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Tiefe Ruhe herrschte im stillen Quartier der Rue Mouffetard, als sich mit raschem, festem Schritte ein Mann dem Hause näherte, dessen dritten Stock Madame Raimond bewohnte. Er trug ein Paket in grober Leinwand unter dem Arm und zog mit der gewohnten Sicherheit eines Hausbewohners die Türglocke. Der alte Schuhflicker erhob sich von seinem Bette und zog in mechanischer Ausübung seines Portierdienstes den Kordon, welcher den Riegel öffnete, indem er zugleich durch das Fenster blickte.
»Guten Abend,« rief George Lefranc mit lauter Stimme, »ich bedaure, Sie gestört zu haben, aber Sie wissen, mein Metier –«
»Gute Nacht, Herr Lefranc,« sagte der Alte gutmütig, »ich freue mich, daß Sie auch endlich zur Ruhe kommen, gute Nacht!«
Und er schloß sein kleines Fenster, während der junge Arbeiter mit leichtem, sicherem Schritt fast unhörbar die schon völlig dunklen Treppen hinaufstieg.
Ebenso leicht und unhörbar öffnete er die Tür des Vorplatzes, stand einen Augenblick lauschend still und klopfte dann mit der Fingerspitze vorsichtig und fast ängstlich an die Tür des Zimmers, welches Madame Bernard bewohnte und aus dessen Schlüsselloch noch ein heller Lichtstrahl hervordrang.
Man hörte einige schnelle Bewegungen in dem Zimmer, die Tür öffnete sich, die junge Frau erschien und sprach lächelnd:
»Ich will sogleich meine Arbeit beenden, Madame Raimond, schelten Sie nicht –«
Ein Ausdruck des Erstaunens erschien auf ihrem Gesicht, als sie den jungen Mann erblickte. Mit einem einzigen scharfen Blick überflog sie seine Gestalt, seine von Ruß geschwärzte Kleidung, sein aufgeregtes Gesicht, das Paket unter seinem Arm.
Dann schlug sie die Augen nieder, und indem sie einen Schritt zurücktrat, ohne jedoch die Türe zu schließen, sagte sie mit ernster Stimme:
»Herr Lefranc, ich hätte nicht erwartet, daß die Freundschaft und das Vertrauen, das ich Ihnen bewiesen, Ihre Achtung vor mir vermindern sollten.«
Der junge Arbeiter errötete tief, rasch aber trat er in das Zimmer und schloß die Tür.
»Luise,« sprach er leise mit raschen Atemzügen, »verzeihen Sie diesen Mangel an Ehrerbietung, hören Sie mich an, ich bringe Ihnen gute Nachricht, etwas, was ich nur zu dieser stillen Nachtzeit Ihnen bringen kann, nur zwei Minuten, ich gehe sogleich wieder, und Sie werden nicht mehr an mir zweifeln.«
Mit einer raschen Bewegung schlug er das grobe Leinentuch auseinander und stellte die darin verborgene kleine Kassette auf den von einer einfachen Lampe erleuchteten Tisch.
Ein Blitz sprühte aus dem Auge der jungen Frau. Sie stieß einen leisen Ausruf triumphierender Freude aus und stürzte mit einer unwillkürlichen Bewegung, wie ein Tiger auf seine Beute, nach dem Tische hin, mit beiden Händen die Kassette erfassend. Dann holte sie tief Atem, schloß einen Augenblick die Augen und drückte die Hände auf die Brust, wie um gewaltsam die Herrschaft über sich selbst wieder zu erlangen.
Als sie die Augen wieder aufschlug, strahlte ihr Blick in sanfter Freude, sie trat zu George heran, reichte ihm die Hand und sprach mit weichem Tone:
»Verzeihung, mein lieber Freund, wenn ich Ihnen in Gedanken Unrecht tat, während Sie mir die Waffen zur Rettung meiner Ehre bringen, und,« fügte sie leicht errötend hinzu, »mir den Weg öffnen zu meinem Glück!«
Sie trat ganz nahe zu ihm heran und lehnte ihren Kopf an seine Brust.
