erhalten, welche auf einen systematischen Unterricht in den Naturwissenschaften nicht reflektieren. Diesen Reformvorschlag bringe ich hier nicht zum erstenmal vor. Ich zweifle übrigens nicht, daß man auf so radikale Änderungen nur langsam eingehen wird. – Mein vor Jahren (1876) gemachter Vorschlag, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Klassiker durch neue Ausgaben zugänglicher zu machen, oder wenigstens durch eine Chrestomathie der Jugend zu erschließen, wurde von einer berühmten Verlagsbuchhandlung damals als buchhändlerisch gänzlich aussichtslos bezeichnet. Derselbe ist seither einerseits durch die Ostwaldschen Ausgaben, die Neudrucke von Mayer und Müller u. s. w., anderseits durch das Buch von Dannemann verwirklicht worden. Die wenigen kräftigen und klaren Ideen könnten in den Köpfen ablagern, gründlich verarbeitet werden, und die Jugend würde uns gewiß ein anderes Bild bieten.
Was soll z. B. die Belastung eines jungen Kopfes mit allen botanischen Einzelheiten? Wer nur unter Leitung des Lehrers einmal gesammelt hat, dem tritt statt Indifferentem überall Bekanntes oder Unbekanntes entgegen, wodurch er angeregt wird; er hat einen bleibenden Gewinn. Ich spreche hier nur die Ansicht eines befreundeten sachverständigen Schulmannes aus. Es ist auch gar nicht nötig, daß alles, was in der Schule vorgebracht wurde, auch gelernt werde. Das Beste, was wir gelernt haben, und was uns fürs Leben geblieben ist, ist uns niemals abexaminiert worden. Wie kann der Verstand gedeihen, wenn Stoff auf Stoff gehäuft, und auf Unverdautes noch Neues aufgeladen wird? Es handelt sich ja gar nicht um Anhäufung von positivem Wissen, sondern vielmehr um geistige Übung. Es scheint ferner unnötig, daß in jeder Schule genau dasselbe getrieben werde. Ein philologisches, ein historisches, ein mathematisches und ein naturwissenschaftliches Fach als gemeinsame Unterrichtsgegenstände für alle Zöglinge können für die geistige Entwicklung alles leisten. Die gegenseitige Anregung müßte im Gegenteil durch eine größere Mannigfaltigkeit der positiven Bildung der Menschen wesentlich gefördert werden. Die Uniformierung paßt ja gewiß vortrefflich fürs Militär, für die Köpfe taugt sie aber gar nicht. Das hat schon Karl V. erfahren, und man hätte es nicht wieder vergessen sollen. Lehrer und Schüler bedürfen im Gegenteil eines beträchtlichen individuellen Spielraumes, wenn sie leistungsfähig sein sollen.
Ich bin mit Joh. Karl Becker der Meinung, daß von jedem Fache genau festgestellt werden muß, welchen Nutzen sein Studium gewährt, und wie viel von demselben für jeden nötig ist. Was über dieses Maß hinausgeht, müßte, aus den Unterklassen wenigstens, unbedingt verbannt werden. In Bezug auf Mathematik scheint mir Becker Die Mathematik als Lehrgegenstand des Gymnasiums. Berlin 1883. diese Aufgabe gelöst zu haben.
