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Voltaire war also jetzt ein bleibender Gast des Königs geworden. Dieser hatte eigenhändig einen Brief an Ludwig den Fünfzehnten geschrieben und ihn gebeten, ihm seinen Untertan und Historiographen zu überlassen, und es versteht sich, daß diese Bitte bewilligt worden war. Außerdem hatte der König, der in seinem Zartsinn immer auf das Glück und die Zufriedenheit seiner Freunde bedacht war, der Madame Denis, Voltaires geliebter Nichte, den Vorschlag machen lassen, ihrem Oheim nach Berlin zu folgen, im königlichen Schlosse in Potsdam mit ihm zu wohnen und von dem König ein Jahrgehalt von viertausend Franken anzunehmen, das ihr bis zu ihrem Tode ausgezahlt werden sollte.
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<bu>Frau v. Cocceji und die Barbarina.</bu>
Voltaire selbst forderte sie auf zu kommen, indem er ihr schrieb, daß, da sie mit ihrem verstorbenen Gatten habe in Landau leben können, sie es auch in Berlin und Potsdam aushalten könne, denn Berlin sei jedenfalls hübscher wie Landau, und was Potsdam anbeträfe, so führe man da ein ganz ungeniertes Leben.
»In Potsdam gibt es keine tumultuösen Feste,« schrieb er ihr, »meine Seele ruht dort, träumt und schafft. Ich bin es zufrieden, mich bei einem Könige zu befinden, der weder einen Hof noch einen Ministerrat hat. Freilich ist Potsdam von vielen Grenadiersschnurrbärten bewohnt, aber, dem Himmel sei Dank, ich sehe sie nicht. Ich arbeite friedlich in meinem Gemach, während draußen die Trommeln wirbeln. Auch von den Diners des Königs habe ich mich freigemacht. Es waren mir da zu viele Generale und Prinzen. Ich konnte mich nicht gewöhnen, immer das Visavis eines Königs en cérémonie zu sein und für die Öffentlichkeit zu sprechen. Aber ich soupiere mit ihm, und die Soupers sind kürzer, heiterer und gesünder. Ich würde in drei Monaten an Indigestionen sterben, wenn ich alle Tage mit einem König en public speisen müßte Oeuvres oomplètes. LVIII, 360. .
Aber Madame Denis mißtraute doch dem glücklichen Leben in Berlin und Potsdam, und schrieb einen ablehnenden Brief, in welchem sie zugleich ihre Befürchtung ausdrückte, daß auch Voltaire sehr bald bereuen würde, daß er das schöne, glänzende Paris, die Kapitale des guten Geschmacks, verlassen, und sich in ein barbarisches Land begeben habe, um dort der Sklave eines Königs zu werden, während er in Paris der König der Poesie gewesen.
Voltaire hatte die Kühnheit, diesen Brief dem König mitzubringen, vielleicht um den König zu kränken, vielleicht um ihm einige neue Versprechungen und Zusicherungen zu entreißen.
Friedrich las den Brief und trotz der heftigen Sprache desselben blieb seine Stirn heiter und das freundliche Lächeln verschwand nicht von seinen Lippen. Als er ihn zu Ende gelesen, reichte er ihn Voltaire wieder dar, und sein Auge begegnete mit einem so innigen und herzlichen Ausdruck den lauernden und mißtrauischen Augen Voltaires, daß dieser fast beschämt den Blick zu Boden senkte.
Wenn ich Madame Denis wäre, sagte der König, so würde ich wie sie denken, aber da ich Ich bin, denke ich anders über diese Sache. Ich würde in Verzweiflung sein, meines Feindes Unglück veranlaßt zu haben, wie könnte ich also das Unglück eines Mannes wollen, den ich achte, den ich liebe, der mir sein Vaterland, und alles, was der Menschheit teuer ist, opfert? Nein, mein Freund, wenn ich glauben könnte, daß Ihre Übersiedelung für Sie irgendeinen Nachteil haben könnte, würde ich der erste sein, Ihnen davon abzuraten.
