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Während meiner Bemühungen, die grauenhaften Folgen der schweren Hungersnöte von 1921 und 1922 in Rußland zu mildern, traf ich in Moskau den Präsidenten der Republik Dagestan, Samursky. Auch in Dagestan war die Not groß, und Samursky bat mich inständig, die Zustände mit eigenen Augen kennenzulernen und nach Möglichkeit zu helfen. Ich konnte seinem Ruf damals nicht folgen und schickte nur einen Vorrat notwendiger Heilmittel, doch versprach ich, ihn später einmal bei Gelegenheit zu besuchen. So hatte ich denn jetzt von ihm und seiner Regierung eine herzliche telegraphische Einladung bekommen, über Dagestan nach Hause zu reisen. Ich konnte nicht widerstehen und telegraphierte zurück, daß Quisling und ich über Wladikawkas nach Dagestan kommen würden.
Wir wollten die lange Eisenbahnfahrt in weitem Bogen östlich um den Kaukasus herum über Baku, dann an der Küste des Kaspischen Meeres entlang und über Derbent nach Dagestan vermeiden und statt dessen mit dem Automobil auf der sogenannten georgischen Militärstraße quer über den Kaukasus fahren. Man erzählte uns allerlei wilde Gerüchte von den Abenteuern, die einem auf diesem Wege zustoßen können. Im vergangenen Jahr war ein Postkutscher von der Seite seines Fahrgastes abgeschossen worden, der Fahrgast selbst wurde bis auf die Haut ausgeplündert und nackt seinem Schicksal überlassen. In diesem Frühjahr war ein Reisender im Postauto von einer Kugel getroffen worden. Beide Kniegelenke waren durchschlagen, und der Arme ist nun auf beiden Beinen lahm. Die unbändigen Gebirgler in ihren abgelegenen Hochtälern, wo jeder Mann bis an die Zähne bewaffnet einhergeht, können ihre alten Gewohnheiten nicht lassen. Seit kurzem, so hieß es, sei aber der Weg sicher.
Die Kaukasuskette erstreckt sich als scharf abgesetzter, verhältnismäßig schmaler Rücken ohne Unterbrechung quer über die Landbrücke zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer. Sie beginnt bei Baku im Südosten und endet am Asowschen Meer im Nordwesten. Bei einer Länge von 1100 und einer Breite von 70 bis 170 Kilometern bedeckt sie eine Fläche von mehr als 120 000 Quadratkilometern. Auf einer Strecke von 700 Kilometern sind die Berge über 3000 Meter hoch. Diese Felsenmauer mit ihren engen, steilen und schwer gangbaren Pässen, die 2300 bis 3000 Meter über dem Meere liegen, hat in der Geschichte eine wichtige Rolle gespielt. Sie war ein Hindernis für die von Norden und Süden her brandenden Völkerwanderungen und zwang die Völkermassen, die sich heranwälzten, ihren Weg entweder östlich am Kaspischen Meer oder westlich am Schwarzen Meer entlang zu nehmen.
Der Kaukasus verdankt seine Entstehung einer mächtigen Wölbung oder Faltung der Erdkruste. Im Norden verlaufen einige kleinere Falten in gleicher Richtung. Die Hauptfalte ist in der Mitte zwischen den Quellen des Kuban und Terek am höchsten aufgebauscht. Dort ist sie nach Süden übergefallen und bildet schwindelnde Abstürze. Der Rücken besteht in diesem mittleren Teil aus kristallinischem, granitartigem Gestein. Vielleicht liegt hier das eigentliche Urgestein zu Tage, das in andern Teilen des Gebirges unter dicken Ablagerungsschichten verborgen liegt.
