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Trübe waren die Tage dahingezogen in der Wohnung der Madame Raimond in der Rue des Mouffetards, seit die junge Frau daraus verschwunden war, welche den kleinen Kreis mit lichtem und anmutigem Leben erfüllt hatte. Man fand sich wohl in den nächsten Tagen nach ihrer Entfernung abends noch in dem kleinen Stübchen der Hauswirtin zusammen, aber es war kalt dort und öde wie auf einer Herbstflur, nachdem die kleinen Blüten des Sommers vom ersten Frost getötet worden, man sprach kaum, und wenn man sprach, so sprach man von der, welche jetzt nicht da war und deren Rückkehr man von Tag zu Tag vergeblich erhoffte. Bald war dann die Unterhaltung wieder zu Ende, Madame Raimond nickte früher als gewöhnlich ein und George Lefranc blieb dann in tiefem Sinnen neben ihr sitzen, es schien, als könne er sich von der Stelle nicht trennen, auf der er früher seine Freundin zu sehen gewohnt gewesen, als klammere er sich mit seinen Erinnerungen und seinen Hoffnungen an dieses kleine Zimmer, welches ihm noch immer von dem duftigen Hauch ihrer Anwesenheit erfüllt schien und in welches er stets hoffte sie wieder eintreten zu sehen. Nur der alte Herr Martineau saß gleichmäßig und ruhig lächelnd in freundlicher Schweigsamkeit wie immer auf seinem Platze, und wenn er pünktlich zur gleichen Stunde aufstand, um sich in sein Zimmer zurückzuziehen, so sprach er in wohlgesetzten Worten den Wunsch aus, daß die liebenswürdige Madame Bernard bald wieder zurückkehren möge, worauf Madame Raimond mit einem müden Kopfnicken und George mit einem tiefen schmerzlichen Seufzer antwortete. Nach einigen Tagen aber erhielt Herr Martineau einen Brief von einem Advokaten aus Meaux, der ihn aufforderte, dorthin zu kommen, um über die Schritte zur Rettung einer bereits als verloren betrachteten Forderung zu beraten. Der alte Herr war unzufrieden über diese Reise, namentlich da ihm die Wahrscheinlichkeit eines längeren Aufenthalts angedeutet wurde, indes, er mußte sich entschließen abzureisen, bezahlte das Zimmer für den Monat und erklärte, daß, wenn er wiederkäme, er jedenfalls wieder in das Haus der Madame Raimond ziehe. Dann war er von George Lefranc zum Bahnhof geleitet worden, und die alte Frau und der junge Arbeiter waren wieder wie vordem ganz allein in dem dritten Stock des alten Hauses.
Der arme George litt furchtbar, und um so tiefer, als er seinen ganzen Kummer und seine ganze Sorge fest in sich verschloß und sich selber kaum einen klaren Blick in den unermeßlichen Abgrund von Schmerz erlaubte, der sich täglich tiefer und tiefer in seinem Innern öffnete.
Er wollte den Glauben behalten an diese Frau, der er sein Herz hingegeben, er wollte nicht zweifeln, und doch stieg diese Flut von banger Unruhe immer näher heran an seine Hoffnung und seinen Mut, die zweifelnden Gedanken ringelten sich immer fester und beengender um das warme Herz voll Glauben und Vertrauen. An jedem Morgen erhob er sich aus unruhigen Träumen voll neuer Zuversicht, er wartete, er wartete von einer Stunde zur anderen auf ihre Rückkehr, auf eine Nachricht, auf irgend ein Zeichen, das sie ihm geben würde; sie mußte ja fühlen, wie sehr er litt in der Pein der Ungewißheit, aber es verging eine Stunde nach der anderen und nichts umgab ihn als das gleichmäßige Treiben der Welt, deren buntbewegtes Leben doch für ihn nur das weite, schweigende Grab war, in welchem er sich allein und einsam befand mit seiner Sehnsucht und seinen ringenden Gedanken. Und wenn dann der Abend hinabsank, wenn sie vor ihm lagen, alle diese stündlich gebrochenen, immer neu emporkeimenden Hoffnungsblüten seines Herzens, dann sank er matt bis in den Tod zusammen, schwarze, finstere Geister umschwebten ihn und gossen eiskalten Schmerz in die Fieberschauer seiner Nerven, und in den Tiefen seiner Seele lebte nur noch der Wunsch, daß mit dem unruhigen Schlummer, in den die Ermattung ihn versinken ließ, sein Denken und Fühlen der ewigen Vernichtung verfallen möge, welche doch wenigstens das Ende aller Leiden sein müßte. Es ist eine entsetzliche Sache, das Warten, das Hoffen, das stündlich erneute aufreibende Kämpfen mit den Zweifeln, mit den Schattengestalten der verhüllten Zukunft. Wenn der schwerste Schlag des Unglücks zerschmetternd auf uns niederfährt, klar und bestimmt, scharf einschneidend in das warme Glück des Lebens, so erhebt sich die mutige Seele eben an der Größe des Unglücks wieder, der Stolz gießt seine Kraft heilend in die Wunden und der Schmerz verklärt sich durch die Erinnerung, wie die schwarze Wolke, die des sinkenden Sonnenlichts verglühender Strahl mit rosigem Schimmer malt. Aber das Warten, das Ringen mit den Zweifeln, welche immer von neuem sich erheben, unfaßbar wie Nebelgebilde und doch riesenhaft und schwer wie die Berge, dies Warten, das zerstört das Mark, den Willen und den Stolz, und in dieses graue, ewig schwankende Dämmern dringt kein verklärender Lichtstrahl, das ist das Leiden, mit welchem die Eifersucht der Olympier den Prometheus strafte, dem, ohnmächtig zwischen Himmel und Erde gefesselt, der unerbittliche Adler die täglich heilende Wunde immer wieder von neuem aufriß.
Am Morgen der großen Revue in Longchamps war der arme George Lefranc, der jetzt oft seine Arbeit versäumte und nur mit gewaltsamer Anstrengung so viel arbeitete, um seine notwendigen Bedürfnisse zu bestreiten, er war hinausgegangen in das dichte Menschengewühl, das sich aus den inneren Stadtteilen nach den Champs-Elysées und dem Bois de Boulogne bewegte, um das glänzende militärische Schauspiel zu sehen, das der Kaiser seinen fürstlichen Gästen vorführen wollte.