»Luise!« rief er in erschrockenem Tone, indem ein Strom lichten Glücks aus seinem Auge sich ergoß, »sehen Sie meine geschwärzte Bluse!«
Sie antwortete nicht, hob den Kopf ein wenig empor, ohne ihn von seiner Brust zu entfernen, und schlug die Augen mit einem Blick zu ihm auf, der ihn mit zitterndem Wonneschauer erfüllte.
Er beugte sich nieder und drückte innig, aber mit einer gewissen scheuen Zurückhaltung einen Kuß auf ihre leicht geöffneten Lippen.
Einige Augenblicke blieben sie in dieser Umarmung, dann machte sie sich sanft los, sah ihm tief in die Augen und fragte: »Wie kommen Sie, teurer Freund, zu dieser Schatulle? Welchen Gefahren haben Sie sich ausgesetzt für mich!«
»Fragen Sie nicht,« erwiderte er, düster zu Boden blickend, »wenn die Vornehmen gegen uns das ganze Übergewicht ihrer Stellung und ihrer Mittel rücksichtslos gebrauchen, kann es da unrecht sein, wenn wir uns verteidigen mit den Waffen, die uns geblieben sind, mit der List und der Geschicklichkeit, welche die Arbeit uns gibt?«
Er schwieg einen Augenblick.
»Die Kassette ist da,« rief er dann, »welche so wichtiges für Sie enthält, lassen wir das andere.«
»Aber,« sprach sie, einen scharfen Blick auf ihn werfend, »sind Sie sicher, daß nicht Nachforschungen Verdacht erwecken, Ihnen Gefahr bringen könnten, ich wäre untröstlich, wenn Ihre Hingebung für mich Ihnen verderblich –«
»Seien Sie außer Sorgen,« rief er in fast heiterem Tone, »meine Wege wird man mir nicht nachgehen, niemand wird jemals meine Spur finden. – Doch vor allem öffnen wir, damit Sie sehen, ob das von Ihnen Gesuchte wirklich darin enthalten ist! –«
Die junge Frau eilte zu der Kassette. Sie war verschlossen.
»Haben Sie ein eisernes Werkzeug?« fragte er.
Sie blickte umher und reichte ihm dann die Eisenstange, die zum Schüren des Feuers in dem Kamin aufgehängt war.
Er machte mit seinem Taschenmesser einen Einschnitt in die Kassette, steckte die Eisenstange hinein, umwickelte dann das Ganze mit dem dicken Leinentuche, um den Schall zu dämpfen, und mit einem mächtigen Druck seiner nervigen Arme war das Schloß gesprengt.
Er stellte das Kästchen offen auf den Tisch. Sie näherte sich ihm in schüchterner Bewegung.
»Mein Freund,« sagte sie mit leiser, leicht zitternder Stimme, »ich habe kaum Worte, um Ihnen meinen Dank auszusprechen, die Aufgabe meines Lebens soll sein, Sie glücklich zu machen, selbst wenn meine Hoffnung mich täuscht und ich das Gesuchte nicht finden sollte! – Doch nun,« fuhr sie fort, die Augen in reizender Verlegenheit zu ihm aufschlagend, »es wird mir schwer, aber wenn Madame Raimond erwachte – uns hörte – Sie hier fände –«
Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mit einem Ausdruck voll Liebe und Glück blickte er sie an.
»Sie haben recht,« sagte er mit flüsternder Stimme, »sehen Sie nach, ob Sie das Gesuchte finden. Morgen werden Sie mir das erzählen. – Gute Nacht!«
»Noch eins,« rief sie. »Ich muß für Sie vorsichtig sein, – nehmen Sie diese Kassette fort, Sie müssen sie zerbrechen und morgen früh die Stücke weit hinaus vor die Stadt tragen und in den Fluß werfen. Es muß jede Möglichkeit einer Gefahr für Sie ausgeschlossen werden.«
Rasch nahm sie das Kästchen, schüttete seinen Inhalt auf die Kissen ihres Bettes und reichte dasselbe dann dem jungen Manne. Darauf trat sie abermals dicht vor ihn hin, und indem sie ihr Gesicht dem seinen näherte, flüsterte sie:
»Gute Nacht, mein lieber George!« Er hielt mit der einen Hand die Schatulle, legte den anderen Arm um ihre Schultern und drückte schnell seinen Mund auf ihre Lippen.