Nördlich von diesem Urgesteinsrücken sind in verhältnismäßig später Zeit zwei gewaltige Vulkanmassen aufgebrochen, die jetzt über dem Urgestein ruhen: im Nordwesten der Vulkan Elbrus oder Dschin-Padischan (»der Geisterkönig«, 5629 m), der höchste Gipfel des Kaukasus, und im Südosten der Vulkan Kasbek (5043 m). Diese Vulkane bilden die höchsten Gipfel der Bergkette, mehr als 20 unter ihnen sind höher als der Montblanc, häufig sind sie vom Hauptrücken und der Wasserscheide durch Längstäler getrennt. Sie bestehen großenteils aus Trachyten, aber auch Basaltlava ergoß sich in gewaltigen Strömen über ihre Felslenden herab.
Der südöstliche Teil der Gebirgskette vom Quellgebiet des Terek, nahe dem Kasbek, bis zum Kaspischen Meer und der Gegend von Baku, besteht zum großen Teil aus Sedimentärschichten, die in lückenloser Folge Lias-, Jura-, Kreideformationen und die Anfänge des Tertiärs aufweisen. Der nördliche Rücken, die sogenannte Andikette in Dagestan, verläuft zwischen Tschetschenien und der Ebene westlich von Petrowsk und scheint eine Art Fortsetzung des Gebirges von Meschien und des Surnamrückens mit der niedrigen Wasserscheide zwischen den Tälern des Rion und Kura zu sein. Sie erstreckt sich von Südwesten nach Nordosten und wendet sich dort, wo die Hauptkette nach Südosten abbiegt, ostnordöstlich und östlich. Auf diese Weise ist der Gebirgsgürtel im Bergland von Dagestan breiter als im mittleren und westlichen Teil des Kaukasus. Dafür sind in diesem östlichen und südöstlichen Teil die Berge nicht so hoch, doch gibt es auch hier Gipfel von mehr als 4000 Metern.
Die Südwand des Kaukasus stürzt gegen die seichten Talmulden des Kura und Rion ab, der Nordhang senkt sich gegen die flachen Steppen Südostrußlands.
Die Flüsse folgen droben im Gebirge meist den Längstälern, fließen also in der Richtung der Bergkette, dann aber durchbrechen sie irgendwo in tiefen engen Schluchten den Felsrücken. Die Schneegrenze liegt auf der Südseite des Kaukasus bei 2900 bis 3500 Meter, auf der Nordseite bei 3300 bis 3900 Meter. Der Kaukasus hatte wie die Alpen seine Eiszeiten. Er war von ausgedehnten Schnee- und Eisgletschern bedeckt, die weit bis ins Tiefland hinableckten. Sonderbarerweise sind aber die Täler kaum U-förmig ausgehöhlt, wie das sonst der Fall zu sein pflegt, wo Gletscher am Werk waren. Auch die tiefen Binnenseebecken fehlen hier. Sie sind sonst ein besonderes Kennzeichen der vom Eis ausgearbeiteten Landstriche, wie etwa Norwegens oder der Schweiz. Die Kaukasustäler sind tief und eng zwischen V-förmig stehende Wände eingeschnitten, der Talgrund ist also schmal, und oft kann man sich nur mühselig zwischen den steilen Felswänden hindurchzwängen. Die Flüsse haben sich manchmal ihren Weg durch tiefe, schmale Canons gebohrt. Seen gibt es nicht, die Flüsse tosen durch ihre engen Klammen der Ebene zu, ihr Wasser ist meist trüb, weil es nirgends zum Stillstand kommt und sich unterwegs in keinem See klärt. Dadurch ist das Wasser zur Berieselung von Ackergrund besonders geeignet, auch hinterläßt es am Fuß des Gebirges Ablagerungen. Die ungewohnte Form der Täler ist wohl darauf zurückzuführen, daß die Eisgletscher an den steilen Wänden nur wenig Widerstand fanden, Wasser und Frost haben hier das Gestein stärker ausgewaschen, als das Gletschergeschiebe es abschleifen konnte. Die Gesteinsarten sind größtenteils weich, konnten also dem Frost und dem Wasser nur wenig Widerstand leisten.
