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Wir hatten ein anschauliches Bild von der großen Bedeutung der Fischerei für die Volkswirtschaft des Wolgagebietes gewonnen. Die Menge und Mannigfaltigkeit der Fische, die hier im Laufe des Jahres aus dem Wasser gezogen werden, stehen auf der Welt einzig da. Die Hauptfischzeit sind Frühjahr und Sommer, die ergiebigsten Gewässer sind das Wolgadelta und die seichten, nur wenige Meter tiefen Teile des Kaspischen Meeres, die dem Delta unmittelbar vorgelagert sind.
Der größte und wichtigste Zweig neben der Woblafischerei ist die Heringsfischerei an der Wolgamündung. Die kaspischen Heringsarten oder Maifische bilden zusammen eine besondere Gattung Caspialosa. Sie ist mit der Gattung Alosa verwandt, zu der die größte Heringsart Alosa vulgaris, Cuv. gehört. Dieser Hering wird bis zu 60 Zentimeter lang, er lebt an den europäischen Küsten und geht zum Laichen in die Flüsse. Die kaspischen Heringsarten machen es ähnlich. Wenn sie nicht überhaupt ins fließende Süßwasser hinaufwandern, so ziehen sie zum Laichen mindestens in den Süßwasserbereich des Deltas und seiner nächsten Umgebung.
Die für die Fischerei wichtigste Art ist der Wolgahering (Caspialosa volgensisVgl. über diese und die im folgenden genannten Fischarten A. Behning a. a. O., S. 78 ff.). Er wandert in großen Zügen Anfang Mai ins Wolgadelta hinauf und laicht dort im Mai und Juni. Der Zug dauert fünf bis sieben Tage. In dieser kurzen Zeitspanne wird auch die größte Ausbeute gemacht. Viele Heringszüge steigen bis Stalingrad (Zarizyn), mancher sogar noch weiter flußaufwärts. Nur ein kleiner Teil dieser Heringe geht während der Wanderung und Laichzeit an Unterernährung zugrunde, die andern kehren ins Meer zurück und können noch einmal zum Laichen in den Fluß hinauf ziehen, doch scheint der Hering nicht öfter als zweimal zu laichen. Der Wolgahering ist im dritten Jahre geschlechtsreif und wird nur selten älter als sechs Jahre. Die jährliche Ausbeute an Wolgaheringen beträgt ungefähr 450 Millionen Stück oder 150 000 Tonnen.
Die größte kaspische Heringsart, der Schwarzrücken (Caspialosa kessleri), wird bis zu einem Meter lang und bis zu eineinhalb Kilogramm schwer. Im Vorfrühjahr wandert er die Wolga hinauf und erreicht Anfang oder Mitte Juni die Höhe von Samara. Er steigt bis in die Kama und Oka hinauf und kann sogar noch bis zu 1290 Kilometer weit kamaaufwärts wandern. Das Weibchen laicht ein einziges Mal im Alter von fünf bis sechs Jahren. Nach der Laichzeit gehen Männchen und Weibchen ausnahmslos infolge der weiten Wanderung an Erschöpfung zugrunde. In besonders heringsreichen Jahren soll der Fluß beim Zurückgehen des Hochwassers einen eigenartigen Anblick bieten, wenn die Heringsleichen zu Hunderttausenden in den Zweigen des bei niedrigem Wasserstand trockengelegten Weidengebüsches hängen. Der Hauptfang wird in den Deltaarmen gemacht, durch die der Fisch in die Wolga einzieht. In den Jahren 1911 bis 1915 wurden jährlich 20 Millionen Schwarzrücken erbeutet. In letzter Zeit geht der Fang zurück, weil der Hering nicht mehr in so großen Mengen in die Wolga kommt. 20 Millionen Schwarzrücken ergeben ungefähr 15 000 Tonnen gesalzenen Hering. Nur ein geringer Teil des Fanges wird geräuchert, man wählt dazu die größten Fische aus.