Ein feuriger Strom schoß in seine Augen, sein ganzer Körper bebte, rasch riß er sich los, und indem er mit kaum hörbarer Stimme hauchte: »Gute Nacht!« verließ er das Zimmer und ging wie trunken mit schwankenden, unsicheren Schritten hinüber nach seiner Wohnung.
Nichts war auf dem Vorplatz zu hören, alles war dunkel, daher hatte der junge Mann, auch wenn er nicht in einem Zustande sich befunden hätte, der die Beobachtung ausschloß, nicht bemerken können, daß die Tür zu dem Zimmer des alten tauben Herrn Martinau nicht vollständig geschlossen war, sondern etwa einen Finger breit offen stand.
Als George in seiner Wohnung verschwunden war, schloß sich diese Tür ohne anderes Geräusch, als ein leises, fast unhörbares Klappen des Schlosses.
Kaum war Antonie allein, so verschwand der weiche, schüchterne und liebevolle Ausdruck von ihrem Gesicht. Ihr Auge blitzte in triumphierendem Stolz, ihn Nasenlöcher öffneten sich weit wie die Nüstern eines edlen Pferdes, das auf der Rennbahn dem Ziele entgegenfliegt, und die in siegesfrohem Lächeln gekräuselte Lippe ließ die glänzenden Zähne sehen.
Sie ergriff die Papiere, welche sie auf ihr Bett geworfen hatte, und trug sie zum Tisch in das Licht der Lampe. Unter den Papieren befanden sich einige Goldrollen.
»Ah,« rief sie lächelnd, »das Angenehme mit dem Nützlichen!«
Sie blickte einen Augenblick ernst vor sich hin.
»Der Arme hat viel Mühe und Gefahr gehabt, er wird noch einigen Kummer zu leiden haben, ich glaube, er liebt mich wirklich, fast hätte er mich gerührt, er soll wenigstens eine materielle Frucht haben!« Und sie trug die Goldrollen in das Schubfach ihrer Kommode.
»Nun, mein Herr Graf Rivero!« rief sie dann, sich vor den Tisch setzend, »Sie werden zufrieden sein! – Zuvor aber will ich diese Dinge ein wenig für mich studieren. Wissen ist Macht, sagt man, und Macht will ich haben, also lernen wir ein wenig, was hier Interessantes verborgen ist.«
Und sie vertiefte sich in die Lektüre der Briefschaften und Notizen, welche vor ihr auf dem Tische lagen.
Bald holte sie Papier und ein kleines Schreibzeug und begann eifrig einzelne Schriftstücke zu kopieren.
Am nächsten Morgen traf sie George wie gewöhnlich auf dem Vorplatz.
Mit glücklichem Lächeln begrüßte sie ihn. »Ich habe gefunden, was ich suchte,« flüsterte sie, »nun kann ich mit Nachdruck mein Recht verfolgen, doch,« fügte sie ernster hinzu, »eine neue Schwierigkeit tritt heran, wie kann ich diese Papiere produzieren, ohne die Frage zu erwecken, auf welche Weise sie in meinen Besitz gekommen?«
Er blickte sie betroffen an.
»Etwas Großes ist immer gewonnen,« sagte sie, »ich kann Ihnen gegenüber den Beweis führen, daß ich schuldlos bin, ein Opfer des Betrugs.«
»Hätte es eines solchen bedurft?« fragte er.
»Für Sie – vielleicht nicht,« erwiderte sie, »für mich war er unerläßlich, wir werden über das alles ruhig sprechen und überlegen, was zu tun ist. Sie sind ja mein Schutz und mein Ratgeber,« fügte sie mit lieblichem Lächeln hinzu, »doch jetzt vor allem eilen Sie, die Kassette fortzubringen, Sie versprechen mir, die Stücke in den Fluß weit vor Paris zu werfen?«
»Ich eile es zu tun,« sagte er, »möchte damit auch die traurige Vergangenheit begraben sein.«
»Meine Hoffnung gehört einer glücklichen Zukunft,« erwiderte sie, ihm die Hand drückend.