In tiefe Gedanken versunken, schritt der junge Arbeiter in dem dichten Strom der laut sprechenden und lachenden Menschen dahin, seine Wangen waren bleich und eingefallen, seine Züge nervös gespannt, glanzlos und düster blickten seine Augen zu Boden, nur von Zeit zu Zeit tauchte sich sein Blick mit fieberhaft-brennendem, ängstlich forschendem Ausdruck in diese Menge von fremden Gesichtern, die ihn umgab, wie unwillkürlich suchend, ob er nicht jene bekannten Züge erblicken würde – jenes Lächeln, jenen berauschenden Blick, dies ganze Bild, das immer und immer vor seinem inneren Auge dastand, stets in neuer Reinheit sich aus den Wolken der Zweifel emporhebend.
So war er hinausgekommen bis zu jener Öffnung des Bois de Boulogne nach der großen Ebene von Longchamps hin, wo über künstliche Felsen die rauschenden Kaskaden hinabfallen, die Luft mit dem sprühenden Wasserstaub erfrischend. Hier hatte jede Bewegung in der gedrängten Masse aufgehört, wie eine lebendige Mauer umgaben diese unzählbaren Tausende von Menschen die weite freie Ebene, auf der man die farbenschimmernden Uniformen und die blitzenden Waffen der Truppenaufstellung im Sonnenlicht funkeln sah. Die Äste der Bäume waren dicht besetzt mit waghalsigen Zuschauern, die von diesen erhöhten, luftigen Sitzen das Schauspiel besser zu erblicken hofften, oft aber durch einen brechenden Ast gezwungen wurden, ihren mühsam erklimmten Platz aufzugeben und den schadenfrohen Hohn der Untenstehenden zu ertragen.
George Lefranc war bis in die Nähe der Kaskaden durchgedrungen und lehnte sich an einen großen Baum, der fast hart an dem Wege stand, der vom Tore von Boulogne herführte und durch Spaliere von Truppen freigehalten wurde.
Aller Augen richteten sich auf diesen Weg, denn von dorther sollte das ganze kaiserliche Cortège herkommen. Bis zum Boulogner Tor war der Kaiser mit dem Kaiser Alexander und die Kaiserin mit dem König Wilhelm gefahren, dort sollten die Souveräne zu Pferde steigen, um sogleich die Musterung der Truppen zu beginnen.
Bereits war die Kronprinzessin von Preußen, welche schon einige Zeit mit ihrem Gemahl in halbem Inkognito in Paris anwesend gewesen, herangefahren in Begleitung ihrer Schwester, der Prinzessin Alice von Hessen. Beide Fürstinnen in einfach weißer Toilette hatten auf der kaiserlichen Tribüne Platz genommen und bildeten den Zielpunkt aller der neugierigen bewaffneten und unbewaffneten Augen, welche sich auf diesen Mittelpunkt richteten, der heute die drei größten Monarchen Europas vereinigen und den Brennpunkt alles politischen Interesses bilden sollte.
In großer Gala, die Livreen und Geschirre von Gold und Silber starrend, waren die Großwürdenträger, die Diplomaten und alle zu den Tribünen Eingeladenen herangefahren und hatten ihre Plätze eingenommen, die ganze Straße war frei und die Ausrufe der Spannung und Erwartung wogten in dem allgemeinen Brausen auf und nieder, das aus diesem unübersehbaren Meer von menschlichen Köpfen emporstieg.
Da ertönte es plötzlich von allen Seiten wie der gewaltige Atemzug eines lauschenden Riesen, und eine zitternd schwankende Bewegung pflanzte sich durch die Menge fort. An der Biegung des Weges von Boulogne sah man die Fähnlein an den Lanzenspitzen der Lanciérs de l'Impératrice und im raschen Trabe sprengten die so zierlichen und so eleganten blauweißen Lanzenreiter heran. Ihnen folgte die offene Kalesche Ihrer Majestät und lächelnd wie der sonnige Tag fuhr die schöne Beherrscherin Frankreichs durch die dichten Menschenreihen an der großen Ebene vorbei um die Tribünen herum, um am Eingange des kaiserlichen Pavillons auszusteigen. Es war nicht nur der offiziell hier und dort ertönende Ruf, welcher die Kaiserin empfing, diese ganze Menge, welche begeistert war durch den Glanz von Paris, durch die laue Luft und den schönen Sommertag, begrüßte mit freudigem, lebhaftem Ruf den prachtvollen und anmutigen Aufzug dieser graziös und lächelnd nach allen Seiten sich verneigenden Frau.
Kaum waren die Equipagen der Kaiserin und der ihr folgenden Damen hinter den Tribünen verschwunden, als man die blitzenden Helme der Hundertgarden an der Ecke des Weges aus dem Blättergrün hervorkommen sah. Langsam bewegten sich in geschlossener Reihe diese prachtvollen Riesengestalten auf ihren fleckenlosen schwarzen Pferden vorwärts, – die Sonne spiegelte sich in ihren Panzern und glühte auf dem Scharlach und Gold ihrer Uniformen.
Etwa zwanzig Schritte hinter der ersten Abteilung dieser prächtigen Kaisergarde ritten die Souveräne heran. In der Mitte die schlanke, hohe Gestalt Alexander II. in der stolzen Haltung, an den gewaltigen Nikolaus erinnernd – aber auf seinem schönen Gesicht ruhte ein weich melancholischer Ernst, der den strengen und ehernen Zügen jenes mächtig und unbeugsam herrschenden Autokraten fremd war. Ruhig und sinnend blickte das tiefe Auge des russischen Kaisers über diese wogende Menge, deren Rufe »Vive I'Empereur!« heute ebenso sehr dem nordischen Gaste als dem Kaiser Napoleon galt.