Etwas anders stellt sich die Forderung in Bezug auf die Oberklassen. Auch hier braucht der allen Zöglingen gemeinsame Lehrstoff ein bescheidenes Maß nicht zu überschreiten. Allein bei den vielen Kenntnissen, welche ein junger Mann heutzutage für seinen Beruf erwerben muß, geht es nicht mehr an, daß ein Dezennium der Jugend mit bloßen Präludien vergeudet werde. Die Oberklassen müssen eine wirkliche ausgiebige Vorbereitung für das Berufsstudium geben, und sollen nicht bloß nach den Bedürfnissen der künftigen Juristen, Theologen und Philologen zugeschnitten sein. Natürlich wäre es aber sinnlos und unmöglich, denselben Menschen zugleich für die verschiedensten Berufszweige ausgibig vorzubereiten. Die Schule würde da, wie schon Lichtenberg fürchtete, nichts erzielen, als eine Auslese der Abrichtungsfähigsten, und gerade die größten Spezialtalente, die sich nicht jede beliebige Dressur gefallen lassen, würden von der Wettbewerbung ausgeschlossen. Demnach muß in den Oberklassen notwendig eine gewisse Lernfreiheit eingeführt werden, vermöge welcher es jedem, der über die Wahl seines Berufes sich klar ist, freisteht, sich vorzugsweise dem Studium der philologisch-historischen oder der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer zu widmen. Dann kann der gegenwärtig behandelte Stoff beibehalten, in manchen Fällen vielleicht noch zweckmäßig vermehrt werden, So unzweckmäßig es ist, daß auch die künftigen Mediziner und Naturforscher der Theologen und Philologen wegen mit dem Griechischen belastet werden, so unzweckmäßig wäre es, die Theologen und Philologen der Mediziner wegen etwa zum Studium der analytischen Geometrie anzuhalten. Übrigens kann ich nicht glauben, daß dem Mediziner, wenn er nur sonst im quantitativen Denken geübt ist, die Unkenntnis der analytischen Geometrie ernstlich hinderlich werden könnte. Einen besonderen Erfolg kann man an den Abiturienten der österreichischen Gymnasien, die ja alle analytische Geometrie getrieben haben, im allgemeinen nicht wahrnehmen.ohne daß eine größere Belastung des Schülers durch viele Fächer oder eine Vermehrung der Stundenzahl nötig wird. Bei mehr homogener Arbeit steigt auch die Leistungsfähigkeit des Schülers, indem ein Teil der Arbeit den andern stützt, statt ihn zu behindern. Wählt aber ein junger Mann später noch einen anderen Beruf dann ist es seine Sache, das ihm Fehlende nachzuholen. Der Gesellschaft wird es gewiß nicht schaden, und sie wird es nicht als Unglück empfinden, wenn etwa mathematisch gebildete Philologen und Juristen, oder philologischs gebildete Naturforscher auftauchen.
Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re. Direktor Dr. Krumme in Braunschweig hat mich im Gespräch aufmerksam gemacht, daß das hier vorgeschlagene Prinzip der beschränkten Lernfreiheit an den dänischen Gelehrtenschulen, die unseren Gymnasien entsprechen, bereits mit bestem Erfolg durchgeführt ist. Die Dänischen Gelehrtenschulen sind sechsklassige Einheitsschulen mit Bifurkation der beiden oberen Klassen. Ich entnehme Krummes »pädagogischem Archiv« 1883 S. 544 den Lehrplan der beiden oberen Klassen. In der folgenden Tabelle bedeutet SG die sprachlich-geschichtliche, MN die mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung und G die beiden Abteilungen gemeinsamen Unterrichtsgegenstände.
V. Klasse | VI. Klasse | Summe der Stunden | ||||||
SG | G | MN | SG | G | MN | SG | MN | |
Dänisch | — | 4 | — | — | 4 | — | 8 | 8 |
Deutsch und Englisch | — | 2 | — | — | 2 | — | 4 | 4 |
Französisch | — | 3 | — | — | 3 | — | 6 | 6 |
Lateinisch | 9 | — | — | 8 | — | — | 17 | — |
Griechisch | 6 | — | — | 6 | — | — | 12 | — |
Geschichte | — | 3 | — | — | — | 4 | 7 | 7 |
Mathematik und Zeichnen | — | — | 10 | — | — | 10 | — | 20 |
Naturlehre | 3 | — | 5 | 3 | — | 5 | 6 | 10 |
18 | 12 | 15 | 17 | 13 | 15 | 60 | 55 |
Die in derselben Richtung interessante Schulordnung in Norwegen ist etwas zu kompliziert, um sie hier kurz darzulegen. Näheres hierüber im »pädagog. Archiv«. 1884. S. 497.