Der kaspische Hering (Caspialosa caspia) steigt nur teilweise zum Laichen ins Wolgadelta hinauf, die Mehrzahl laicht Ende Mai und Juni im Süßwasser vor dem Delta oder in den vielen Süßwasserbecken am Westrande des Deltas. Die Fischerei ergibt jährlich rund 130 Millionen kaspische Heringe im Gewicht von 17 500 Tonnen. Die übrigen Heringsarten des Kaspischen Meeres haben für die Fischerei geringere Bedeutung. Auch eine sprottenähnliche Fischart (Harengula delicatula) laicht Ende April und Anfang Mai in oder vor dem Wolgadelta. Bis jetzt wurde sie noch nicht im großen gefangen. Doch denkt man für die Zukunft an die Entwicklung auch dieses Fischereizweiges. Die erbeuteten Sprotten sollen in Konservenfabriken verarbeitet werden. Noch ein interessanter Fisch wird in der Wolga gefangen, das kaspische Neunauge oder Caspiomyzon wagneri. Es ist ein tiefstehender, dem Aal ähnlicher Fisch mit Saugmund, der sich meistens auf dem Grund und im Grundschlamm aufhält. Er steigt im September bis Dezember wolgaaufwärts und laicht nach einer Wanderung von 2000 bis 2400 Kilometern im April und Mai. Man fängt ihn in Reusen. In früherer Zeit wurde er nur zur Viehfütterung und zur Fettgewinnung verwendet, in letzter Zeit dient er auch gebraten oder mariniert als Nahrungsmittel. Die Jahresausbeute beträgt 20 bis 30 Millionen Stück oder 1140 bis 2130 Tonnen.
Die Bedeutung der eigentlichen Süßwasserfische darf nicht über diesen Wanderfischen vergessen werden. Es handelt sich vor allem um Karpfen, Welse, Hechte, Barsche, die in verschiedenen Arten in der ganzen Wolga und ihren Nebenflüssen vorkommen. Die Störe werden hier »krasnoje«, das heißt »rot«, genannt. Diese Süßwasserfische aber heißen wegen ihres weißen Fleisches »bjelj« (Weißfisch). Es gibt eine besondere biologische Gruppe dieser Fischarten, die nur im Wolgadelta, zeitweise auch in dem schwach salzhaltigen Wasser des Kaspischen Meeres unmittelbar vor dem Delta leben. Im Deltagebiet nennt man sie Grubenfische, weil sie in Gruben oder Vertiefungen von etwa vier bis fünf Metern in den Deltaarmen nahe der Mündung überwintern. Die Fische fressen sich den Sommer über dick und rund und sammeln sich dann in ungeheueren Mengen in diesen Gruben. Dort stehen die großen Welse (Siluris glanis) in der Mitte, wo die Grube am tiefsten ist. Die kleinen Rotaugen stehen am Rande, die Karpfen und Brachsen bilden einen Ring zwischen den Welsen und Rotaugen. Bei der tiefen Wintertemperatur von beinahe Null Grad hat der Fisch einen langsamen Stoffwechsel und befindet sich in einer Art Dämmerzustand. Die Fischwasser sind im Winter glücklicherweise gesetzlich geschützt, sonst würden die Fischer bei ihrer genauen Kenntnis der Gruben den ganzen Fischbestand ausrotten. Während der Revolution von 1917 war die Gefahr sehr groß. Damals wurde die ganze Gegend abgefischt, und es dauerte fünf oder sechs Jahre, bis der Fischbestand wieder einigermaßen aufgefrischt war. In den ersten Jahren schien er beinahe ganz ausgestorben. Im Vorfrühjahr wachen die Fische aus ihrem Dämmerzustand auf, gehen aus ihren Gruben, wandern ein kleines Stück im Delta aufwärts und laichen im Schilf des Überschwemmungsgebietes. Dort finden sie reiche Nahrung, füttern sich daran auf und wandern später, wenn das Süßwasser steigt, bis zu 100 Kilometer weit ins Meer hinaus. Erst im Herbst kommen sie in die Deltagegend zurück. Die Fischerei erbeutet alljährlich im Wolgadelta rund 13 000 Tonnen Karpfen, 19 000 Tonnen Brachsen, 4000 Tonnen Welse, 20 000 Tonnen Barsche (Sudak oder Lucioperca lucioperca), 8500 Tonnen Blikken (Blicca björkna), 1200 Tonnen Rapfen (Aspius aspius), insgesamt 65 700 Tonnen.