Madame Raimond trat aus ihrem Zimmer.
»Die fleißige Jugend beschämt mich,« sagte sie, freundlich die jungen Leute begrüßend, »Sie sind schon so früh auf, Herr George, nach Ihrer gestrigen Nachtarbeit, zu der Sie schon abends aufbrechen mußten?«
»Ich habe einen notwendigen Gang zu tun,« erwiderte der junge Mann, »und ich bin es gewöhnt, wenig zu schlafen. – Auf Wiedersehen heute abend!« rief er, nahm ein kleines Paket aus seinem Zimmer und eilte die Treppe hinab.
»Ein vortrefflicher, braver junger Mann,« rief die alte Frau, ihm nachblickend, »er wird ein musterhafter Ehemann werden, wie es wenige gibt in unseren schlimmen Zeiten,« fügte sie mit einem lächelnd forschenden Blick auf ihre junge Mieterin hinzu. »Doch,« sagte sie, als diese wie verlegen den Kopf abwendete, »ich muß auch ausgehen, um meine Einkäufe zu machen. – Hüten Sie das Haus, mein liebes Kind, und wenn der arme Herr Martineau etwas braucht, so haben Sie wohl die Güte, für ihn zu sorgen.«
Sie nahm ihren Korb, schlug ein kleines Tuch über den Kopf und verließ ebenfalls die Wohnung, um die kleinen Bedürfnisse ihres Haushalts unter den nächsten Hallen einzukaufen.
Antonie ging in ihr Zimmer. »So ist denn diese Fahrt in die Tiefen des Lebens beendet,« sagte sie, »glücklicherweise war es eine absichtliche und freiwillige, ich habe den Schatz gehoben, den ich zu suchen kam, und steige wieder hinauf zur hellen Oberfläche von Glanz und Licht, reicher um einen Talisman, der zu Einfluß und Macht führt!«
Ein leises Klopfen ertönte an ihrer Tür und gleich darauf trat der alte Herr Martineau mit seiner Perücke und seiner blauen Brille herein.
Mit freundlichem Lächeln ging ihm die junge Frau entgegen und fragte ihn mehr noch mit den Blicken als mit der Stimme:
»Womit kann ich Ihnen behilflich sein, mein Herr?« Der alte Mann trat völlig in das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Dann tat er einige Schritte vorwärts und sah sich nach allen Seiten um.
»Ich bitte Sie, Madame,« sagte Herr Martineau mit einem festen, kräftigen und entschiedenen Tone, der sehr wenig Ähnlichkeit mit der krankhaft leisen, matten Stimme hatte, die man bei dem alten Manne zu hören gewohnt war, »ich bitte Sie, mir sogleich diejenigen Papiere zur Einsicht zu übergeben, welche Herr George Lefranc Ihnen gestern in einer kleinen Kassette gebracht hat.«
Die junge Frau blickte wie versteinert diesen Mann an, der in so einfacher Weise von einer tief geheimnisvollen Sache sprach und der in so befehlendem Tone von ihr die Herausgabe einer Sache verlangte, an welche sie so viel Mühe gewendet hatte und auf welche sie so viel Hoffnung setzte.
»Mein Herr,« sagte sie, »ich verstehe Sie nicht, – ich weiß in der Tat nicht –«
»Wir haben gerade eine Stunde Zeit,« sagte Herr Martineau ruhig, »so lange braucht Madame Raimond zu ihrem Ausgange wenigstens, das genügt – hier sind die Papiere völlig geordnet.«
Er trat zu dem Tisch hin, auf welchen die junge Frau das Paket gelegt hatte.
Sie sprang ihm mit blitzenden Augen entgegen und stellte sich vor den Tisch.
»Mein Herr,« rief sie, »ich begreife von Ihrem Benehmen nichts anderes, als daß Sie sich hier in einem fremden Zimmer, in meinem Zimmer, in einer Weise betragen –«
»Zu der ich das völlige Recht habe, Frau Marchesa Pallanzoni,« sagte Herr Martineau, sich gerade und kräftig aufrichtend, so daß auch die letzte Erinnerung an die zusammengesunkene, gebrechliche Gestalt des alten, kranken Mannes verschwand, zugleich nahm er seine große blaue Brille ab und blickte die junge Frau mit zwei dunklen, völlig gesunden, scharfen und durchdringenden Augen an.