Ja gewiß, ich würde Ihr Glück höher halten, als die Freude, die ich darüber empfinde, Sie bei mir zu sehen. Aber Sie sind Philosoph, und ich bin es auch. Was gibt es also Einfacheres, Natürlicheres, Ordnungsgemäßeres, als daß zwei Philosophen, die füreinander geschaffen sind, welche dieselben Studien, denselben Geschmack, dieselbe Art zu denken und die Dinge anzuschauen haben, sich die Satisfaktion gönnen, miteinander zu leben? Ich ehre Sie als meinen Lehrer der Beredsamkeit und der Poesie, ich liebe Sie als einen tugendhaften Freund. Welche Sklaverei, welches Unglück, welche Veränderung und Unbeständigkeit des Glückes haben Sie also in einem Lande zu befürchten, wo man Sie ebenso hoch hält wie in Ihrem Vaterlande, und bei einem Freunde, der Ihnen ein dankbares Herz entgegenträgt? Ich habe nicht die törichte Prätension, Berlin für schöner zu halten als Paris. Wenn der gute Geschmack in irgendeinem Orte seine Heimat haben kann, so gestehe ich gern zu, daß das Paris ist. Aber Sie, bringen Sie nicht, wohin Sie kommen, den guten Geschmack mit? Wir haben Organe, welche uns wirksam genug erscheinen, um Ihnen zu applaudieren, und was die Liebe zu Ihnen anbetrifft, so räumen wir keinem andern Lande darin den Vorzug ein! – Ich habe die Freundschaft geachtet, welche Sie mit der Marquise du Chatelet verband, aber nach ihr war ich einer Ihrer ältesten Freunde. Wie? Weil Sie sich in mein Haus zurückziehen, könnte man von diesem Hause sagen, daß es Ihr Gefängnis geworden? Wie? Weil ich Ihr Freund bin, werde ich Ihr Tyrann werden? Ich gestehe Ihnen, daß ich diese Logik nicht verstehe, daß ich vielmehr fest überzeugt bin, Sie werden hier, so lange ich lebe, sehr glücklich sein, man wird Sie als den Vater der Wissenschaften und der geistreichen Leute hochschätzen, und Sie werden in mir immer den Beistand und den Trost finden, den ein Mann Ihres Verdienstes von jemand, der ihn verehrt, nur fordern kann Des Königs eigene Worte. Oeuvres posthumes. Supplément. II. 375-77..
Ah, Euere Majestät sagen, daß Sie mich verehren, aber Sie sagen nicht mehr, daß Sie mich lieben, rief Voltaire, der dieser ganzen so innigen und herzlichen Rede des Königs mit gespannten Mienen und lauernden Blicken zugehört hatte. Ja, ja, ich fühle es und weiß es nur zu gut, Euere Majestät haben mich jetzt schon auf das Pflichtteil Ihrer Achtung und Hochschätzung zurückgedrängt, und Ihre Liebe, Ihre Freundschaft, das ist ein kostbarer Schatz, von dem Sie mich enterbt haben. Aber ich kenne diese heuchlerischen Erbschleicher, welche mich um dieses schönste Erbteil meines Lebens, meiner Dichterschaft und meines Ruhms betrügen wollen. Ich kenne diese Frau Basen und Vettern, diese d'Argens, Algarottis, diese La Mettries und diesen hochmütigen Pfau, den Maupertuis, ich –
Voltaire, unterbrach ihn der König mit fast drohendem Ton, Sie vergessen, daß Sie von meinen Freunden sprechen, und daß ich niemandem gestatte von meinen Freunden Übles zu reden, weder Ihnen noch irgendeinem andern. Ich werde niemals parteiisch, niemals ungerecht sein, mein Herz ist fähig, jedem meiner Freunde den gleichen Anteil an Liebe und Hochschätzung zu geben, nur müssen meine Freunde sich auch bestreben, denselben zu verdienen, nur müssen sie, wenn sie mein Herz haben wollen, mir auch ein Herz entgegentragen. Denn die Freundschaft ist ein