Zum Schluß sei noch die Weißlachsfischerei erwähnt. Der Weißlachs (Stenodus leucichthys) ist ein besonders feiner Fisch. Er unterscheidet sich nur wenig von dem hochgeschätzten Nelma (Stenodus leucichthys nelma) der nordrussischen und sibirischen Flüsse und des Eismeeres. Er hält sich meistens im nördlichen Teil des Kaspischen Meeres auf. Im Spätherbst und Winter gehen die ersten Züge in die Wolga hinauf, die Hauptwanderung beginnt aber erst im späten Winter oder zu Anfang der Eisschmelze. Der Weißlachs wandert weit in die Kama hinauf bis nach Wisjera und Ufa. Dort laicht er Ende September und im Oktober nach einer Wanderung von 2700 bis 2800 Kilometern. Die Fische kehren zum Teil nach der Laichzeit ins Meer zurück. Sie magern dabei sehr stark ab, weil sie während der ganzen Flußwanderung nur wenig fressen. Viele Weißlachse, besonders Weibchen, gehen auch an Unterernährung zugrunde. Dieser Fisch wird bis zu 110 Zentimeter lang und 16 Kilogramm schwer. Im Alter von fünf bis sechs Jahren wird er bei einer Größe von 70 bis 90 Zentimetern geschlechtsreif und tritt dann die Flußwanderung an. Ein Weibchen legt etwa 170 000 Eier. In letzter Zeit werden jährlich zwei bis zehn Millionen Junge künstlich ausgebrütet. Die Weißlachsfischerei ist ein recht ergiebiger Produktionszweig. Das Fleisch ist fett, wohlschmeckend und grätenfrei. Ein besonderer Vorteil besteht darin, daß der Hauptfang im Winter gemacht wird, wo der Fisch leicht aufzubewahren ist. Vor dem Kriege wurden in der unteren Wolga jährlich 35 000 bis 50 000 Stück oder 280 bis 410 Tonnen gefangen. Die Lachs- und Seeforellenfischerei an der ganzen langen norwegischen Küste und in den Flüssen ergibt jährlich 570 bis 1150 Tonnen.
Eine andere Lachsart ist Salmo trutta labrax. Sie kommt im Kaspischen und Schwarzen Meere vor und ist unserer nordischen Seeforelle nahe verwandt. Im Kaspischen Meere bevorzugt sie die südlichen Gewässer und steigt in die Flüsse, die an der Westküste zwischen dem Terek und dem persischen Sefid-Rud münden. Nur vereinzelt kommen sie mit dem Weißlachs zusammen auch in die Wolga hinauf. Sie werden 80 bis 100 Zentimeter lang und wiegen dann etwa 20 Kilogramm.
In den nördlichen Gewässern des Kaspischen Meeres, nördlich der Halbinsel Manghischlak, wird auch die kaspische Robbe gejagt. Die Ausbeute beträgt 40 000 Stück im Jahr. Das Gesamtbild der Ergebnisse der Wolgafischerei im Delta und der Fischerei im Deltabereich des Kaspischen Meeres geht aus der hier folgenden Übersicht hervor:
Wolgaheringe und andere Heringsarten insgesamt | 183 000 | Tonnen |
Wobla | 82 000 bis 150 000 | Tonnen |
Süßwasserfische (Weißfische) | 65 700 | Tonnen |
Hausen (Beluga) | 44 000 | Tonnen |
Russischer Stör (Osetrina) | 5000 | Tonnen |
Sternstör (Sevriuga) | 2500 bis 3300 | Tonnen |
Neunaugen | 1140 bis 2130 | Tonnen |
Weißlachse | 280 bis 410 | Tonnen |
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Zusammen | 383 620 bis 453 540 | Tonnen |
Die norwegische Fischerei ergibt an unserer langgestreckten Küste jährlich 438 000 Tonnen, im Durchschnitt der 17 Jahre von 1910 bis 1927 waren es 599 000 Tonnen. Davon kommen allein 300 000 bis 400 000 Tonnen jährlich auf den Hering. Die bedeutende schottische Heringsfischerei ergab in dem guten Jahr 1924 470 000 Tonnen. Im Vergleich mit diesen Zahlen erscheint die Ausbeute des Mündungsgebietes der Wolga außerordentlich groß, denn die Gewässer der norwegischen und schottischen Fischerei sind viel weiter ausgedehnt. Man denke, daß alle diese Fische in dem seichten, nördlichen Teil des Kaspischen Meeres und im Wolgadelta ihre Nahrung finden und aufwachsen. Die Wanderfische fressen ja in der Wolga selbst nur ganz wenig. Auf einem so engen Raum findet man selten so viele verschiedene Arten genießbarer Fische. Der Fischreichtum läßt auf einen einzigartigen Überfluß an Plankton und anderer Fischnahrung in diesen Gewässern schließen. Die gelbbraunen Wassermassen, die sich aus der Wolga ins Meer ergießen, enthalten wohl besonders reiche Mengen Nährstoffe, wahrscheinlich besonders viel Stickstoffverbindungen (Nitrate, Nitrite usw.). Diese Stoffe sind eine Voraussetzung für die Entwicklung von Pflanzenplankton und bedingen dadurch mittelbar auch die Entwicklung von Tierplankton.