Die Einsicht ist schon sehr verbreitet, daß die lateinisch-griechische Bildung längst nicht mehr dem allgemeinen Bedürfnis entspricht, daß es eine mehr zeitgemäße, eine allgemeinere Bildung gibt. Mit dem Namen allgemeine Bildung wird allerdings viel Mißbrauch getrieben. Eine wirkliche allgemeine Bildung ist gewiß sehr selten. Die Schule ist wohl kaum im stande diese zu bieten; sie kann dem Schüler höchstens das Bedürfnis nach derselben ins Herz legen. Seine Sache ist es dann, sich je nach seinen Kräften eine mehr oder weniger allgemeine Bildung zu verschaffen. Es wäre wohl auch recht schwer, zur Zeit eine jedermann zufriedenstellende Definition der allgemeinen Bildung zu geben, noch schwerer eine solche, welche etwa für 100 Jahre vorhalten würde. Das Bildungsideal ist eben sehr verschieden. Dem Einen scheint »selbst durch einen frühen Tod« die Kenntnis des klassischen Altertums nicht zu teuer erkauft. Wir haben auch nichts dagegen, daß Dieser und seine Gesinnungsgenossen ihr Ideal in ihrer Weise verfolgen. Dagegen wollen wir aber energisch protestieren, daß solche Bildungsideale an unsern Kindern verwirklicht werden. Ein anderer, Platon z. B., stellt wieder in der Geometrie unwissende Menschen auf die Stufe der Tiere. Vgl. M. Cantor, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1880. 1. Bd. S. 193. Hätten solche beschränkte Urteile die Macht der Zauberin Kirke, dann würde mancher, der sich vielleicht mit Recht für sehr gebildet hält, eine nicht sehr schmeichelhafte Verwandlung an sich verspüren. Suchen wir also mit unserem Unterrichtswesen den Bedürfnissen der Gegenwart gerecht zu werden, und schaffen wir keine Vorurteile für die Zukunft!
Wie kommt es doch, müssen wir uns fragen, daß etwas so Unzeitgemäßes, wie die Gymnasialeinrichtung, sich so lange gegen die öffentliche Meinung halten konnte? Die Antwort ist einfach. Die Schulen waren erst eine Unternehmung der Kirche, nachher, seit der Reformationszeit, eine Staatsunternehmung. Solche große Unternehmungen bieten manche Vorteile. Dem Unterricht können Mittel zugeführt werden, wie sie eine Privatunternehmung (wenigstens in Europa) kaum auftreiben würde. Es kann in vielen Schulen nach demselben Plan gearbeitet, und dadurch ein Experiment im Großen angestellt werden, das sonst wieder unmöglich wäre. Ein einzelner Mann, der eben Einfluß und Einsicht hat, kann unter diesen Umständen Bedeutendes in Förderung des Unterrichtes leisten.
Allein die Sache hat auch ihre Kehrseite. Die eben im Staate herrschende Partei arbeitet für sich, benutzt die Schule für sich. Jede Konkurrenz ist ausgeschlossen, ja jeder ausgibige Versuch einer Verbesserung ist unmöglich, wenn der Staat nicht selbst ihn unternimmt, oder wenigstens duldet. Durch die Uniformität der Volkserziehung wird ein einmal geltendes Vorurteil in Permanenb erklärt. Die höchste Intelligenz und der kräftigste Wille vermöchte nicht, dasselbe auf einmal zu brechen. Ja, da alles dieser Anschauung angepaßt ist, so wäre eine plötzliche Wandlung auch materiell unmöglich. Eben die beiden, den Staat fast noch allein regierenden Stände, die Juristen und Theologen, kennen nur die einseitige, vorwiegend philologische Bildung, welche sie in der Staatsschule erworben haben, und wollen nur diese geachtet und geschätzt wissen. Andere nehmen aus Leichtgläubigkeit diese Meinung an. Andere beugen sich, ihren eigenen Wert für die Gesellschaft unterschätzend, vor der Macht der herrschenden Meinung. Wieder andere affektieren die Meinung der herrschenden Stände, um mit diesen auf gleicher Stufe der Achtung zu bleiben, sogar gegen ihre bessere Überzeugung. Ich will keine Beschuldigung aussprechen, muß aber doch gestehen, daß mir das Verhalten der Ärzte gegenüber der Berechtigungsfrage der Realschulabiturienten zuweilen diesen Eindruck gemacht hat. Bedenken wir endlich, daß ein einflußreicher Staatsmann selbst innerhalb der Schranken, welche Gesetz und öffentliche Meinung ihm ziehen, dem Unterricht auch sehr schaden kann, indem er seine einseitige Ansicht für unfehlbar hält, und dieselbe in rücksichtsloser, unduldsamer Weise zur Geltung bringt, was nicht nur geschehen kann, sondern wiederholt wirklich geschehen ist, Vgl. Paulsen, a. a. O. S. 607. 688. so sehen wir das Staatsmonopol doch mit etwas anderen Augen an Und darüber können wir nicht im Zweifel bleiben, daß die Gymnasien in ihrer gegenwärtigen Form längst nicht mehr bestehen würden, wenn der Staat sie nicht gehalten hätte.