Tauschhandel, bei welchem jeder nur so viel geben will, als er dafür wieder empfängt. Geben Sie mir also Ihr ganzes Herz, Voltaire, und ich werde Ihnen dafür auch mein ganzes Herz wieder geben. Aber wissen Sie, was ich fürchte? Sie haben gar kein Herz mehr! Die Natur hatte Sie nur mit einer kleinen Dosis dieser flüchtigen Essenz, welche man Liebe nennt, ausgestattet; die Natur hatte zu viel mit Ihrem Gehirn zu tun und arbeitete so lange daran, bis ihr gar keine Zeit mehr übrigblieb, auch an ihr Herz zu denken; just, wie sie sich anschickte, ein wenig von der Wunderessenz in Ihr Herz zu gießen, krähte der Hahn Ihrer Geburtsstunde dreimal und verriet Sie an das Leben. Und dieses Leben hat die paar Tropfen, die in Ihr Herz gefallen waren, schon verbraucht! Ihr Gehirn ist angelegt, um für Jahrhunderte zu arbeiten, zu nützen und zu erfreuen, aber Ihr Herz ist schon in den ersten Jugendjahren erschöpft worden.
Ah, ich wollte, Euere Majestät hätten recht, rief Voltaire, ich würde dann den Schmerz nicht empfinden, der mich jetzt martert, den Schmerz, von dem liebenswürdigsten, dem geistreichsten und erhabensten König verkannt zu werden. Oh, Sire, Sire, ich habe ein Herz, und Sie machen es bluten, während Sie nicht an seine Existenz glauben.
Der König lachte. Ich würde Ihnen glauben, sagte er, wenn Sie weniger pathetisch wären. Aber Sie versichern nicht, sondern Sie deklamieren, und es ist zu wenig Natur und Wahrheit in Ihrem Ton. Sie erinnern mich ein wenig an die hochstelzigen französischen Tragödien, bei denen zu viel Absichtlichkeit der Leidenschaft vorwaltet, um echtes Mitgefühl zu erzeugen, und bei denen die Liebe nur eine Phrase ist, an die man nicht glaubt, mit wie schönem Flittergold von Sentiment und Pathos sie auch aufgeputzt sei.
Oh, Euere Majestät wollen mich heute zerschmettern mit Ihrem Zorn und Ihrem Spott, rief Voltaire, dessen Augen schon zu funkeln begannen. Sie wollen mich meine ganze Ohnmacht und Erbärmlichkeit fühlen lassen. Denn, wo sollte ich die Kraft hernehmen, gegen Sie zu streiten? Ich habe keine Schlachten gewonnen, ich habe keine hunderttausend Mann Ihnen gegenüberzustellen, und kein Kriegsgericht, um diejenigen verurteilen zu lassen, welche sich gegen mich versündigen.
Sie haben keine hunderttausend Soldaten, rief der König, aber Sie haben deren vierundzwanzig, und bei Gott, mit diesen vierundzwanzig Soldaten haben Sie das ganze Reich der Geister erobert, diese vierundzwanzig Soldaten haben gemacht, daß das ganze gebildete Europa Ihnen zu Füßen liegt. Sie sind also ein viel mächtigerer König als ich, denn ich habe nur hunderttausend Mann, von denen ich nicht einmal weiß, ob sie nicht davonlaufen, wenn es zur Schlacht kommt. Sie aber haben Ihre vierundzwanzig Soldaten des Alphabets, und diese haben Sie so wundervoll einexerziert, daß Sie mit Ihnen jede Schlacht gewinnen müssen, und wenn sich auch alle Könige der Welt gegen Sie verbunden hätten. Machen wir also Frieden, mein Unüberwindlicher, wenden Sie das Heer Ihrer furchtbaren vierundzwanzig nicht mit tödlichem Geschütz gegen mich, sondern gestatten Sie mir, den Zipfel Ihres Purpurmantels zu fassen, in Ihrem Glanze mich zu sonnen, Ihr demütiger Schüler zu sein und von Ihnen und Ihren vierundzwanzig Soldaten die geheimnisvolle Kunst der Geisterschlachten mit unsichtbaren Truppen zu lernen.