Die Wolga ist 3689 Kilometer lang und durchströmt ein weites fruchtbares Flachland, das zum größten Teil aus besonders humusreicher, schwarzer Erde besteht. Das Stromgebiet der Wolga und ihrer Nebenflüsse ist rund 1 459 000 Quadratkilometer groß. Im Frühjahr und Frühsommer steigt das Wasser bis zu 15 Meter und höher. Dann überschwemmt es weithin das fruchtbare Flachland, und die Fluten führen große Mengen stickstoffhaltiger Nährstoffe aus dem mit Pflanzen bewachsenen Schwemmgebiet mit sich. Im fließenden Wasser können diese Stoffe nicht in Plankton verwandelt werden. Der größte Teil kommt also ungenutzt bis ins Kaspische Meer. Dort bleibt das in die See ergossene Flußwasser verhältnismäßig lange beisammen, denn es gibt keine großen und starken Meeresströmungen und auch keine Gezeiten, die das Süßwasser schnell mit dem Salzwasser vermengen wie in den offenen Meeren. So bleibt das Süßwasser in dem seichten, nördlichen Teil des Kaspischen Meeres, besonders vor dem Delta selbst stehen.
Die Wolga führt in ihrem Unterlauf nach genauen Berechnungen zwischen 1200 bis 60 000 Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Im Sommer bei Hochwasser schickt sie also in der Stunde 200 Millionen Kubikmeter, im Tage 5000 Millionen Kubikmeter Süßwasser ins Kaspische Meer. Sie könnte also mit ihren Wassermassen täglich 2500 Quadratkilometer mit einer Wasserschicht von zwei Meter Höhe bedecken. Diese Süßwassermengen führen immer von neuem wertvolle Nährstoffe ins Meer und bilden daher in Verbindung mit der Wasserwärme (im Sommer 26 bis 28°C) die besten Bedingungen für die Entfaltung eines besonders reichen Planktonlebens. Unter solchen Verhältnissen müssen die Fische sich gut entwickeln und fortpflanzen.
Nur so ist es zu erklären, daß sich die Fische hier in größerer Menge und reicherer Mannigfaltigkeit der Arten entwickeln als irgendwo auf der Erde.
Vor unserer Abreise nach Astrachan am gleichen Abend hatte Herr Strelnikow, der Besitzer des Fischleichters, den wir vormittags besucht hatten, ohne unser Wissen zwei große Büchsen herrlichen Kaviar von dem vor uns geöffneten Osetrinastör an Bord gebracht. Der Kapitän war so freundlich gewesen, den Schatz im Kühlraum des Schiffes für uns aufzubewahren. Unsere Freunde vom Vollzugsausschuß hatten uns außerdem noch einen großen Vorrat gepreßten Kaviar geschickt. Einen Teil davon brachte ich bis nach Norwegen mit. Er hielt sich trotz der Sommerhitze ausgezeichnet.
Am 13. Juli, abends 8 Uhr, begann die Fahrt auf der Wolga nach Norden. Das große, bequem eingerichtete Schiff hatte ein herrliches Promenadendeck. Herr Schwedow und unsere anderen Freunde begleiteten uns ein Stück weit in einem Schleppdampfer.
Das war der Beginn einer denkwürdigen Reise auf dem größten europäischen Fluß, der gewaltigen Schlagader der russischen Ebene. Die Wolga durchzieht mit ihren Nebenflüssen den größten Teil der westuralischen Sowjetrepubliken, eine Fläche von 1 459 000 Quadratkilometern, also ein Gebiet, das größer ist als Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammengenommen. 50 Millionen Menschen wohnen im Stromnetz der Wolga. Dieses Land war vor dem Weltkrieg die Kornkammer Europas. Von hier und aus der Ukraine bekam auch unser kleines Norwegen den größten Teil seiner Getreideeinfuhr. Der Getreidebau ist heute noch nicht wieder auf seine alte Höhe gebracht, und die Ausfuhr ist noch immer nicht besonders groß.