Diese Dinge müssen sich nun ändern. Sie werden sich nicht von selbst, nicht ohne unser kräftiges Zutun und jedenfalls nur langsam ändern. Der Weg ist aber vorgezeichnet. Die Volksvertretung muß auf die Schulgesetzgebung größeren und stärkeren Einfluß nehmen. Dazu müssen aber die hierher gehörigen Fragen vielfach öffentlich und mit Freimut erörtert werden, damit sich die Ansichten klären. Alle die, welche die Unzulänglichkeit des Bestehenden erkennen, müssen sich zu einem großen Bunde vereinigen, damit ihre Meinung Nachdruck erhalte, und die einzelne Stimme nicht ungehört verhalle.
Meine Herren! kürzlich habe ich in einer vortrefflichen Reisebeschreibung gelesen, daß die Chinesen nur ungern von Politik sprechen. Ein derartiges Gespräch wird gewöhnlich mit der Bemerkung abgebrochen: »Darum mögen sich diejenigen kümmern, die es angeht, und die dafür bezahlt sind.« Es will mir nun scheinen, daß es nicht nur den Staat, sondern auch jeden von uns sehr stark angeht, wie unsere Kinder in den öffentlichen Schulen auf unsere Kosten erzogen werden.
Seit Abhaltung des vorstehenden Vortrages (1886) hat sich manches in erfreulicher Weise geändert. Die Vertreter der klassischen Philologie betonen zwar in Versammlungen noch immer durch Resolutionen ihren Standpunkt, allein die Logik der Tatsachen macht sich dennoch geltend, und drängt sogar Staatsmänner, auch gegen ihr Gefühl und gegen die Traditionen ihrer Erziehung, in öffentlichen Reden für die Förderung der Realschulen und technischen Hochschulen, kurz für die Wertschätzung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung einzutreten. Wenn wir auch dem Zugeständnis des Ingenieur- und Doktortitels an die Techniker keine zu große Bedeutung zuschreiben, eine abgerungene Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Wissenschaft liegt doch in demselben. Vielleicht dürfen wir auch erwarten, daß in nicht zu ferner Zeit das mittelalterliche Zunftwesen, welches ja im Gewerbe glücklich überwunden ist, endlich auch aus dem wissenschaftlichen Leben allmählich ganz verschwindet. Hoffentlich wird dann der Mensch nicht mehr nach einer abgesessenen Schulbank oder nach einem Diplom, sondern nach seinen Leistungen gelten. Hiermit werden auch die raffiniert ausgedachten Schranken fallen, durch welche wißbegierige begabte reifere Menschen, welche den systematischen Weg verfehlt haben, in barbarischer Weise von Bildungsmitteln, Bildungsstätten und gelehrter Berufen fern gehalten werden. Die ›University Extension‹ mit ihren unerwarteten Erfolgen ist ein kleiner Anfang hierzu.