Antonie ließ die zur Abwehr erhobenen Arme sinken und starrte einen Augenblick bewegungslos in dieses völlig fremde, kalte und energische Gesicht, das sich so plötzlich wie durch Zauberei ihr gegenüber befand.
Schnell aber fand sie ihre Fassung wieder, und indem sie mit stolzem Blick den Unbekannten vor ihr maß, sagte sie in ruhigem Tone:
»Es ist jedenfalls Ihr Recht, mein Herr, sich das Vergnügen aller möglichen Verkleidungen zu machen – und Sie scheinen darin einige Geschicklichkeit zu besitzen, ich muß Sie nunmehr aber bestimmt bitten, dies Zimmer, welches das meinige ist, zu verlassen.«
Der Unbekannte, welcher sich aus der Hülle des alten Herrn Martineau entpuppt hatte, zog eine Karte aus der Brusttasche seines Rockes und hielt sie der jungen Frau hin.
»Sie werden sich hierdurch überzeugen, Madame,« sagte er ruhig, »daß ich ein Recht habe, meine Forderung zu stellen. Es wird nur auf Sie ankommen, ob Sie dieselbe gutwillig erfüllen wollen oder ob Sie mich zwingen wollen, andere Mittel zu gebrauchen, deren Folge die gerichtliche Erörterung darüber sein würde, welchen Anteil die Frau Marchesa Pallanzoni an einem gewissen Kassettendiebstahl hat und in welchem Zusammenhange dieselbe Frau Marchesa mit einer Dame steht, die vor einem Jahre als Madame Balzer in Wien lebte. – Sie sehen also, fernere Zögerung wird uns nur die kostbare Zeit verlieren lassen.«
Antonie sank in sich zusammen, aschfahle Blässe bedeckte ihr Gesicht, sie war keines Wortes mächtig und hielt sich mit den zitternden Händen am Rande des Tisches.
Ruhig und mit einer gewissen weltmännischen Artigkeit zog der Mann einen Stuhl herbei, auf welchen sie sich kraftlos niederfallen ließ.
Er trat dann an den Tisch und öffnete das auf demselben befindliche Paket. Sie verfolgte seine Bewegungen mit starrem Blick, nur ein dumpfes Stöhnen drang aus ihren krampfhaft verzerrten, bleichen Lippen.
»Seien Sie übrigens unbesorgt, Madame,« sagte der Unbekannte, welcher sich vor den Tisch gesetzt hatte und die einzelnen Papiere durchsah, »es ist nicht meine Absicht, Ihnen diese Dokumente, deren Besitz für Sie wertvoll ist, zu nehmen, ich will nur deren Inhalt kennen und von den für mich bedeutungsvollen Papieren eine Abschrift nehmen.«
Antonie sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blick an. Ihre Züge wurden freier, die Farbe trat in ihre Wangen zurück und ein fast unmerkliches feines Lächeln spielte um ihre Lippen. Es lag auf ihrem Gesicht wie ein Ausdruck der Bewunderung für diesen Vertreter einer geheimnisvollen Macht, welcher sie an List, Gewandtheit und Verstellung überboten hatte.
»Sie haben mir,« sagte der Mann, »meine Aufgabe erleichtert, indem Sie die Kopien, deren ich bedarf, bereits gemacht haben, sie sind genau und richtig, wir können unser Geschäft abkürzen, indem Sie mir erlauben, diese Kopien mit mir zu nehmen. Sie werden nur die Mühe haben, sie noch einmal zu machen, dafür aber um so schneller die Freiheit haben, diesen für Sie gewiß nicht anziehenden Ort zu verlassen.«
Antonie hatte ihre vollständige Ruhe wiedergewonnen. Mit einer leichten Neigung des Kopfes gab sie das Zeichen des Einverständnisses. Der Fremde stand auf, nachdem er die Kopien in die Tasche seines Rockes gesteckt hatte.