Zur Rechten des Kaisers Alexander ritt der König Wilhelm von Preußen in seiner soldatisch ritterlichen Haltung auf dem feurigen Pferde. – Sein Gesicht mit dem vollen, weißen Bart erschien heiter und sein klares Auge blickte schon von weit herüber nach den Truppenlinien auf der Ebene, welche ihm ein Bild von der militärischen Macht Frankreichs geben sollten.
Auf der andern Seite sah man den Kaiser Napoleon. Sein schönes, schlankes, hoch elegantes Pferd schritt mit ruhiger, leichter Sicherheit einher, und obwohl der Kaiser ein wenig gebückt im Sattel saß und nicht mehr seine einst berühmte Eleganz als Reiter zeigte, so war doch seine Haltung zu Pferde immer noch jugendlicher und kräftiger, als sie im Gehen oder Stehen erschien. Seine Züge waren müde und abgespannt, trübe und glanzlos blickten seine Augen über den Kopf seines Pferdes hin und nur zuweilen ließ er wie träumend seinen Blick über diese Menschenmenge hingleiten.
Hinter den Souveränen sah man die kräftige, schöne Gestalt des Kronprinzen von Preußen, welcher mit heiterem und lächelndem Ausdruck sich mit dem jugendlichen Cesarewitsch unterhielt, die übrigen fürstlichen Personen folgten in der Nähe des Königs und des Kronprinzen, besonders erregte der Graf von Bismarck in seiner weißen Uniform die Aufmerksamkeit aller Derer, die ihn erkannten, oder denen er gezeigt wurde, niemand aber achtete auf jenen ernsten, stillblickenden Mann in der preußischen Generalsuniform, der neben dem Ministerpräsidenten ritt und den ruhigen Blick hingleiten ließ über die in der Ebene blitzenden und funkelnden Waffen, nach dem Mont Valerien hinauf, der finster und schweigend seinen Festungsbau in den blauen Himmel hineinstreckte.
Wohl hatte man in Frankreich bei der Geschichte des Feldzugs von 1866 und bei der Erwähnung der so peinlich empfundenen Schlacht von Sadowa auch den Namen des Generals von Moltke nennen gehört, aber man hatte zum großen Teil in dem Publikum, das so wenig sich um die Details der Ereignisse kümmert, die sich außerhalb der Grenzen Frankreichs vollziehen, diesen Namen wieder vergessen, und fast unbeachtet blieb der bescheidene Mann in dem Gefolge des Königs. Wie hätten alle diese Tausende erbeben mögen, und mit welcher Spannung hätten sich alle diese Blicke auf den schweigenden Heereslenker gerichtet, wenn eine Geisterhand den Schleier der Zukunft hätte lüften können und das Bild dieses Mannes erscheinen lassen, wie er mit unwiderstehlichem Siegesschritt die deutschen Heere bis vor Paris führen und die Hand von jenem drohenden Mont Valerien herab zwingend über die gährende Hauptstadt strecken würde.
Doch die Zukunft war verhüllt und alle Blicke richteten sich, nachdem die Monarchen vorüber waren, nun auf diese zahllose strahlende Suite, welche sich wie ein Pfauenschweif glänzend ausbreitete und noch lange an den Reihen der Neugierigen dahin zog.
Bei der Annäherung der Monarchen ging eine rasselnde und klirrende Bewegung durch die sechzigtausend Mann, welche dort auf der weiten Ebene unter den Waffen standen. Der greise Marschall Regnault de Saint Jean d'Angely, der die Garben kommandierte, und der Marschall Canrobert, der die in Parade stehenden Linientruppen befehligte, ritten mit ihrem zahlreichen und glänzenden Stabe den Souveränen entgegen.
Als dieselben, und zwar der Kaiser Napoleon links, den Truppen zunächst reitend, an dem Ende der Aufstellung erschienen, da machte diese ganz unabsehbare Linie die Honneurs, die Trommeln wirbelten, die Trompeten schmetterten in einer im Augenblick alles übertäubenden Fanfare, und zum erstenmal in diesem Moment färbte sich das blasse Gesicht Napoleons mit einer leicht hinfliegenden Röte und ein stolzer Strahl leuchtete aus dem entschleierten Blick, den er über die glänzenden Kriegerreihen schweifen ließ, diese Elite seiner Armee, die Träger der Ruhmestraditionen aus der großen Zeit seines großen Oheims.
Dann begannen die Musikkorps der ersten Regimenter die ernsten, feierlich ergreifenden Töne der russischen Nationalhymne zu intonieren. Mit verbindlicher Neigung des Hauptes dankte der Kaiser Alexander für diese Aufmerksamkeit und langsam ritten die drei Monarchen mit ihrem Gefolge die Front hinunter.
Während dieses Umzuges, den die Menge der Neugierigen nur aus der Ferne sehen konnte, begann ein Summen und Brausen, der Stimme des bewegten Meeres gleich, aufzusteigen, alle Welt plauderte, man teilte einander seine Bemerkungen mit, man lachte, man scherzte, und alle Welt war froh, glücklich und stolz, daß das kaiserliche Frankreich solchen Glanz entwickeln könne, und daß die fremden Herrscher da waren, diesen Glanz zu bewundern und den Eindruck desselben in ihre fernen Reiche zurück zu tragen.
Auch der fenische General Cluseret und der junge Raoul Rigault waren da, sie standen in der Nähe des Baumes, an welchen George Lefranc sich gelehnt hatte. Mit Blicken voll düsteren Feuers und fest zusammengepreßten Lippen hatte Cluseret den Vorbeiritt der Monarchen angesehen, während Raoul Rigault lächelnd mit dem Ausdruck einer gewissen blasierten Überlegenheit auf diese Entfaltung fürstlicher Pracht hinblickte, das viereckige Glas in das Auge geklemmt und mit dem Stöckchen an seinen Stiefel klopfend.