Da die Höhenrücken des Kaukasus allmählich durch Faltung und Zusammenpressung der Erdkruste entstanden, müssen sie ursprünglich viel niedriger gewesen sein als heute. Die Erosion hat dann tiefe Täler in die Rücken eingeschnitten und manche Bodenerhebung überhaupt abgetragen. Dadurch wurde die Erdkruste leichter und hob sich entsprechend höher. Die von der Erosion nur wenig angegriffenen Gipfel und Rücken zwischen den Tälern wurden auf diese Weise bis zu ihrer heutigen Höhe emporgehoben.
Noch jetzt arbeitet dieser Teil der Erdrinde und wird oft von gewaltsamen Erdbeben heimgesucht. Erst vor wenigen Jahren fiel Leninakan in Nordarmenien einem Erdbeben zum Opfer. Auf solche vulkanische Ereignisse geht wahrscheinlich die Sage vom Vogel Simurg zurück, der auf dem Gipfel des Dschin-Padischan (Geisterkönig, Elbrus) horstet. Der Simurg sieht mit dem einen Auge in die Vergangenheit, mit dem andern in die Zukunft. Wenn er sich aufschwingt, zittert die Erde unter seinem Flügelschlag, die Stürme heulen, das Meer gerät in Aufruhr, und alle Mächte der Tiefe erwachen aus ihrem Schlaf.
Die Hebungen und Senkungen der Erdoberfläche im Kaukasus und in den angrenzenden Landstrichen ließen wohl auch so viele warme Quellen an der Süd- und Nordseite des Gebirgszuges entstehen. Außerdem gibt es eine Menge kalter Mineralquellen. Diese warmen und kalten schwefel-, eisen-, alkali-, jod- und bromhaltigen Quellen sind von alters her wegen ihrer Heilkraft berühmt, viele Kurorte und Bäder sind zur Heilung von allerlei Krankheiten und Leiden entstanden. Der Sage nach sollen schon die Soldaten Alexanders des Großen an solchen Quellen Heilung gefunden haben.
In den Ausläufern des eigenartigen Gebirges wurde an vielen Stellen, namentlich in den jüngsten geologischen Schichten, Naphtha gefunden. Am bekanntesten ist das Naphthagebiet bei Baku am Kaspischen Meer und weiter südlich, jenseits der Kuramündung. Ein anderes reiches Feld, das heute wohl ebensoviel Öl liefert wie die Naphthafelder von Baku, ist die Gegend von Grosnyj am Südufer des Terek und an seinem Nebenfluß Sunsha. Auch in der Ebene südlich von Petrowsk, an der Küste des Kaspischen Meeres, hat man Ölquellen gefunden und ebenso am entgegengesetzten nordwestlichen Ende des Gebirges, und zwar auf der Nordseite, nahe der Halbinsel Taman am Asowschen Meer. Endlich wird auch in Georgien am Südabhang des Gebirges zwischen dem Kura und seinem Nebenfluß Alasán Öl gewonnen. An mehreren Stellen entströmt dem Erdboden brennbares Gas, dessen Flammen schon vor urdenklichen Zeiten den Anlaß zur Feueranbetung gegeben haben mögen.
Große Metallschätze hat man bis jetzt im Kaukasus noch nicht gefunden. Zwar führen einige Flüsse etwas Gold, doch lohnt die Ausbeutung nicht, wenn auch der alte Strabo vom Hörensagen berichtete, die Flüsse seien »reich an Gold, das die Barbaren mit Hilfe durchlöcherter Häute und vermoderter Tierfelle auswaschen, woraus die Sage vom Goldenen Vlies entstand«.
Im Lande der Osseten, westlich von Wladikawkas, sind recht beträchtliche Vorkommen von Silber, Zink und Blei festgestellt. Auch etwas Eisen und Kupfer gibt es dort. Am wichtigsten sind und bleiben aber die Manganbrüche in Georgien, am Südhang des Kaukasus, westlich von Kutais. Im Jahre 1925 erwarb eine amerikanische Gesellschaft unter Harrimans Leitung die Konzession für die Ausbeutung dieser Gruben, wohl der für den Weltmarkt wichtigsten Mangangruben. Der Betrieb warf jährlich reichen Gewinn ab. Jetzt ist er infolge von Streitigkeiten lahmgelegt. Die Sowjetregierung hat die Arbeit nicht wieder aufgenommen. Westlich von Kutais gibt es Kohlenbergwerke und in Dagestan Vorkommen von schierem Schwefel.