»Unser Geschäft ist beendet, Madame,« sagte er, »und ich will Sie keinen Augenblick länger aufhalten, – erlauben Sie mir indes, Ihnen noch einen Rat zu geben.«
Antonie sah ihn erwartungsvoll an.
»Sie beschäftigen sich mit politischen Dingen,« fuhr er fort, »und – wie ich soeben gesehen habe, mit großem Geschick und Erfolg; dagegen ist nun an sich gar nichts zu erinnern; sollten Sie jedoch bei dieser Beschäftigung falsche Wege einschlagen, so wird man Sie warnen, beachten Sie solche Warnung, vielleicht wird sie Ihnen durch mich kommen, vielleicht auf anderem Wege, hüten Sie sich, derselben entgegen zu handeln, denn die Folgen würden schwer auf die Marchesa Pallanzoni – und Madame Balzer zurückfallen.«
Antonie neigte schweigend den Kopf. Der Unbekannte zog ein Blatt Papier aus der Tasche und reichte es der jungen Frau.
»Hier, Madame,« sagte er, »ist eine Adresse, bedürfen Sie einer Aufklärung, eines Rates, so schreiben Sie zwei Worte an diese Adresse und Sie werden befriedigende Antwort erhalten.«
Antonie blickte auf das Papier und las: Mademoiselle Pierrine Chamart, Couturière, Boulevard du Temple 13.«
Sie lächelte.
»Vielleicht wird man zuweilen von Ihrer Geschicklichkeit einen Dienst wünschen,« fuhr der Mann fort, »man wird sich an Sie wenden und für jeden geleisteten Dienst sich bei jeder Gelegenheit erkenntlich beweisen.«
Mit einem scharfen Blick, in welchem ein schneller Blitz aufleuchtete, neigte sie zustimmend den Kopf.
»So habe ich mich nur noch der Frau Marchesa ehrerbietigst zu empfehlen,« sagte der Fremde in ruhigem Tone und ohne jeden Anklang von Ironie, dann setzte er seine blaue Brille wieder auf, in wenig Augenblicken war seine feste und gerade Gestalt zu kränklicher Gebrechlichkeit zusammengesunken und langsam die Türe öffnend ging er über den Vorplatz nach seinem Zimmer hin.
Antonie blieb auf ihrem Stuhle sitzen und blickte wie träumend vor sich nieder.
»Ich hatte geglaubt,« sagte sie nach einigen Augenblicken mit tonloser Stimme, »meine Flügel ausbreiten zu können zum kühnen Flug nach den Höhen des Lebens – und da hängt sich abermals diese Kette der Vergangenheit mit bleiernem Gewicht und unzerreißbar an meinen Fuß! – Ist es denn unmöglich,« rief sie aufstehend mit funkelndem Auge, »dies Gespenst der eigenen Vergangenheit zu bannen, das uns folgt und seinen Schatten drohend auf die hellen Bilder der Gegenwart und die Hoffnungen der Zukunft wirft?!«
Sie schritt in tiefen Gedanken auf und nieder – finsteres Sinnen lag auf ihren Zügen.
Endlich blieb sie stehen, ein feines Lächeln spielte um ihre Lippen, ein befriedigender Gedanke schien in ihrem Geist aufzutauchen.
»Vielleicht aber kann diese neue Kette, die ich da entdeckt habe,« sagte sie flüsternd, »dazu dienen, jene andere zu zerreißen, welche meinen Willen und meine Bewegungen fesselt. – Zwei Kräfte kann man beherrschen, indem man die eine durch die andere bekämpfen läßt, wohlan – ich will meiner Geschicklichkeit vertrauen! Ah! mein Herr Graf von Rivero, vielleicht habe ich da das Mittel gefunden, mich Ihrer stolzen Herrschaft zu entziehen!«
Sie nahm das Paket vom Tische und die Goldrollen aus dem Schubfach und ließ beides in die Tasche ihres Kleides gleiten. Dann warf sie einen letzten Blick in dieses Zimmer, das eine Zeitlang ihre Gedanken, Erinnerungen und Zukunftsträume eingeschlossen hatte, und stieg rasch die Treppe hinab.