Ach, Euere Majestät wollen mich nur fühlen lassen, wie ganz arm ich bin, denn auch diese vierundzwanzig Soldaten, von denen Sie sprechen, sind zu Ihnen übergegangen, und Sie verstehen so gut mit Ihnen zu exerzieren, wie ich selber, Sire.
Nein, nein, sagte der König, plötzlich vom Scherz zum Ernst übergehend. Nein, ich will von Ihnen lernen, Freund, denn es genügt mir nicht, ein armseliger Dilettant in der Poesie zu sein, wenn ich auch niemals einem Virgil oder Voltaire gleichkommen kann. Ach, ich weiß es wohl, das Studium der Poesie erfordert einen ganzen ungeteilten Menschen, und ich bin nur ein armer, an das Staatsschiff angeketteter Galeerensklave, oder wenn Sie wollen, ein Pilot, der weder wagt, das Steuerruder zu verlassen, noch einzuschlafen, aus Furcht, das Schicksal des unglücklichen Palinurus möchte auch ihn ereilen. Die Musen verlangen Einsamkeit und eine Ruhe der Seele, deren ich nie teilhaftig werden kann. Oft, wenn ich drei Verse geschrieben habe, unterbricht man mich, meine Muse erkaltet und mein Geist kann sich nicht wieder so leicht zu der Höhe der Begeisterung emporschwingen. Freilich gibt es privilegierte Seelen, welche überall Verse machen können, im Tumult der Höfe, wie in der Einsamkeit von Cirey, in den Kerkern der Bastille, wie im Postwagen; meine arme Seele genießt dieser Vorrechte nicht, sie gleicht einer Ananas, welche nur in Treibhäusern Früchte trägt, in freier Luft aber zugrunde geht Des Königs eigene Worte. Oeuvres posthumes. Suplément. II, 340..
Ah, das ist das erstemal, daß ich den Salomon des Nordens auf einer Unwahrheit ertappe, Sire! rief Voltaire leidenschaftlich. Ihre Seele gleicht nicht der Ananas, sondern diesem Wunderbaum des Südens, der zugleich Blüten und Früchte trägt, und der uns süß berauscht und begeistert mit seinen Düften, während er uns zugleich stärkt und erquickt durch seine himmlischen Früchte. Sie sind nicht ein Schüler des Apoll, Sie sind Apollo selber!
Der König lachte, und indem er die Arme zum Himmel emporstreckte, rief er mit dem Pathos eines Schauspielers der französischen Tragödie:
O Dieux! qui douez les poétes
De tant de sublimes faveurs,
Ah! rendez vos graces parfaites,
Eh qu'ils soient un peu moins menteurs.
Oeuvres posthumes. Suplément. II, 344.
Ah, indem mich Euere Majestät Lügen strafen wollen, beweisen Sie nur, daß ich die Wahrheit gesprochen, rief Voltaire fröhlich. Sie wollen mir beweisen, Sire, daß Ihre Muse nur langsam und künstlich ihre Früchte reift, und Sie improvisieren da ein so reizend graziöses Quatrin, daß Molière sich freuen würde, wenn ihm dasselbe gelungen wäre.