Vier große Flüsse hat der Kaukasus, zwei auf der Nordseite und zwei im Süden. Vielleicht sind das die vier Flüsse des paradiesischen Gebirges, von denen das Mittelalter erzählte, wenn auch damals die Sage das Paradies und seine Flüsse nach dem Nordpol verlegte. Der Kuban entspringt am Elbrus, fließt dann nach Norden in die Ebene und wendet sich hierauf westlich dem Asowschen Meere zu. Der Terek entspringt südlich vom Kasbek, fließt zuerst in östlicher Richtung und dann in schäumendem Lauf durch enge Schluchten nach Norden an der Stadt Wladikawkas vorüber der Ebene zu, wo er sich nach Osten wendet und in weitverzweigtem Delta ins Kaspische Meer mündet. Am südwestlichen Hang des Gebirges fließt der Rion, der Phasis der Griechen, an Kutais vorüber durch sein flaches Tal, das alte Kolchis, das Land der Morgenröte, dem Schwarzen Meere zu. Dort raubte Jason das Goldene Vlies und die schöne Tochter des Sonnenkönigs. Der vierte und größte Fluß ist der Kura. Er wälzt sich durch sein flaches Tal im Süden des Gebirges nach Aserbeidschan und mündet ins Kaspische Meer. Seine Quellen liegen nicht im Kaukasus, sondern im Hochland südlich davon, nahe bei Kars. Aber viele Nebenflüsse eilen ihm von Norden aus den Bergen zu; die größten sind der Aragwa, der Jora und der Alasán.
Die Sommer sind nördlich vom Kaukasus oft regenarm und heiß, die Winter kalt und streng. Überhaupt ist die Regenmenge im großen und ganzen gering, sie beträgt am Asowschen Meer ungefähr 500 Millimeter im Jahre; im Herzen des Gebirges ist sie etwa doppelt so groß. Reichlicher fällt der Regen südlich von den Bergen, namentlich am Schwarzen Meer, wo die Jahresregenmenge bis zu 2 Meter beträgt. Die südwestlichen Abhänge sind daher auch von reichbelaubten subtropischen Wäldern bedeckt. Die Nordostabhänge im Bergland Dagestan sind wegen der Regenarmut ganz baumlos. Der Nordabhang im Herzen und im nordwestlichen Teil des Kaukasus ist wieder dicht bewaldet.
Die Wälder in den tiefer liegenden Tälern des Kaukasus bestehen zum großen Teil aus Eichen, Ulmen, Buchen, Platanen, Walnußbäumen, Edelkastanien, Linden, Pappeln und andern Laubbäumen. An den Stämmen ranken Wein, Clematis, Sarsaparille und andere Schlingpflanzen. In den Höhenlagen herrschen Steineiche, Kastanie, Linde, Buche, Ulme, Esche, Espe vor, an den Flußläufen wachsen Erlen. Noch höher oben kommen Birke und Kiefer, bis endlich die Birke allein das Feld beherrscht. Die Baumgrenze liegt bei ungefähr 2200 Meter über dem Meer, die Grashalden reichen bis zu 3000 Meter hinauf.