Freundlich grüßte sie den alten Schuhflicker in der Portierloge, verließ das Haus und schritt schnell, das Gesicht dicht mit dem kurzen dunklen Schleier verhüllt, den eleganten Stadtteilen von Paris zu.
Einige Augenblicke später stieg der alte Herr Martineau hinab. Zitternd und vorsichtig mit dem Stock vor sich her tastend, schickte er sich an, seinen kurzen täglichen Spaziergang zu machen.
Still und einsilbig saßen am Abend George Lefranc und Herr Martineau bei Madame Raimond in deren kleinem Zimmer um den von der geselligen Lampe erleuchteten Tisch. Unruhig blickte die alte Frau nach der Türe, düster starrte der junge Arbeiter vor sich, mit seinem immer gleichen, ruhigen und verbindlichen Lächeln sah der alte Mann mit der blauen Brille da.
»Unsere liebenswürdige Freundin läßt lange auf sich warten,« sagte er endlich mit seiner dünnen, kränklichen Stimme.
George stand auf. Die Hände zusammenballend, trat er an das Fenster und blickte schweigend in die tiefer und tiefer herabsinkende Nacht hinaus.
»Ich begreife das nicht,« sagte Madame Raimond, »sie ist vormittags ausgegangen und ist doch sonst niemals abends fortgeblieben, mein Gott, sollte es möglich sein, daß ihr ein Unglück zugestoßen wäre?«
Mit rascher Wendung trat George in das Zimmer zurück. Eine unsägliche Angst sprach aus seinen groß geöffneten Augen, seine Lippen bebten, Leichenblässe lag auf seinen Zügen.
»Haben Sie eine Idee, wohin sie gegangen sein kann, Madame Raimond?« fragte er mit zitternder Stimme.
»Nein, nicht im geringsten,« sagte die alte Frau, »seit sie hier ist, ging sie nur aus, um ihre Arbeiten fortzutragen, wie ich glaube in die Nähe der Boulevards.«
»Man müßte sie suchen!« rief der junge Mann. »Was könnte das helfen?« fragte Madame Raimond, »wie wollte man sie in diesem großen Paris finden, wenn ihr wirklich etwas widerfahren wäre, und wenn das nicht der Fall ist – was der Himmel gebe – so wird sie kommen.«
»Es ist wahr,« sagte George leise, »während man auf den Straßen umherliefe, würde sie kommen.«
Und wie überwältigt von seiner Unruhe und Aufregung verließ er das Zimmer, um in der Einsamkeit Ruhe und Fassung zu suchen diesem unerklärlichen Ausbleiben derjenigen gegenüber, an welche sich sein Herz mit allen seinen Lebensfasern festgerankt hatte.
Mitleidig sah ihm die alte Frau nach. »Der arme, junge Mensch,« sagte sie vor sich hin, »er liebt sie so sehr, wie entsetzlich, wenn ihr ein Unglück begegnet sein sollte!« George war auf den Vorplatz getreten und schritt nach seinem Zimmer hin.
Leise öffnete sich die äußere Türe. George eilte von froher Hoffnung durchschauert rasch derselben zu.
Ein Mann in der Tracht der öffentlichen Dienstmänner trat ein.
»Herr George Lefranc?« fragte er.
George nickte erstaunt und enttäuscht mit dem Kopf. »Eine Dame,« sagte der Mann, »hat mir dies Paket für Herrn George Lefranc – allein für ihn – gegeben, und diesen Brief für Madame Raimond, die ja wohl auch hier wohnt.«
Er reichte dem jungen Arbeiter ein kleines, ziemlich schweres Paket und einen Brief.
Zitternd vor banger Aufregung rief George: »Wo war die Dame, wo hat sie Ihnen dies gegeben?«
»An der Ecke der Rue de Rivoli und der Rue Royale,« erwiderte der Mann unbefangen.
»Und wohin ist die Dame gegangen?«
»Das habe ich nicht bemerkt, sobald ich meinen Auftrag und die Bezahlung dafür erhalten, habe ich mich auf den Weg hierher gemacht.«
»Es ist also nicht lange her, daß Sie die Dame gesehen?«
»Eine halbe Stunde,« sagte der Mann, und da George schwieg, so grüßte er höflich und stieg die Treppe wieder hinab.