»Da ziehen sie hin,« sagte Cluseret mit gepreßter, dumpfer Stimme, »diese Tyrannen dreier großer Völker, und um sie her vereinigen sich die verblendeten Verteidiger ihrer unnatürlichen Macht, bewaffnet und gerüstet, um für das Joch der eigenen Sklaverei ihr Blut zu vergießen, und alle diese blöde, törichte Menge jubelt ihnen zu – glauben Sie noch, mein Freund,« fragte er mit bitterem Lachen, »daß dies ganze so künstlich und fest gefügte Gebäude von Macht und Herrschaft ohne eine gewaltsame, wohl geleitete, militärisch organisierte Revolution zertrümmert werden könne?«
»Bah,« sagte Raoul Rigault wegwerfend, »Sie haben sich in Amerika entwöhnt, mein General, diesen Flitter zu sehen; wenn man daran gewöhnt ist, blendet das nicht mehr; würden Sie plötzlich und unerwartet diese Monarchie angreifen, so würden gewohnheitsmäßig alle diese Soldaten wie die Löwen für ihren kaiserlichen Fetisch fechten und diese ganze törichte Menge würde sich noch mit in die Armee einreihen lassen, um nur diesen schönen Thron zu erhalten, der so hübsch in der Sonne glitzert und von dem so niedliche Bändchen und Kreuzchen herabfallen, der Angriff würde nur dazu beitragen, das Gebäude zu befestigen. – Das alles aber fällt und bröckelt auseinander, wenn man sich nur die Zeit nimmt, es ruhig von unten auf zu unterwühlen. Immer chemisch muß man verfahren,« sagte er mit zynischem Lächeln, »Schwefelsäure und Scheidewasser in die Fugen des Baues gießen, und wenn er dann morsch und zerfressen genug ist, eine starke Erschütterung und das alles wird in Staub zerfallen.«
Er sah umher und ließ seinen Blick einen Moment auf einem jungen, bleichen Menschen mit blondem Haar von gedrungener Gestalt ruhen, der aus der Menge hervorgetreten war und mit seinen fieberhaft glühenden Augen nach der Ebene herabsah, während ein kaltes, unheimliches Lächeln um seinen dünnen, festgeschlossenen Lippen spielte.
Raoul Rigault wendete sich zu Cluseret.
»Lassen Sie uns ein wenig dort hinübergehen,« sagte er, »wir werden dort besser sehen, und hier möchte später ein großes Gedränge entstehen.«
Und indem er seinen Arm in den des Fenierführers legte, führte er ihn weiter hinab nach der Ebene zu.
Die Monarchen hatten ihren Umritt beendet und näherten sich wieder der kaiserlichen Tribüne – Kaiser Alexander sprengte in kurzem Galopp voran bis unter die Brüstung der Tribüne und grüßte in militärischer Weise, König Wilhelm folgte ihm sogleich, während der Kaiser Napoleon, eine Pferdelänge zurückbleibend, etwas zur Seite hielt.
Die Kaiserin erhob sich – ihre Augen strahlten voll Glück und Stolz über diese weite Ebene, über diese glänzenden Truppen und über die unzählbare Menschenmenge hin und senkten sich dann herab auf diese mächtigen Monarchen aus der alten Familie der Könige Europas, die in ritterlicher Courtoisie ihr ihre Huldigung darbrachten. Mit reizendem Lächeln neigte sie den schlanken Hals in anmutiger Bewegung gegen den Kaiser und den König und wendete sich dann mit einer kurzen Bemerkung an die Kronprinzessin von Preußen, welche in natürlich herzlicher Weise ihrem hinter seinem königlichen Vater herangerittenen Gemahl zunickte.
Der Kaiser Napoleon sprengte an den Kaiser Alexander heran. Dieser und der König wendeten sich mit nochmaligem Gruß gegen die Kaiserin der Truppenaufstellung zu, die Suite gruppierte sich um die Monarchen rechts und links von der Tribüne und der Vorbeimarsch begann.
Prachtvoll war der Anblick dieser vor den Souveränen vorbeimarschierenden Elite-Truppen, die hellen, fröhlichen Märsche der Regimentsmusik, die wiehernden Pferde, die rasselnden Kanonen, das alles steigerte die Stimmung der Zuschauer zu immer höherer Begeisterung und jedes Regiment wurde mit jubelndem Zuruf begrüßt, besonders aber, wenn die vor ihm her flatternden, zerschossenen und zerfetzten Fahnen zeigten, daß es oft auf den Schlachtfeldern dem Feinde gegenübergestanden hatte.
Mit strahlenden Blicken sah die Kaiserin herab auf die vorüberziehenden Truppen, welche beim Heranmarschieren den Kaiser mit lauten Rufen und dem Schwenken der Waffen begrüßten; mit abgespannter Gleichgültigkeit saß Napoleon auf seinem Pferde, gedankenvoll sinnend blickte Kaiser Alexander auf die vorüberziehenden Regimenter, während der König Wilhelm mit scharfer Aufmerksamkeit jede Bewegung verfolgte. Oft zuckte es seltsam um den Mund des so fest und soldatisch im Sattel aufgerichteten Herrn, wenn ein Bataillon im Augenblick des Vorbeimarsches fast eine elliptisch gekrümmte Linie bildete – aber mit immer gleicher Aufmerksamkeit blickte er der nächst heranrückenden Abteilung entgegen, die Fahnen mit der Hand am Helme grüßend.
Als der Parademarsch beendet war, zogen sich sämtliche Kavallerieregimenter auf die dem kaiserlichen Pavillon gegenüberliegende Seite der von der Infanterie und Artillerie vollständig geräumten Wiese zurück und bildeten eine einzige, lange Linie. In gestreckter Karriere sprengte diese ganze, ungeheure Front von Reitern auf ihren schnaubenden, durch den Vorbeimarsch erhitzten und aufgeregten Pferden über die Ebene hin, dem kaiserlichen Pavillon entgegen. Die Erde erbebte unter dem furchtbaren Choc, das Rasseln der Waffen, der dröhnende Hufschlag der Pferde wurde aber übertäubt von dem vieltausendstimmigen Jubelruf der Menge, welche diese überraschende und im funkelnden Sonnenlicht wunderbar schöne Evolution begrüßte. Wenige Schritte von den Monarchen hielt urplötzlich diese ganze in rasendem Ritt vorsprengende Linie an – die Pferde bogen sich zusammen unter dem gewaltigen Parieren – aber die Linie stand, salutierend vor dem Kaiser und seinen Gästen.