Rendez vos graces parfaites, et qu'ils soient un peu moins menteurs, wiederholte der König, Voltaire vergnügt zunickend. Sehen Sie, Freund, ich bin vielleicht derjenige der Sterblichen, der die Götter am wenigsten mit Bitten und Beten inkommodiert. Dies war heute mein erstes Gebet an die Götter, und es war für Sie. Seien Sie also ein wenig dankbar und beweisen Sie mir, daß die Götter die inbrünstigen Gebete der Sterblichen erhören. Seien Sie wirklich etwas weniger Lügner, sagen Sie mir die Wahrheit! Denn wir wollen jetzt ein wenig die Arbeiten meiner letzten Tage durchsehen. Aber Sie müssen dabei eingedenk bleiben, daß, wenn Sie arbeiten, Sie das zum Ruhm Ihrer Nation und zur Ehre Ihres Vaterlandes tun, während, wenn ich das Papier bekritzele, dies zu meinem Amüsement geschieht, und man könnte es mir verzeihen, falls ich so vernünftig wäre, nachher meine Werke zu verbrennen, wenn ich sie vollendet habe Des Königs eigene Worte.. Wenn man sich, wie ich, den Vierzigern nähert, und dann noch schlechte Verse macht, muß man wie Molières Misanthrope sagen:
Si j'en faisais d'aussi méchans,
Je me garderais bien de les montrer aux gens.
Euere Majestät halten sich schon zu alt, um Verse zu machen, und Sie sind erst achtunddreißig Jahre. Bin ich also nicht ein verdammungswürdiger Tor, daß ich es noch wage, den Musen zu huldigen und Verse zu machen, ich, der Greis Voltaire, welcher schon sechsundfunfzig Jahre zählt?
Sie haben das Vorrecht der Götter, Sie altern niemals, und die Musen und Grazien müssen, obwohl sie Weiber sind, Ihnen doch immer treu bleiben in glühender Liebe, denn Sie wissen sie immer aufs neue an sich zu fesseln.
Nein, nein, Sire, ich bin zu alt, rief Voltaire seufzend. Ein alter Poet, ein alter Liebhaber, ein alter Sänger und ein altes Pferd sind gleich unbrauchbare Dinge, die gar nichts taugen Voltaires eigene Worte. Oeuvres posthumes. LVIII, 364.. Machen mich Euere Majestät wieder ein wenig jung, indem Sie mich einige Ihrer Verse hören lassen.
Der König ging zu seinem Schreibtisch hin, und indem er sich auf den Fauteuil niedersetzte, winkte er Voltaire, auf dem zweiten Lehnstuhl, der dicht neben dem seinen stand, Platz zu nehmen.
Sie müssen wissen, sagte der König lachend, indem er Voltaire ein mit Versen beschriebenes Blatt darreichte, Sie müssen wissen, daß ich mit sechs Zwillingen niedergekommen bin, die verlangen im Namen Appollos in den Wassern der Hippokrene getauft zu werden, und die Henriade ist gebeten, Gevatter zu stehen Des Königs eigene Worte. Oeuvres posthumes. Supplément. II, 377..
Voltaire nahm das Papier und las das darauf geschriebene Gedicht mit lauter Stimme. Der König hörte ihm aufmerksam zu und nickte beifällig über Voltaires leidenschaftlich glühende Deklamation.
Das ist sublim, das ist wundervoll, rief Voltaire, als er geendet. Euere Majestät sind ein französischer Dichter, welcher nur zufällig in Deutschland lebt. Sie haben unsere Sprache ganz in Ihrer Gewalt.
Friedrich drohte ihm lächelnd mit dem Finger. Freund, Freund, sagte er, soll ich schon wieder die Götter mit meinem Gebet belästigen?
Euere Majestät wollen also die ganze Wahrheit?
Die ganze Wahrheit, Freund!
Dann müssen Sie mir erlauben, Sire, das Gedicht noch einmal vorzulesen. Ich habe es vorhin als Amateur gelesen, jetzt werde ich es als Kritiker lesen.