Das Tierleben ist ziemlich reich. Bären, Wölfe und Schakale stören die nächtliche Ruhe mit ihrem Geheul. Hyänen, Luchse, Wildkatzen, Leoparden und sogar vereinzelte Tiger streichen umher. In den Wäldern hausen viele Wildschweine und Hirsche, im felsigen Gebiet Steinböcke, Gemsen und Wildziegen. In den Wäldern des hochgelegenen westlichen Teiles kommt noch der Wisent (Bison europaeus) in Herden vor. Das ist eines der wenigen Gebiete, in denen man noch die letzten Abkömmlinge dieses wilden Ochsen findet, der einst gleich seinem Verwandten, dem Auerochsen, über ganz Europa verbreitet war. Unter dem Vogelwild verdient namentlich der Fasan Erwähnung. Er kommt sehr häufig vor, seine Heimat ist ja auch die Gegend am Rion, hat er doch seinen Namen von der griechischen Bezeichnung dieses Flusses: »Phasis.«
Als Haustiere werden Rinder, Schafe, Ziegen, Pferde, Esel und Büffel gehalten. Der Ackerbau steht auf niederer Stufe. Der alte, mit Büffeln oder Ochsen bespannte Holzpflug ist heute noch im Gebrauch. So bebaut man den Boden aber nur in den tiefer gelegenen Landstrichen, wo die Ackerkrume reichlicher ist. Auf den kleinen Landstücken, die oben im Gebirge an den Hängen übriggeblieben sind, wird nur die Hacke gebraucht. Man baut Mais, Weizen, Hirse, ein wenig Hafer und Roggen. Buchweizen wird stellenweise noch in 2500 Meter Höhe angebaut, Kartoffeln und Tabak bis zu 1800 Meter.
Der Kaukasus war der Wall, gegen den die Völkerwanderungen brandeten. Die Völkerwogen schlugen von Süden und Norden gegen die steilen Hänge und brachen sich an dem Felsenbollwerk. In den unzugänglichen engen Tälern mit ihren günstigen Verteidigungsbedingungen setzten sich Splittertrupps der Wandervölker oder der von Norden oder Süden vertriebenen Stämme fest. Dort sitzen sie heute noch in ihrer engen, abgeschlossenen Welt. Seitdem beherbergt das Gebirge Bestandteile der verschiedensten Völkerstämme auf so engem Raum wie keine andere Gegend der Erde. Jedes dieser Völker spricht seine eigene Sprache. Die meisten dieser Sprachen sind noch ganz unzulänglich erforscht, und viele von ihnen scheinen den uns bekannten Sprachen kaum verwandt zu sein.
Man gliedert diese vielen Gebirgsstämme nach ihren Sprachen in drei Hauptgruppen: die eigentlichen Kaukasier, die türkisch-tatarischen und die indoeuropäischen Stämme. Dazu kommen noch vereinzelte andere von ganz rätselhaftem Ursprung. Die Mundarten der eigentlich kaukasischen Völker nehmen eine eigenartige Sonderstellung ein, bis jetzt vermochte noch kein Sprachforscher mit Sicherheit den Zusammenhang dieser Idiome mit andern bekannten Sprachen nachzuweisen. Vielleicht bestehen Verwandtschaften mit einigen kleinasiatischen Sprachen des Altertums. Man hat wohl auch gelegentlich auf Gemeinsamkeiten mit dem Baskischen und Etruskischen hingewiesen. Wir unterscheiden südkaukasische und nordkaukasische Sprachen. Zu den ersten gehören die verschiedenen georgischen oder kartelischen Sprachen. Zu den nordkaukasischen rechnet man das Abchasische, Tscherkessische, Tschetschenische und die zahlreichen lesghischen Idiome.
Die georgischen Völker wohnen in den Tälern des Kura und Rion und am Südhang des Kaukasus bis nahe zur Wasserscheide, in den Tälern des Hochgebirges, in Swanetien südlich vom Elbrus. Die Abchasier besiedeln den westlichen Teil des Südhanges, an der Küste des Schwarzen Meeres. Die Tscherkessen – sie nennen sich selber Adighenen – und die Kabardiner wohnen am Nordhang des Gebirges und weiter nördlich an den Ufern des Terek, bis zum Kuban im Westen. Nach ihrem heldenmütigen Kampf gegen die Russen, in dem sie 1864 unterlagen, wanderte ein großer Teil der Tscherkessen nach Türkisch-Kleinasien aus und entartete dort zu ruhelosen Räuberbanden. Die Tschetschenzen gliedern sich in mehrere Stämme: die eigentlichen Tschetschenzen, die Itschkereier, Ingutscher, die wieder in mehrere Teilstämme zerfallen, die Kister, Karabulaken und Mitschiko. Sie wohnen zum größten Teil in Tschetschenien und Itschkerien, nordwestlich vom Bergland Dagestan, in den Tälern des Argun und seiner vielen Nebenflüsse, nördlich bis in die Gegend von Grosnyj und am Terek, westlich bis gegen Wladikawkas. Die zahlreichen lesghischen Stämme, von denen die Awaren am bekanntesten sind, hausen in Dagestan.