In dem Vortrag durfte ich den Boden des Bestehenden nicht verlassen. Für weitere Ausblicke bot sich nur wenig Anlaß. Ich möchte jedoch bei dieser Gelegenheit Farbe bekennen in Bezug auf meine Bildungs- und Unterrichtsideale, wenn auch die Verwirklichung derselben noch in ferner Zukunft liegt. Ich denke mir die künftigen Bildungsanstalten, von der niedersten bis zur höchsten, als vom Staate ganz unabhängige Privatunternehmungen. Dieselben werden vom Staate nicht erhalten, dieser verleiht ihnen auch keinerlei behördliche Vollmachten, sie unterliegen dafür aber auch keinerlei Bevormundung. Ihr Erfolg hängt bei der freien Konkurrenz ganz von deren Leistung und der Gegenleistung des sie benützenden Publikums ab; sie werden höchstens, wie in Amerika, durch Stiftungen gefördert. Daß das Publikum die nötige Reife habe, und den Wert des Wissens schätzen könne, ist eine Voraussetzung, die sich endlich von selbst erfüllen muß. Der Zutritt zu diesen Anstalten steht jedem frei, und jeder hat für die nötige Vorbildung selbst zu sorgen. Dies schließt nicht aus, daß der Staat nach wie vor seine Prüfungs-Kommisionen aufstellt, um sich und seine Bürger vor Schaden zu schützen. Die geeignetsten Wege zur Erwerbung des Wissens und der Bildung zu entdecken kann aber nicht die Aufgabe der Staatsbehörde sein. Dies muß der freien Konkurrenz der Unterrichtenden vorbehalten bleiben.
Wichtig scheint es mir, daß die Fach- und Berufsbildung viel früher beginne, als es gegenwärtig üblich ist. Die Masse der für den Beruf zu erwerbenden Spezialkenntnisse, die eben nur in der Jugend leicht angeeignet wird, rechtfertigt dies hinreichend. Es muß aber auch wesentlich zur Charakterbildung beitragen, wenn der junge Mensch frühzeitig den Ernst und die Verantwortlichkeit des Lebens kennen lernt. Die Erwerbung einer umfassendem allgemeinen Bildung, für welche der Gymnasiast seinem physischen Alter nach nicht reif ist, da ihm das Wichtigste und Aufklärendste verschwiegen werden muß, fällt zweckmäßig dem Erwachsenen als eigene Angelegenheit zu. Der Erwachsene lernt ja bei den heutigen Behelfen manches spielend und sich unterhaltend, was dem Gymnasiasten lange Zeit und viel Überwindung kostet.
Auch das Bildungsniveau und die Berufswahl der Frauen soll in keiner Weise beschränkt werden. Die Hindernisse, die man aus Besorgnis vor der Konkurrenz und dem Einfluß der Frauen hier auftürmt, werden auf die Dauer dem nivellierenden Zug der Zeit nicht widerstehen. Diese Bewegung kann man verzögern, aber nicht aufhalten, und niemand wird viel Ehre davon haben, der es versucht. Die Gefahr dieser Wandlung wird gewiß übertrieben und überschätzt. Was für ein Unglück soll daraus entstehen, wenn die Frauen, welche doch gewiß in der Konsumtion der Güter mit uns konkurrieren, auch an unserer Arbeit teilnehmen? Die Natur wird mit dem Problem des Gleichgewichts der Geschlechter schon zu stande kommen. Ohne bedeutenden Einfluß auf alle, selbst politische Verhältnisse ist die Frau auch jetzt nicht. Wer wollte aber den Einfluß einer Frau, welche den Ernst des Lebens und der Arbeit kennen gelernt hat, nicht jenem einer kulturell minderwertigen Frau vorziehen? Die unkultivirte Frau pflegt und bewahrt sorgfältig jede Art von hergebrachtem Aberglauben, bis zur Furcht vor der Zahl 13 und vor dem verschütteten Salz, überträgt denselben gewissenhaft auf die künftige Generation, und ist auch jederzeit das dankbarste Angriffsobjekt für alle Rückschrittsbestrebungen. Wie soll die Menschheit sicher fortschreiten, so lange nicht einmal die Hälfte derselben auf erhellten Wegen wandelt! – 1902.