Und wie er jetzt die Vorlesung wiederholte, legte er einen scharfen Akzent auf jedes Wort und jeden mangelhaften Reim, skandierte er mit schärfster Genauigkeit jede Zeile, zuweilen bei den schlecht gelungenen Alexandrinern sich das Ansehen gebend, als sei seine Zunge nicht imstande, diese Barbarismen zu überwältigen, und dabei leuchtete sein Auge in boshafter Freude, und ein geringschätzendes Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.
Des Königs Antlitz hatte sich leicht umwölkt. Ich verstehe Sie, sagte er, das Gedicht taugt ganz und gar nichts. Lassen Sie es uns zerreißen.
Nicht doch, Sire, das Gedicht ist vortrefflich, und Sie werden kaum einige Tage nötig haben, um es vollkommen zu machen. An der Venus von Medici darf kein Finger zu lang, kein Nagel schlecht gebildet sein. Und was sind solche Statuen, mit denen man die Gärten schmückt, gegen die Monumente der Bibliothek? Wir müssen sie also so vollkommen als irgend möglich machen. Und wie viel Geist, wie viel Anmut ist in diesem Gedicht? Woher haben Sie das alles genommen, Sire? Und wie sollte man glauben, daß es so viel Blumen in Ihrem Sande gibt, und daß so viel Grazie mit so viel tiefem Wissen sich vereinen ließe Voltaires eigene Worte. Oeuvres LVIII, 323.. Aber selbst die Grazie muß auf ganz sichern Füßen stehen, und hier, Sire, finde ich einige Füße, welche zu lang sind. Freilich ist das unbedeutend. Aber bei einem bedeutenden Genius ist alles, was er tut, bedeutsam, und soll das beste sein. Sie arbeiten zu rasch, Sire. Es ist zuweilen schneller getan, eine Schlacht zu gewinnen, als ein gutes Gedicht auf die richtigen Füße zu bringen. Euere Majestät lieben die Wahrheit so sehr, daß ich Ihnen dadurch gerade meine tiefste Ehrerbietung bezeugen will, daß ich Ihnen die Wahrheit sage. Sie müssen in allem, was Sie tun, vollkommen sein, denn Euere Majestät haben die Fähigkeit dazu. Man darf nicht sagen: Caesar est supra grammaticam. Cäsar schrieb, wie er focht, das heißt siegreich. Friedrich der Große spielt die Flöte wie Blavet, warum sollte er nicht so gut schreiben wie unsere größten Dichter? Voltaires eigene Worte. LVIII, 329. Euere Majestät müssen es nur nicht verschmähen wollen, dem schönen Inhalt auch eine schöne Form zu geben.
Sie haben recht, sagte der König sinnend, es fehlt mir die Form. Aber Sie müssen nicht denken, daß das Nachlässigkeit ist. Diejenigen Verse, welche Sie am wenigsten getadelt, sind gerade diejenigen, welche mir am wenigsten Mühe gemacht haben. Aber wenn der Gedanke mit der Cäsur und dem Reim in Opposition gerät, dann mache ich schlechte Verse und bin in den Korrektionen nicht glücklich. Sie bemerken gar nicht die Schwierigkeiten, die ich zu überwinden habe, um nur einige leidlich gute Strophen zu machen. Eine glückliche Disposition der Natur, ein leicht beweglicher und fruchtbarer Geist hat Sie zum Poeten geschaffen, ohne daß es Ihnen irgendeine Mühe kostete; ich lasse der Inferiorität meines Talentes Gerechtigkeit widerfahren; ich schwimme auf diesem Ozean der Poesie umher mit Schwimmblasen und Binsengeflechten unter den Armen. Ich schreibe nicht so gut als ich denke, meine Ideen sind oft stärker als meine Ausdrücke, und in dieser Verlegenheit bin ich schon zufrieden, wenn ich die Sachen nicht gut, aber möglichst wenig schlecht mache Des Königs eigene Worte. Supplément. II, 346..