Von den indoeuropäischen Völkern sind vorweg die Osser oder Osseten zu nennen. Sie besiedeln die Westufer der oberen Läufe des Aragwa und Terek und verteilen sich nach Norden bis in die Gegend westlich von Wladikawkas. Auch die Tataren an der Küste des Kaspischen Meeres, nördlich von Baku, sind indoeuropäischer Abstammung.
Von den türkisch sprechenden Stämmen erwähne ich die Kumücken im Küstenland von Dagestan am Kaspischen Meer bis südlich von Derbent. Nördlich von ihnen, im Deltaland des Terek, wohnen die Nogaier, vereinzelte türkische Stämme, wie die Tauluer und Karatschaier, leben hoch oben im Gebirge, westlich vom Elbrus und nördlich von Swanetien.
Am Montag, dem 6. Juli, morgens 4 Uhr, verließen wir Tiflis. Napoleon hatte alle Anordnungen für uns getroffen und begleitete uns im Automobil. Unsere Erwartungen waren hoch gespannt, hatten wir doch von dem eigenartigen Weg durch den Kaukasus soviel erzählen gehört. Die Russen hatten schon in den Jahren 1783 und 1784, gleichzeitig mit der Begründung der Stadt Wladikawkas (das heißt »Herrscherin des Kaukasus«), den Straßenbau in Angriff genommen. Anfang des vorigen Jahrhunderts war die Straße fertig, wurde aber dann unter großem Kostenaufwand vom Fürsten Barjatinski, dem Bezwinger Schamyls, umgebaut und war in ihrem jetzigen Zustand erst 1861 vollendet. Das erste Stück der Straße folgte dem Lauf des Kura nach Norden. Dann kamen wir in eine Taleinschnürung, wo der neue Staudamm für das Kraftwerk quer über den Fluß gebaut wird. Zunächst sollen hier 18 000 Pferdestärken gewonnen werden, für später ist eine Steigerung der Ergiebigkeit auf 30 000 Pferdestärken geplant. Hoch oben auf dem Gipfel des steilen Berges, jenseits des Kura, steht, einem Adlerhorst vergleichbar, die Kreuzkirche. Wie eigenartig ist der Brauch der Georgier, ihre Kirchen auf unzugängliche Bergesgipfel zu bauen! Der Franzose Chardin wollte diesen Brauch 1672 damit erklären, daß die guten Leute sich auf diese Weise die Mühe ersparten, ihre Kirchen auszuschmücken und instand zu halten. So hoch oben besuche sie ja doch niemand. Mit dieser Erklärung ist es wohl nicht getan. Viel eher haben wir es hier mit dem Rest einer alten persischen Überlieferung zu tun, wonach der Mensch auf den erhabenen Gipfeln heiliger Berge dem Himmel und seinem Gott näher ist. Wahrscheinlich liegt auch eine Sicherheitsmaßnahme zugrunde. Auf entrückten Gipfeln war es leicht, sich und die Heiligtümer der Kirche gegen die Angriffe der ungläubigen Banden zu verteidigen, die immer wieder das Land beunruhigten. Auch die Kreuzkirche war, wie viele andere, in früherer Zeit von einer hohen Burgmauer mit Wachtürmen umgeben und so zu einem richtigen Verteidigungsbollwerk ausgebaut.