Die Wolga ist die Quelle des Volkswohlstandes im ganzen südöstlichen Rußland. Auf ihr und ihren Nebenflüssen kann man zu Schiff bis an die Uralberge im Osten fahren, Kanäle ermöglichen die Schiffahrt bis zum Eismeer im Norden, zur Ostsee im Nordwesten, und wenn der Donkanal fertig sein wird, ist auch die Verbindung mit dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer nach Südwesten hergestellt. Regelmäßige Dampferlinien verkehren zwischen der Ostsee und dem Kaspischen Meer. 12 von den 130 Nebenflüssen der Wolga sind schiffbar. Die schiffbaren Strecken des ganzen Stromnetzes sind 29 770 Kilometer lang.
Die Wolga selbst entspringt auf den Waldaihöhen in der Provinz Twer. Sie ist 3694 Kilometer lang und hat bis zum Kaspischen Meer ein Gefälle von 262 Metern. Sie fließt zum größten Teil durch flaches Land, die Strömung ist also langsam, sie beträgt im allgemeinen 0,80 bis 1,20 Meter in der Sekunde oder 2,90 bis 4,30 Kilometer in der Stunde. Bei Hochwasser steigt die Stromgeschwindigkeit bis über das Doppelte, sinkt aber bei Niedrigwasser weit unter den Durchschnitt. Das Schmelzwasser braucht im Frühjahr nach genauen Berechnungen zur Zurücklegung der 2747 Kilometer langen Strecke von Rybinsk bis Astrachan 50 Tage. Das entspricht einer Stundengeschwindigkeit von 2,3 Kilometern und einer Sekundengeschwindigkeit von 0,64 Meter. Der Fluß ist an seinem Unterlauf, südlich von Samara und Ssaratow, bis zu 2 Kilometer breit, stellenweise sogar noch breiter. Die Spannweite des Mündungsdeltas am Kaspischen Meere beträgt 170 Kilometer.
Ungezählte Boote und Schiffe, Flöße und Leichter, Dampfer und Segler, mit Tausenden von Menschen und wertvollster Ladung an Erzeugnissen des reichen Landes, fahren unablässig stromauf- und ‑abwärts. An den Ufern liegen reiche und große Städte mit lebhaftem Verkehr und Getriebe. An dem langen Flußlauf und in den Ebenen entstanden und verfielen im Laufe der Jahrhunderte große und mächtige Reiche, das Bulgarenreich in Bulgar, das Chasarenreich im Süden, die Reiche der Mongolen, Tataren und anderer Völker. Endlich befestigten die Russen von Norden her auch hier ihre Herrschaft. Die Wolga wälzt ihre braungelben Wassermassen durch ihr breites, vielgewundenes Bett, durch die flache weite Ebene, wie sie es vor Jahrtausenden schon tat, lange bevor Menschen an ihren Ufern lebten. Eine einzige sichtbare Spur hat das Menschenwerk hinterlassen: die Wälder, die einst die Feuchtigkeit hielten, sind niedergehauen, dadurch sind die Überschwemmungen zur Zeit der Schneeschmelze häufiger, aber die Überschwemmungszeiten kürzer geworden.
Der lebhafteste Schiffsverkehr geht wolgaaufwärts zur Ostsee. Der Wolga-Newa-Kanal hat Leningrad zum Haupthafen des Wolgaverkehrs gemacht. Der Warenverkehr von Leningrad ist 15mal so groß als der von Astrachan. Stromaufwärts werden vor allem Fische, Metall, Fabrikwaren, Häute, Getreide, Mehl, Flachs, Petroleum, Öle, Salz und Holz verfrachtet, flußabwärts namentlich Fabrikwaren, aber auch Holz für die waldarmen Provinzen Samara, Ssaratow und Astrachan. Viele Leichter werden auch schon nach der ersten Frachtfahrt flußabwärts am Unterlauf abgebrochen und als Balkenholz verwendet. Das Flußbett ist ständigen Veränderungen unterworfen und muß alljährlich ausgebaggert werden. Die Schiffe laufen oft auf Sandbänke. An den gefährlichsten Bänken stehen dauernd besondere Dampfschiffe zur Hilfeleistung bereit.