Es liegt nur an dem Willen Euerer Majestät, sie ganz vollkommen gut zu machen, sagte Voltaire, denn bei Ihnen, Sire, heißt es, wie bei den Göttern: Ich will! und die Tat ist schon getan. Wenn also Euere Majestät geruhen wollen, die Grazien und Sylphiden, die Weisen und Schriftgelehrten, welche da in diesem sublimen Gedicht zuweilen auf etwas holprichten Füßen umherstolpern, mit kunstvollem Gebein zu versehen, so werden sie flattern wie holde Genien und majestätisch einherschreiten, wie die heiligen drei Könige des Morgenlandes. Lassen Sie uns also das versuchen, Sire. Wir wollen dieses Gedicht noch einmal schreiben.
Er zog einen langen Federstrich über das Manuskript des Königs, und indem er jetzt ein neues Papier nahm, und die erste Strophe niederzuschreiben begann, kritisierte er jedes Wort desselben mit beißender Laune, mit funkelndem Witz, mit hohnlächelnder Ironie. Unerbittlich in seinem Tadel, vornehm herablassend in seinem Lob, schien seine Zunge mit Pfeilen bewaffnet, deren jeder darauf berechnet war, zu treffen und zu verwunden.
Aber das Antlitz des Königs blieb strahlend und heiter. Er fühlte sich nicht als der mächtige König und Herr, welchen der Tadel eines gewöhnlichen Menschenkindes beleidigen konnte, er fühlte sich als der Lernende dem Lehrer gegenüber, und da er wirklich lernen wollte, war es ihm gleichgültig, in welchen Ausdrücken sein strenger Lehrer ihn zu unterrichten suchte.
Nachdem sie das Gedicht zu Ende gebracht, lasen sie zusammen ein Kapitel aus des Königs » Histoire de mon temps«, von dem soeben die zweite Auflage erschien, und deren Korrektur Voltaire übernommen hatte.
Er hatte sein Exemplar mitgebracht, um dem König Rechenschaft abzulegen über die gemachten Korrekturen und seine Ansichten zu erläutern.
Dieses Buch wird ein Meisterwerk, wenn Euere Majestät sich nur die Mühe geben wollen, es zu korrigieren, sagte Voltaire. Aber hat ein König die Zeit und Muße dazu? Ein König, welcher seine große Monarchie ganz allein regiert? Ja, das ist es, was mich verwirrt, was mich gar nicht zu mich selber kommen läßt vor Erstaunen, was mir die heilige Verpflichtung auferlegt, in meinem Urteil so strenge als möglich zu sein.
Und ich liebe Ihre Strenge und Ihre Freimütigkeit, sagte der König, ich lerne von zehn strengen und tadelnden Worten sicherlich mehr, als von einer ungeheuer langen Rede voll Lob und Anerkennung. Aber sagen Sie mir doch, was bedeutet dieser rote Strich, mit dem Sie da diese ganze Seite in meinem Manuskript angestrichen haben?
Ah, Sire, ich wollte Sie um Nachsicht für Ihren Großvater, den König Friedrich den Ersten bitten. Sie sind zu grausam und zu strenge mit ihm.
Ich durfte nicht anders sprechen, wenn ich mir nicht den Vorwurf der Parteilichkeit verdienen wollte, sagte der König. Es soll nicht gesagt werden, daß ich darum, weil er mein Großvater war, mein Auge verschließe vor seinen Torheiten und Albernheiten. Friedrich der Erste war ein eitler und aufgeblasener Narr; das ist die Wahrheit!
Und doch bitte ich um Gnade für ihn, Sire. Ich liebe diesen König wegen seiner königlichen Pracht und wegen der schönen Monumente, die er hinterlassen hat.