Der Weg führte weiter am Kura entlang. Der Fluß macht hier eine scharfe Biegung und fließt durch eine enge Schlucht nach Süden, während er bisher von Westnordwest kam. Nach einiger Zeit überquerten wir den Fluß auf einer Brücke, dann machte die Straße eine Wendung nach rückwärts, wir fuhren am linken Ufer in östlicher Richtung an der alten georgischen Hauptstadt Mzchet (Mzchetha) vorüber. Die Stadt liegt auf dem Landzipfel zwischen dem Kura und dem Aragwa, der hier von Norden kommend in den Kura mündet. In dem ehrwürdigen Dom von Mzchet sind die georgischen Könige zur ewigen Ruhe bestattet. Unser Weg wendet sich wieder nach Norden, wir fahren durch das Tal des Aragwa, an einem alten Nonnenkloster und den Resten einer Festung vorüber. Hier bewegen wir uns auf geschichtlich geheiligtem Boden, Erinnerungen aus der ältesten Geschichte des Volkes umweben uns, die Totenklage, die aus Dichtung und Musik des Volkes tönt, hat hier in den Ruinen der georgischen Vorzeit körperliche Gestalt angenommen. Georgien, wenigstens seine Kernländer Kartelien und Kachetien, ist ja eines der ältesten Königreiche der Erde. Die Reihe seiner Herrscher bildete durch 2000 Jahre hindurch bis zum Beginn des vorigen Jahrhunderts, als Georgien sich an Rußland anschloß, eine einzige, fast ununterbrochene Kette. In der Nähe des Nonnenklosters wurden viele Gräber mit Steinsärgen aus der Bronzezeit gefunden. Sie sind die Überreste der Kultur eines älteren, langschädligen Volkes, das von den später eingewanderten, überwiegend kurzschädligen Georgiern oder Karteliern ganz verschieden ist.
Die Straße folgt weiterhin dem Fluß, der in seinem Lauf, seinen Becken und Stromschnellen reichlich Wasser führt. Der norwegische Volksglaube ließe in einem solchen Fluß Nöcke oder Stromschnellengeister ihr wildes Spiel treiben. Hier bewohnen ihn Nymphen, sogenannte Russalken, mit langem Rothaar und grünen Augen; sie locken die Männer an sich und kitzeln sie zu Tode. – Die Straße steigt allmählich an, sie zweigt nach links aus dem Aragwatal ab, die Landschaft wird reich und üppig, grüne Almwiesen breiten sich aus, die Talwandungen sind bewaldet, im Osten stehen die nackten, abgeschliffenen Bergwände. Wir waren erstaunt, an einem kleinen Salzsee, Basalétskoje genannt, vorüberzukommen. Er zeigte uns, daß auch hier, so nahe an den südlichen Ausläufern des Gebirges, Trockenheit herrschen kann. Sogar hier ist der Niederschlag im Verhältnis zur Wasserverdampfung gering. – Wir durchquerten den Ort Duschet, den früheren Sitz des Eristaw (Vizekönigs) der Provinz Aragwa. Seine Macht war so groß, daß er es wagen konnte, sogar gegen die Könige von Georgien zu kämpfen. Noch zeugen die Ruinen einer Festung von jener Zeit. – Nicht weit von hier steht auf dem Gipfel eines 1000 Meter hohen Berges, von den ehrwürdigen Bäumen eines heiligen Hains beschattet, eine Kirche, die dem heiligen Kwirik und der heiligen Awlita geweiht ist. Solche heiligen Bäume und Haine gibt es im Kaukasus viele. Offenbar waren sie einst in heidnischer Zeit Opferstätten.
Zwischen fruchtbaren Gefilden eilte unser Wagen weiter. Der Waldbestand des Gebirges nahm zu. Nun ging es ins Tal des Weißen Aragwa hinab und durch die Ortschaft Ananur. Oberhalb der Stadt stehen auf steilem Berg die Überreste einer alten Burg. Der Burgbereich ist von einer Mauer umgeben, in deren Kreis auch mehrere Kirchen stehen. Im Mittelalter muß dieses Bollwerk das ganze Tal beherrscht haben. Hierher floh König Heraklius II., der weidwunde Löwe Georgiens, während des Endkampfes gegen die Perser im Jahre 1795, als Tiflis vom Feind eingenommen und zerstört war. Hier hat der fast 90jährige Held ein neues kleines Heer um sich versammelt, mit dem es ihm gelang, seine Feinde noch einmal aufs Haupt zu schlagen und Tiflis zurückzuerobern.