In früherer Zeit treidelten zehntausende Burlaki die Boote und Leichter am Ufer entlang flußaufwärts. Von ihnen stammen die bekannten Wolgalieder. In unserer Zeit werden Schleppdampfer verwendet, und die Burlaki findet man nur noch an einigen Nebenflüssen. In den Kanälen werden die Boote durch Pferde getreidelt. Die Schiffahrt und der lebhafte Flußverkehr dauern den Sommer und Herbst über. Das Wasser, das im Juli südlich von Ssaratow 25 bis 26°C, im Delta und bei Astrachan 28,5°C hat, wird dann kälter und nähert sich immermehr dem Gefrierpunkt. Im November bildet sich die erste Eiskruste, der Fluß friert allmählich zu, und die Schiffahrt ist stillgelegt. Sobald das Eis eine gewisse Dicke erreicht hat, bildet es für die Dauer von drei bis vier Monaten eine prächtige Straße für lebhaften Schlittenverkehr flußauf, flußab und von Ufer zu Ufer. Sogar die Eisenbahn fährt darüber. An Stellen, wo es keine Brücken gibt, werden im Winter Schienen von Ufer zu Ufer gelegt, und die Güterwagen werden über die Eisdecke hinwegverschoben. So spart man sich die teuere Arbeit der Eisbrecher. Die Eisdecke wird durchschnittlich 70 bis 90 Zentimeter dick, an der unteren Wolga erreicht sie manchmal die Stärke von eineinhalb Meter. Im Frühjahr setzt dann an der unteren Wolga um den 10. bis 20. April, bei Astrachan am 14. März die Eisschmelze ein. Der Eisgang wälzt sich in gewaltigen Massen den Fluß herab, die Schollen türmen sich an den Ufern zu ungeheuren Wällen, und wehe dem Fahrzeug, das um diese Zeit nicht sicher auf dem Trockenen liegt. 14 Tage später ist die Wolga wieder schiffbar.
Auch nördlich von Astrachan bleiben die Flußufer niedrig, besonders das östliche, dessen flaches Uferland viele Flußarme durchkreuzen. Der Strand ist weithin verschilft. Das Westufer ist ein wenig höher, trocken, schilflos und wird nur selten von einem Seitenarm eines Flusses unterbrochen. Die auffallende Verschiedenheit der beiden Ufer muß einen bestimmten Grund haben. – Auf dem Westufer kann man ungefähr 10 Kilometer nördlich von Astrachan noch die Reste der einst so mächtigen Hauptstadt des Chasarenreiches Itil finden. Itil war im ganzen ungefähr drei Jahrhunderte hindurch bis zum Jahre 969 der Mittelpunkt dieses ausgedehnten Reiches. Jetzt liegt in nächster Nähe der Hauptsitz der mongolisch-kalmückischen Buddhisten, Kalmytsk Bazar mit seinem Buddha-Tempel.
Die Dämmerung brach herein, die Nacht goß aus sternbesätem Himmel ihre dunkle Schale über die langsam gleitenden Fluten der Wolga aus. Die Linien der flachen Ufer zerflossen in der Dunkelheit. Aus weiter Ferne klangen die summenden Töne des Wolgaliedes zu uns herüber, des Liedes von Stenjka Rasin, dem Kosakenhäuptling, dem Freund der Armen und Unterdrückten, der aus Liebe zu einer schönen persischen Fürstin beinahe sich selbst, seine Schutzbefohlenen und seinen Kampf gegen die Unterdrücker vergessen hätte. Doch endlich gewann er wieder die Herrschaft über sich, opferte die Geliebte, senkte sie in die Wogen der Wolga und eroberte an der Spitze seiner Bauern im Jahre 1670 Astrachan.
Murren hört man die Gesellen:
»Uns vertauscht er um ein Weib;
eine Nacht mit ihr verbracht nur
und am Morgen selbst ein Weib.«
Wolga, Wolga, teure Mutter,
Wolga, Rußlands breiter Fluß!
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— — — — — — — — — — —
Sollen wir denn bösen Hader
unter freien Mannen pflegen?
Wolga, Wolga, teure Mutter,
nimm die holde Maid entgegen!
Weshalb schweigt ihr, Teufels Brüder?
Hörst du, Fillka? Tanz, Geselle!
Laßt uns singen brave Lieder . . .
Selig sei der Fürstin Seele.
(Deutsch von J. J. Mulmann.)