Man sah nun die Souveräne absteigen und zu der kaiserlichen Tribüne herantreten, die beiden Herrscher von Rußland und Preußen küßten der Kaiserin die Hand, der Kaiser begrüßte die Kronprinzessin und die anderen fürstlichen Damen, einige Erfrischungen wurden serviert, die Equipagen näherten sich, des Winkes zum Vorfahren gewärtig.
Die Menge begann hin und her zu fluten, teils fing man an nach Paris zurückzukehren, teils drängte man an die Tribünen heran, um die Abfahrt der Herrschaften zu sehen, nur mit der größten Mühe gelang es, den Weg an den Kaskaden vorbei für den Hof und seine Gäste freizuhalten.
Nach kurzer Zeit rangierten sich die Hundertgarben, der Wagen des Kaisers fuhr vor die Tribüne.
Napoleon verabschiedete sich von König Wilhelm und den fürstlichen Damen und stieg mit dem Kaiser Alexander ein, während der König mit der Kaiserin plaudernd auf der Tribüne stehen blieb, bis die Abfahrt des Cortège die Annäherung der Equipage der Kaiserin erlaubte.
Die Hundertgarden sprengten voran und in raschestem Trabe fuhren die beiden Kaiser an den Tribünen vorbei um die Ebene herum und näherten sich den Kaskaden. Hier war die Menge dichter zusammengedrängt, der Weg stieg etwas aufwärts und der kaiserliche Wagen fuhr einen Augenblick im Schritt.
Da trat plötzlich jener bleiche, junge Mann, welcher vorher den Blick von Raoul Rigault auf sich gezogen hatte, einen Schritt aus der Menge hervor und fast dicht an den kaiserlichen Wagen heran, rasch erhob er den Arm und man hörte die leichte Detonation eines Pistolenschusses. Die Nachstehenden blieben in starrem Entsetzen wie gebannt stehen, im Augenblick standen die Hundertgarden, welche etwa zwanzig Schritt voran waren, still, um im nächsten Moment nach dem Orte der Detonation zurückzuspringen, ein flammender Blitz leuchtete im Auge Napoleons auf, ein Ausdruck von stolzer, mutiger Willenskraft erschien auf seinem Gesicht, schnell erhob er sich im Wagen, als wolle er mit seiner Person den Kaiser von Rußland decken, und stand so diesem bleichen, zitternden, jungen Menschen gegenüber, der den Arm mit der Pistole noch immer erhoben hatte.
Dies alles war das Werk einer Sekunde.
Eine zweite Detonation erfolgte.
Aber bevor dies geschah, hatte sich der Stallmeister Raimbeaux mit einem gewaltigen Satz seines Pferdes zwischen den Unbekannten und den Wagen geworfen, kaum war der Schuß gefallen, so sah man das Pferd sich zuckend aufbäumen und ein Blutstrahl schoß aus seinem Kopfe hervor, den Wagen des Kaisers mit einem roten Tau überspritzend.
Nach der ersten Erstarrung war Leben in die Menge gekommen. Die Umstehenden hatten sich auf den Unbekannten gestürzt und ihm das Pistol aus der Hand gerissen, man hörte Ausrufe der Verwünschung – der junge Mensch stand mit kaltem Lächeln da unter den Händen der empörten Pariser, geballte Fäuste erhoben sich drohend gegen ihn, er machte keine Bewegung der Abwehr oder Flucht – ein Bild kalter, trotziger Resignation.
Die Hundertgarden waren herangesprengt – man übergab ihnen den Verbrecher, den sie schnell in ihren Kreis einschlossen.
Kaiser Alexander hatte ruhig in tiefem Ernst mit seinen großen, gedankenvollen Augen auf die ganze Szene geblickt.
»Ich wünsche Eurer Majestät Glück,« sagte er mit einem weichen, fast melancholischen Lächeln, »es hat glücklicherweise Nichts zu bedeuten!«
»Mein Gott,« rief Napoleon, »welch ein bedauernswerter Vorfall!« – und er winkte den Stallmeister Raimbeaux heran, der sein verwundetes Pferd mit dem eines Hundertgarden vertauscht hatte und sich von dem den Verbrecher umgebenden Kreise her wieder dem Wagen näherte.
»Weiß man, wer es ist?« fragte der Kaiser. »Er nennt sich Berezowski, Sire,« sagte der Stallmeister, »und ist ein Pole!«
Noch tieferer Ernst legte sich über das schöne Gesicht des Kaisers Alexander, schmerzvoll zuckten seine Lippen und mit unaussprechlich traurigem Ausdruck richtete sich sein Blick einen Moment zum Himmel empor.
»Also galt es mir« – sagte er dann mit sanfter Stimme, »ich bedaure tief, das Leben Eurer Majestät in Gefahr gebracht zu haben.«
Napoleon hatte sich wieder niedergesetzt und sprach mit verbindlichem Lächeln: »Wir sind miteinander im Feuer gewesen, Sire, wir sind also Alliierte.«
Kaiser Alexander neigte schweigend das Haupt. »Sie sind nicht verwundet, mein Herr?« sagte er dann, sich zu dem Stallmeister Raimbeaux wendend, »Sie haben sich so kühn den Kugeln entgegengeworfen, vielleicht danke ich Ihnen mein Leben, jedenfalls werde ich niemals diesen Beweis von Mut und Entschlossenheit vergessen!« Napoleon hatte einen Blick rückwärts geworfen, man sah die Lanzenfähnlein der Lanciers de l'Impératrice sich vor dem kaiserlichen Pavillon in Bewegung setzen.
»Vorwärts, vorwärts!« rief der Kaiser, »bevor die Kaiserin und der König hierher kommen.«
Der Verbrecher war inzwischen in einen von seinen Insassen hergegebenen Fiaker gesetzt und von Hundertgarden umgeben auf einem Seitenwege durch das Gehölz fortgeführt, auf den Ruf des Kaisers sprengte die Eskorte vor, die Piqueurs setzten sich in Bewegung »– »Vive l'Empereur!« – »vive l'Empereur Alexandre!« rief die Menge. Die Kaiser grüßten rechts und links, und rasch verschwand das glänzende Cortège im Grün der Bäume.