Der junge Arbeiter machte eine Bewegung, als wolle er ihm nacheilen, dann aber trat er in sein Zimmer ein, zündete schnell ein Licht an und öffnete das kleine für ihn bestimmte Paket.
Es enthielt einige Goldrollen und ein beschriebenes Papier. Hastig näherte er dasselbe dem Licht und las:
»Mein teurer Freund! Als ich meine Wohnung heute verließ, begegnete ich in der Nähe meines Hauses meinem Oheim, von dem ich Ihnen gesprochen. Er hatte meine Spur, ich weiß nicht wie, gefunden und verlangt meine sofortige Rückkehr zu ihm, da meine persönliche Anwesenheit für Familienakte, die mit Erbschaftsangelegenheiten zusammenhängen, notwendig ist. Er hat als Stellvertreter meines Vaters Macht über mich, auch wage ich nicht durch Widerstand Aufsehen zu erregen, besonders aus Rücksicht auf die Verhältnisse, welche Sie kennen. Ich folge ihm also, nicht auf lange. Beunruhigen Sie sich nicht und suchen Sie mich nicht, ich kehre bald zurück – zu meinem Freunde. – Ich hatte den Inhalt der Gabe Ihrer Freundschaft mit mir genommen, um ihn in Sicherheit zu haben, es befand sich darunter auch dasjenige, was ich Ihnen hierbei sende, verwenden Sie es zu einem guten Zweck.
Auf Wiedersehen Ihre Freundin Louise.«
Lange blickte der junge Mann starr und still auf diese augenscheinlich in großer Eile auf das Papier geworfenen Zeilen.
»Warum gerade heute?« flüsterte er, »heute, nachdem sie jene Briefe erhalten, nachdem ich für sie –«
Er sprang auf und preßte beide Hände gegen die Stirn. »Welches Dunkel umgibt so plötzlich den hellen Lichtkreis meiner Hoffnungen!« rief er mit tiefschmerzlichem Ausdruck. Langsam ließ er die Hände sinken und neigte gedankenvoll den Kopf. »Was wäre die Liebe,« sprach er, »ohne Vertrauen? und ich liebe sie, o ich liebe sie so sehr! – Also will ich auch an sie glauben, mein Vertrauen soll nicht erschüttert werden!«
Seine Züge nahmen den Ausdruck eines ruhigen, festen Entschlusses an, mit einem gewissen widerwilligen Schauder ergriff er die Goldrollen und schloß sie in das Schubfach des einfachen Tisches. Dann nahm er den für Madame Raimond bestimmten Brief und kehrte in das Zimmer der alten Frau zurück.
»Wir können ohne Sorge um Madame Bernard sein,« sagte er mit festem, zuversichtlichem Tone, »sie hat unvermutet einen Verwandten getroffen, mit dem sie sogleich und ohne Vorbereitung hat abreisen müssen. Binnen kurzem wird sie zurückkehren. Ein Bote brachte mir soeben die Nachricht und diesen Brief für Sie.« Er übergab der alten Frau das Schreiben.
Diese setzte ihre Brille auf und durchflog den kurzen Inhalt. »Nun,« sagte sie dann, »es tut mir sehr leid, daß sie einige Zeit fort ist, ich begreife nicht, wie das alles so gekommen ist, ich werde ihre Sachen, wie sie bittet, gut aufbewahren, bis zum Ende des Monats hat sie alles pünktlich vorausbezahlt, das gute Kind. – Sie müssen sich ein wenig in der Geduld üben, Herr George,« sagte sie freundlich lächelnd.
»Unserer Freundin ist nichts Unangenehmes begegnet?« fragte Herr Martineau in seiner bescheidenen, verbindlichen Weise. Madame Raimond schüttelte den Kopf. Dann trennte sich der kleine Kreis still und traurig. Bis zum Morgen saß George in seinem Zimmer – immer und immer wieder las er die wenigen Zeilen und rief vor seinem inneren Blick das Bild der Geliebten herauf, mit aller Kraft des Willens es immer wieder rein und klar heraushebend aus den Nebeln des Zweifels, welche es verdunkeln wollten.