Auch das tat er nur aus Eitelkeit, damit die Nachwelt von ihm reden sollte. Aus Eitelkeit protegierte er die Künste, aus Eitelkeit und närrischem Stolz setzte er sich die Krone auf sein Haupt. Die große Sophie Charlotte, seine Gemahlin, hatte wohl recht, wenn sie sterbend von ihm sagte: »Der König wird nicht Zeit haben, um mich zu trauern, denn die Sorge, meinen Tod mit einem prachtvollen Leichenbegängnis zu feiern, wird ihn zerstreuen, und wenn bei dieser schönen Zeremonie nichts mangelt und fehlschlägt, wird er über alles getröstet sein.« Thiébault. II, 12. Er war nur groß in kleinen Dingen, und darum, als Sophie Charlotte von ihrem Freund Leibnitz sein Memoire »über die Kraft der kleinen Dinge« erhielt, sagte sie lächelnd: »Leibnitz will mich lehren, was die kleinen Dinge sind? Hat er denn vergessen, daß ich die Gemahlin von Friedrich dem Ersten bin, oder denkt er, daß ich meinen Gemahl nicht kenne?« Thiébault. II, 9.
Nun, so bitte ich um Gnade für den Gemahl wegen seiner Gemahlin! Sophie Charlotte war eine erhabene und geniale Frau, Sie sollten ihrem Gemahl alles andere verzeihen, da er doch die Weisheit besessen, sie zu seiner Gemahlin und zu Ihrer Großmutter zu machen. Und wenn Euere Majestät ihm den Vorwurf machen, daß er sich aus Eitelkeit den Titel »König« angemaßt habe, so ist das eine Eitelkeit, von der seine Nachkommen wenigstens recht solide Vorteile haben, und der Titel scheint mir ganz und gar nicht unangenehm.
Der Titel ist schön, wenn ein Volk ihn gibt oder ein Fürst ihn sich verdient. Friedrich der Erste aber hat nichts getan, was ihn zu einem König stempeln kann, und das verurteilt ihn. Sie sehen also wohl, daß ich ihn nicht schonen kann!
Sei es also, sagte Voltaire achselzuckend, er ist Ihr Großvater, nicht der meinige. Machen Sie also mit ihm, was Ihnen gutdünkt, Sire. Ich habe nichts mehr zu sagen und werde mich darauf beschränken, einige Phrasen zu säubern Dieses Gespräch des Königs und Voltaires ist seinem Inhalte nach historisch. Voltaire erzählt davon in einem Briefe an Madame Denis. Oeuvres complètes. LVIII, 370..
Aber als er sah, wie bei diesen Worten Friedrichs Stirn von einer leichten Wolke beschattet ward, sagte er mit einem feinen Lachen:
Sehen Sie nur, wie das Amt des Lehrmeisters, welches Euere Majestät mir aufgedrungen haben, mich übermütig und hochfahrend macht. Ich, welcher wohl täte, seine eigenen Werke zu korrigieren, ich maße mir an, die Werke eines Königs verbessern zu wollen. Ich bin da in dem Fall des Abbé von Villiers, der ein Buch geschrieben hatte, betitelt: » Reflexionen über die Fehler der andern.« Einst ging er zu dem Sermon eines Kapuziners; der Mönch redete sein Auditorium mit näselnder Stimme folgendermaßen an: »Meine geliebten Brüder im Herrn, ich hatte die Absicht, euch heute von der Hölle zu sprechen, aber ich habe an der Tür meiner Kirche einen Anschlagzettel gelesen: Reflexionen über die Fehler anderer! Heh, mein Freund, dachte ich, warum machst du nicht lieber Reflexionen über deine eigenen Fehler? Ich werde also zu euch über den Stolz und Hochmut der Menschen reden.« Oeuvres. LVIII, 423.
Nun, machen Sie immerhin solche Reflexionen, wenn Sie bei Ihrer Geschichte Ludwig des Vierzehnten sitzen, rief der König lachend, nur bitte ich, sich bei mir nicht von dem frommen Kapuziner bekehren zu lassen, sondern bei mir nur Reflexionen über die Fehler anderer zu machen!