Die Menge verteilte sich und zog noch weiter nach Paris hin, und als wenige Minuten später die Kaiserin in heiterem Gespräch mit dem Könige von Preußen an dieser Stelle vorüberfuhr, da ließ nichts ahnen, daß so kurz vorher hier ein Ereignis stattgefunden hatte, das bei anderem Ausgange die Lage von Europa verändert hätte.
George Lefranc hatte fast unmittelbar neben dem kaiserlichen Wagen, immer an seinen Baum gelehnt, ruhig dagestanden.
Er sah mit seinem äußeren Auge alle diese Menschen, diesen Glanz der Equipagen und Uniformen, aber das alles drang nicht in seine Seele, sein innerer Blick folgte wie einer zauberischen Vision immer nur einem Bilde, einem Bilde voll Licht, voll Wärme und voll Hoffnung, das sich unablässig vor ihm erhob im Grün der Bäume und im Blau des Himmels, das er immer von neuem wieder forschend suchte, unter all den wogenden und treibenden Menschen, die ihn umdrängten – obwohl er ja gewiß wußte, daß er es nicht finden könne.
Als fast ganz in seiner Nähe der Schuß aus dem Pistol Berezowski ertönte, war er unwillkürlich erschrocken zusammengefahren, aber er hatte sich nicht bewegt, er war nicht wie die anderen herangesprungen, um den jungen Menschen zu erfassen; ruhig blieb er auf seinem Platze stehen, fast ohne sichtbare Erregung die so außergewöhnliche und aufregende Szene betrachtend, welche sich vor seinen Blicken entwickelte. Nur ein halb trauriges, halb bitteres Lächeln spielte um seine Lippen, als die Souveräne weiterfuhren, und mit demselben Lächeln blickte er dem gleich darauf schnell vorbeieilenden Cortège der Kaiserin nach.
»Welch eine Bewegung wäre durch die Welt gegangen,« sprach er leise vor sich hin, »wenn dieser Schuß sein Ziel nicht verfehlt hätte; durch alle Völker wäre der Widerhall dieses Ereignisses gezogen – die Weltgeschichte wäre einen Augenblick auf ihrem Wege stillgestanden, und doch – hätte in all der Unruhe, in all der Bewegung ein Menschenherz in seinem eigensten, inneren Leben wahrhafte, tiefe Erschütterung empfunden, einen Schmerz empfunden, wie ich ihn empfinde bei dem Gedanken an das verlorene Glück? Verloren?« unterbrach er sich, wie einer Anstrengung seines Willens folgend, »warum verloren? – Sie hat mir gesagt, daß sie wiederkommen würde, und was sie mir gesagt, muß wahr sein, denn ich glaube an sie, sie ist rein und treu und wahr wie kein anderes Herz auf Erden, hat sie mir doch gesprochen, wie ich es noch nie gehört, von einem lebendigen, liebevollen Gott, und ihre Worte sind in mein Herz gefallen tief – so tief, kann das alles Lüge sein?«
Sein Auge richtete sich über das Grün der Wipfel zum Himmel empor, das düstere Feuer seines Blickes milderte sich unter einem weichen Hauch, der mit feuchtem Schimmer an seinen Wimpern hing, und leise und innig sprach er: »Ich will an sie glauben – was bliebe meinem Leben ohne diesen Glauben?«
Die Vorübergehenden begannen erstaunte Blicke auf diesen Mann zu werfen, der da an den Baum gelehnt noch immer im leisen Selbstgespräch fast unbeweglich dastand, während hier nichts mehr zu sehen war und alle Welt bereits der Stadt zueilte.
George Lefranc bemerkte diese Blicke und wendete sich langsam der Richtung nach Paris zu, dem Zuge der Menschenmenge folgend, welche auf den Seitenwegen sich bewegte, während die von Longchamps zurückkehrenden Equipagen in zwei Reihen die Mitte der Straße einnahmen.
Kaum hatte er einige Schritte gemacht, als eine in einiger Entfernung vorwärts entstehende Stockung die Wagen zwang, einen Augenblick zu halten – in die düstern Gedanken und die wallenden Gefühle des jungen Mannes hinein tönte heiteres Gelächter und laute Unterhaltung, und dazwischen eine Stimme, eine Stimme, deren Klang er aus Tausenden heraus erkannt hätte, eine Stimme, welche die innerste Saite seines Herzens in zitternde Schwingung versetzte.
Rasch wendete er sich um; auf dem Fahrwege kaum fünf Schritte vor ihm hielt eine zierliche, offene Equipage mit Livreen von äußerster Eleganz; die mit prachtvollen Buketts geschmückten Pferde zitterten vor Ungeduld über die Zögerung unter der festen Hand des Kutschers. Neben dem Wagen hielten zwei Herren zu Pferde, plaudernd und scherzend mit der von Anmut und frischer Eleganz strahlenden Dame, welche, leicht in die seidenen Kissen zurückgelehnt, das schöne Gesicht von dem matten Rosenrot des durch den Sonnenschirm fallenden Lichts überhaucht, zu den beiden Kavalieren halb hochmütig und halb mutwillig hinüberblickte.
Und diese glänzende Schönheit – die Herrin dieser Equipage und dieser Pferde – war Louise Bernard, die arme Arbeiterin aus der Rue Mouffetard – war die einfache, sanfte Freundin des jungen Mannes, welche so freundlich belebend in sein Leben hineingetreten war, welche so viel blühendes Frühlingstreiben in seinem Herzen erweckt hatte, welche verschwunden war, indem sie ihm versprochen hatte, wiederzukehren und seinen Lebensweg mit ihm zu gehen, es war das reine Ideal, dessen Bild ihn umschwebt hatte überall, das er gesucht mit seines Herzens bangender Sehnsucht, an das er geglaubt im felsenfesten Vertrauen seiner Liebe.
Es war nicht ein Schrei, der aus der Brust des armen George hervordrang bei diesem Anblick, es war ein dumpfer, röchelnder Ton wie der leise Todesschrei des nach langer Hetzjagd verendend zusammenbrechenden Wildes. Seine Augen öffneten sich weit und stierten geisterhaft nach dem Bilde hinüber, das da wie eine entsetzliche Vision vor ihm stand, ein kalter Schweiß peilte an der Wurzel seiner Haare, seine Hände öffneten sich, als suchten sie eine Stütze in dem schwindelnden Wirbel, der seine Seele fortriß.