Höher türmten sich um uns die Berge, enger wurde das Tal, dichter Waldbestand bekleidete die Hänge, tief unten im Talgrund schäumte der Fluß. Dann aber bogen wir plötzlich von der Straße nach rechts ab und hielten vor einem Hotel in einem üppigen Blumen- und Baumgarten. Hier in Passanaur, 1016 Meter über dem Meere, wollten wir frühstücken.
Ter Kasarians Frau und seine beiden Kinder sowie der armenische Jagdheld, den wir in Tiflis kennengelernt hatten, und seine Frau erwarteten uns hier. Sie waren kurz vor uns mit dem Auto angekommen. Obgleich Quisling und ich die Damen nie vorher gesehen hatten, wurden wir ihnen doch nicht vorgestellt. Erst etwas später merkten wir zufällig, mit wem wir es zu tun hatten, und konnten sie begrüßen. Diese kleine Episode ist bezeichnend für den Landesbrauch, der von unsern Höflichkeitsanschauungen so sehr abweicht. Wir waren nun solange Zeit mit Ter Kasarian zusammen gewesen, er vertrat uns gegenüber die Regierung und bewirtete uns in ihrem Namen während der ganzen Reise durch Georgien und Armenien, aber wir hatten weder seine Frau kennengelernt, noch waren wir der Gattin irgendeines der leitenden Männer vorgestellt worden, mit denen wir unterwegs zusammentrafen. Nach östlicher Auffassung hat eben die Frau ihre enge häusliche Welt und zählt in der Öffentlichkeit nicht mit. Es ist dort mit den Ehefrauen genau so wie bei uns mit weiblichen Dienstboten, sie werden mit Gästen nicht in gesellschaftlichen Formen bekannt gemacht. Es schien mir, als ob die Frauen auch keinen Wert darauf legten. Wurde man gelegentlich einmal einer Dame vorgestellt, so wechselte man kaum einige Worte, selbst wenn sprachliche Verständigung möglich war, und die Frau des Hauses zog sich alsbald zurück. Ich hatte den Eindruck, als seien die Frauen nicht gewohnt, öffentlich hervorzutreten, und als hegten sie auch nicht den Wunsch danach. Und dennoch hat die Weiblichkeit in der Geschichte dieser Völker eine so ungeheuere Rolle gespielt. Man denke nur an die heilige Hripsime und ihre Nonnen in Armenien, an Nino, die den Georgiern das Christentum brachte, vor allem aber an die gewaltige Königin Tamâra. In den altadligen und fürstlichen Familien Georgiens scheint die Frau eine ganz andere Stellung zu haben. In diesen Kreisen konnte ich feststellen, daß in Fällen, wo die Familie sparen mußte, der Mann auf gemeinsamen Eisenbahnfahrten die dritte Klasse benutzte, seine Damen aber die erste.
Auf dem Platz vor dem Hotel trottete ein halberwachsener Bär an einer langen Kette hin und her. Er sah recht gemütlich aus, doch war es nicht ratsam, sich ihm zu nähern. Ging ein Fremder auf ihn zu, so stürzte er ihm plötzlich in rasender Wut entgegen, so weit die Kette reichte. In gewissem Sinn war er ein Beispiel für die wirkliche Einstellung der kaukasischen Völker gegenüber uns Europäern. Die Leute haben im Grunde auch keinen Anlaß, uns zu lieben. Europäer haben sie unterjocht und ihnen die Freiheit geraubt.
Passanaur schien eine recht betriebsame kleine Stadt zu sein. Die Häuser waren von üppigen Gärten und Laubbäumen umgeben. Die Poststation war groß und geräumig. Dahinter lag ein weiter, freier Platz und rundherum lange Gebäude mit Galerien und Schutzdächern, unter denen allerlei Fahrzeuge bereitstanden. So lagen Ortschaft und Poststation zwischen den steil und trotzig zu beiden Seiten des Tales aufragenden, bewaldeten Bergen.