Die Dame im Wagen sah ihn nicht, den armen, zitternden Menschen auf dem Seitenweg unter den Fußgängern, die Stockung der Kommunikation war beseitigt – schneller rückten die Equipagen vor, die schönen Pferde setzten sich tänzelnd in Bewegung und in raschem Trabe verschwand die prachtvolle Equipage der Frau Marchesa Pallanzoni, welche die beiden Herren auf ihren turbettierenden Pferden am Schlage begleiteten.
Es wäre unmöglich zu beschreiben, wie George Lefranc nach Paris zurückkam, wie er in sein einsames, stilles Zimmer in der Rue Mouffetard gelangte, aber eine Stunde später saß er dort vor seinem Tisch, den Kopf in die Arme gestützt und mit den brennenden Augen, durch deren Weiß das feine Geäder blutig unterlaufen hervorschimmerte, immerfort auf den Brief der jungen Frau blickend, den er vor sich hingelegt hatte.
Von Zeit zu Zeit stand er auf – ging mit mechanisch gleichmäßigen Schritten durch das Zimmer, ohne ein Wort, ohne einen anderen Laut als ein schweres, aus den Tiefen der Brust herausdringendes Stöhnen, das grauenvoll in dem kleinen, stillen Raum wiederklang.
Stundenlang hatte er so einsam in seinem Zimmer eingeschlossen zugebracht – die Sonne war herabgesunken und die Dunkelheit begann sich über Paris zu legen, während der Mond mit seinem weichen Licht die Kuppeln der Türme und die Dächer der Riesenstadt zu versilbern begann, ruhig und klar vom Himmel auf diese zusammengedrängte Welt von geschäftigen, ringenden, glücklichen und elenden Menschen herabblickend, wie er einst vor langen Jahrhunderten an dieser selben Stelle auf die dunklen, schweigenden Wälder des alten Galliens herabgeblickt hatte.
George ließ sein müdes Haupt tiefer herabsinken, sein brennendes Auge umflorte sich und ein heißer Tränentropfen sank auf das Papier nieder.
Diese Wohltat der Natur, dieses göttliche Geschenk der ewigen Liebe, die heilige Träne schien den entsetzlichen Bann zu lösen, der ihn gefangen hielt, ein langer Atemzug rang sich aus seiner Brust hervor, und dann blickte er empor in tiefem Schmerz, aber ohne jene furchtbare Starrheit, welche bis jetzt seine Augen erfüllt hatte.
»So ist es denn aus, aus das Glück, vorbei die Hoffnung, alles, alles zu Ende – wie mit dem Tode, aber schlimmer und schmerzlicher als im Tode – denn der Tod läßt die Erinnerung zurück und tötet die Liebe nicht – und hier, hier muß die Erinnerung untergehen und die Liebe!«
»Lüge,« rief er, »Lüge und Verrat, warum ist dies Leid auf mich gefallen, warum konnte mein Leben nicht in ruhiger Resignation verlaufen, warum zur Hoffnung und zum Glück erwachen, um so herabzustürzen! – Und dafür – dafür – habe ich meine Hände befleckt; ich glaubte zu kämpfen für das Recht der Unschuld und ich bin das Werkzeug irgendeiner Intrigue gewesen, die ich nicht durchschaue, ein elendes Werkzeug, das man fortwirft, nachdem es seinen Dienst getan, dem man seinen Lohn –«
Er hielt inne, eine tätliche Blasse bedeckte seine Züge.
Hastig zog er das Schubfach seines Tisches auf und ergriff die Goldrollen, welche er mit dem letzten Brief der jungen Frau erhalten hatte, und welche dort noch lagen.
»Fort,« rief er, »fort mit diesem entsetzlichen Gold, das sie mir zurückgelassen als den Preis für meine Seele, für mein zerbrochenes Herz! – zurückerstatten kann ich es nicht, aber es soll versinken, wo kein menschliches Auge es wieder erblickt!«
Mit zuckender Hand ergriff er die Rollen und schob sie in seine Tasche – dann setzte er seine Mütze auf, öffnete den Riegel seiner Tür und trat auf den Vorplatz.
Madame Raimond ging aus der Küche in ihr Zimmer.
»Haben Sie keine Nachricht von unserer Freundin, Herr George?« fragte sie freundlich.
»Nein,« erwiderte er mit kaum vernehmbarer Stimme.
»Kommen Sie zu mir,« sagte die alte Frau teilnehmend, »wir wollen ein wenig plaudern, wir werden ja bald von ihr hören, sie wird wiederkommen, und dann werden unsere schönen, traulichen Abende wieder beginnen –«
»Ich habe einen notwendigen Gang zu machen,« sagte George rauh, »entschuldigen Sie mich, ich komme vielleicht später!« und schnell mit flüchtigem Gruß eilte er die Treppe hinab.
»Der arme, junge Mensch,« sagte die alte Frau ihm nachblickend, »er liebt sie so sehr – wie gern möchte ich beide glücklich sehen!«
Starke Abteilungen von Sergeants de Ville und berittene Garden hielten die Straßen des Faubourg Saint Germain besetzt. Es war Ball bei dem Botschafter von Rußland, die Souveräne sollten dort erscheinen und der Kaiser Alexander hatte gewünscht, daß das Attentat keine Änderung in den getroffenen Dispositionen veranlassen solle.
Auf Befehl des Kaisers Napoleon waren die äußersten Vorsichtsmaßregeln in allen Straßen getroffen, durch welche die fremden Souveräne fahren mußten. Man verhinderte zwar den Andrang der Neugierigen nicht, welche die Trottoirs erfüllten, um die Auffahrt der Monarchen zu sehen, aber niemand durfte einen Augenblick stehen bleiben, diese ganze Menschenmenge mußte in fortwährender Zirkulation bleiben und kein Wagen durfte die besetzte Straße passieren, der nicht Eingeladene zu dem Fest der russischen Botschaft führte.
Langsam ging auch hier wieder unter den immerfort sich vorwärts bewegenden Menschen der Feniergeneral Cluseret, der alles sehen, alles hören wollte, um sich über die Zustände in Paris ein klares Bild zu machen, und sein Führer Raoul Rigault, welcher dem finstern Verschwörer alle nötiges Aufklärungen gab, bald in dem furchtbar zynischen Ton, in welchem einst die Septembriseurs die Bonmots der Guillotine machten, bald in der faden und zugleich gespreizten Weise jener auf dem Pflaster von Paris groß gewordenen, jungen Leute, welche zwischen dem Gamin und dem Dandy die Mitte halten.
»Nun,« sagte Raoul Rigault lachend, »mein General, ist Ihnen die Physiognomie dieses guten Paris nun genügend verändert? Alle die unbefriedigten Leidenschaften und die Schwierigkeiten, die in Europa in so großer Menge vorhanden sind – man hatte sie sich heute morgen so ganz aus dem Sinne geschlagen, um nur den Friedenshoffnungen und den Freuden des Lebens sich hinzugeben, man sah die Zukunft so rosig und golden! – Sehen Sie,« fuhr er fort, »dieser eine Pistolenschuß hat so schnell die finsteren Geister wieder geweckt, blicken Sie hin auf diese Polizeimannschaften, auf diese Patrouillen, sehen Sie diese Menge an, die hier schweigend in gezwungener Bewegung durch die Straßen treibt, gleicht sie noch den fröhlichen Volksmassen, welche heute morgen das Sonnenlicht im Bois de Boulogne bestrahlte? – Glauben Sie noch, daß die Tyrannen sich alliieren werden?«
»Man lernt immer, wenn man nach Paris kommt,« sagte Cluseret mit einem finstern Lächeln, »und diesmal habe ich viel gelernt.«
Sie gingen weiter.
Unter starker, militärischer Bedeckung fuhren die Souveräne heran und bald wurden die Straßen leerer, während das ganz vornehme und glänzende Paris sich in den Sälen des Hotels der russischen Botschaft vereinigte.
Durch die letzten der neugierigen Zuschauer eilte George Lefranc mit raschen Schritten und gesenktem Haupte hin.
Er ging über den Pont neuf am Tuilerieengarten vorbei, überschritt die äußere Seite der Place de la Concorde und folgte dann dem Kai der Seine, der hinter den Champs Elysées sich hinzieht.
Niemand war um diese Stunde an diesem selbst am Tage wenig besuchten Orte.
Dei junge Arbeiter trat über das Gitter bis ganz an das Ende der scharf zum Fluß herabsinkenden Mauer vor und zog die Rollen aus seiner Tasche.
Unten glitzerten die Wellen der Seine im Licht des Mondes, dessen silbernes Rund am dunkeln Himmel schwebte, von leichten, flockigen Wölkchen umgeben.
George warf einen langen Blick auf das dahinfließende Wasser. »Wäre es nicht besser, dort unten zu ruhen im kühlen Frieden, als hier oben zu ringen im ewigen Kampf mit Elend und Schmerzen?«
Fast sehnsüchtig blickte er hinab und sog tief den kühlen vom Wasser heraufsteigenden Hauch ein, der wohltätig in seine erregt arbeitende Brust drang.
»Aber,« sagte er dann leise, »ist es nicht feig und niedrig, dem Leben zu entfliehen, so lange man noch die Kraft hat zu arbeiten dafür, daß das bittere Los, unter dem ich leide, von andern genommen werde, daß die Armen und Unterdrückten befreit werden von dem Joch, das auf ihnen lastet? – Und,« fuhr er noch leiser fort, indem er den Blick zu dem schönen, klaren Nachthimmel emporhob, »wenn es nun dort oben eine ewige Gerechtigkeit – eine ewige Liebe gäbe? – Sie hat es gesagt,« sprach er in bitterem Ton, »aber kann es nicht dennoch wahr sein? Kann nicht auch der Geist des Bösen die ewige Wahrheit verkünden? – Und es klingt etwas wieder in mir, das mir sagt, es ist wahr! – Jener Dämon hat die Gestalt der Engel entlehnt, um meine Liebe zu verderben, und doch wollen die Worte nicht aus meinem Sinn, die sie zu mir gesprochen, von jener Macht der ewigen Liebe, welche die Herzen der Menschen lenkt. – Wäre es möglich, daß diese Macht auf diesem furchtbaren, schmerzlichen Wege in mein Herz hatte einziehen wollen?«
Er schwieg lange. Mit weichem, glänzenden Blick sah er zum Himmel empor.
»Wenn du dort oben waltest,« sprach er dann, »du Gott der Liebe, den die Priester verkünden, wenn du herabblickst auf die kämpfenden und bangenden Menschen auf Erden, o so senke dein Auge auch auf mich hernieder, sieh in mein krankes, gequältes Herz, begrabe die Vergangenheit, wie ich dies entsetzliche Geld in die Tiefen versenke, setze meinen Leiden ein Ziel und führe mich zu deinem Frieden!«
Er trat rasch bis hart an den äußersten Rand der Mauer vor und mit einer heftigen Bewegung voll Zorn und Abscheu schleuderte er die Goldrollen weit in den Fluß hinein.
Aber durch die heftig ungestüme Bewegung, mit welcher er seinen Wurf getan, verlor er das Gleichgewicht, sein Fuß glitt, taumelnd griff er um sich, seine Hand fand keine Stütze, ein Schrei – und hinab stürzte er in die Fluten der Seine.
Ein kurzes Ringen – eine starke Bewegung im Wasser, dann noch ein letzter, schmerzlich verhallender Schrei – und die Wasser ebneten sich über dem Versunkenen.
Ruhig und glänzend zog der Mond durch das tiefe Ätherblau, schimmernd und blitzend spielten die Wellen dahin, der Hauch der Nacht atmete tiefen – tiefen Frieden und stille Ruhe.
Hatte auch er den Frieden gefunden in der stillen Tiefe, hatte Gott sein letztes Gebet erhören wollen, und ihn aus den Kämpfen der Welt an sein liebevolles Herz gezogen?