Der Name Wolga, »Mutter Wolga«, der im Denken und Dichten des russischen Volkes eine so große Rolle spielt, ist nicht russisch, sondern stammt von dem finnisch-ugrischen Volk der Bulgaren, die schon in den ersten Jahrhunderten n. Chr. ein Reich an den Ufern dieses Flusses gegründet hattenEin Teil dieses Volks drang schon in früher Zeit nach Westen vor, setzte sich südlich der Donaumündung fest und wurde zu einer ernsten Gefahr für Byzanz. Später nahmen die Eindringlinge die slawische Sprache an.. Ihre Hauptstadt hieß Bulgar oder Bolgary. Das entspricht lautgesetzlich dem Namen Wolgar, nach dem dann auch der Fluß bezeichnet wurde. Früher hieß er bei den Tataren und Arabern Itil, nach der Hauptstadt der Chasaren, nahe an seiner Mündung. Ptolomaios und die Griechen nannten ihn Rha, bei den finnisch-ugrischen Stämmen hieß er Rau.
Bulgar lag an den Ufern der Wolga nahe dem heutigen Kasan. Man glaubt Ruinen der alten Hauptstadt bei dem Dorfe Uspenskoje oder Bolgar, in der Nähe von Spaßk, 25 Kilometer unterhalb der Kamamündung, entdeckt zu haben. Im frühen Mittelalter war der ganze östliche Teil des heutigen Rußland, vom Chasarenreich im südlichen Steppenland am Mittellauf der Wolga und weiter nördlich bis zum Bereich des finnisch-ugrischen Volkes der Bjarmer am Weißen Meer, von finnisch-ugrischen Völkern besiedelt. Erst im 16. Jahrhundert drangen die Slawen ostwärts und an der Wolga südwärts vor. Als dann die Chasaren im Süden niedergeworfen waren und Itil seine Bedeutung als Handelsstadt verloren hatte, wurde Bulgar der wichtigste Ort an der Wolga. Im 10. Jahrhundert, als die Bulgaren zum Islam übertraten, war Bulgar eine blühende Stadt und Treffpunkt der Kaufleute, die wolgaaufwärts von Arabien, Persien und Byzanz und wolgaabwärts bis von Skandinavien kamen. Im Jahre 922 n. Chr. besuchte Ibn Fadhlân als Sendbote des Kalifen Al-Muktadir Billáh von Bagdad die Stadt und verfaßte eine denkwürdige Schilderung seiner Reise.
Ibn Fadhlâns Darstellung ist besonders für uns Nordländer interessant, denn er erzählt von einer Begegnung mit einem Kaufmann aus dem Volke Rûs, einem Skandinavier, wahrscheinlich einem SchwedenRûs mag in der finnisch-ugrischen Sprache der Bulgaren »Schwede« bedeutet haben. Im Neufinnischen heißt Schweden »Ruotsi«. (D. Übs.). Die Schweden gründeten ja das russische Reich Gardarike mit der Hauptstadt NowgorodEin anderes skandinavisch-russisches Reich wurde bekanntlich von den Warangen (Waräger, auf russisch: Warjag) in Kiew begründet, vermutlich waren am warägischen Reich sowohl Norweger als Schweden beteiligt. Harald Hårdråde war der Häuptling der Waräger in Byzanz, jenes kriegerischen skandinavischen Wandervolks, das mit seinen überlegenen Führergaben die ackerbauenden Slawen zu kriegerischen Unternehmungen zusammenschloß. Die Waräger traten auf der Wolga in so großen Scharen auf, daß sie im 10. Jahrhundert mit ihren Schiffen Streifzüge bis ins Kaspische Meer ausführen konnten.. So gibt uns Ibn Fadhlân eine der ersten Schilderungen unserer Vorväter. Sie ist freilich nicht besonders schmeichelhaft. »Die Rûsen kamen mit ihren Waren«, zum größten Teil Pelzwaren und jungen Mädchen, »sie kamen aus ihrem Land mit ihren Schiffen zum Itil« (das heißt zur Wolga), »gingen dort vor Anker und bauten sich große Blockhäuser.« Der Erzähler berichtet nicht, auf welchem Wege die Schiffe in die Wolga kamen, ob von Norden her flußabwärts oder aus dem Schwarzen Meer durch den Don. Im letzten Fall konnten die Rûsen ihre Schiffe von der chasarischen Stadt Sarkel bis zur Wolga, etwa in die Gegend der heutigen Stadt Stalingrad (Zarizyn), über Land geschleppt haben. »Nie sah ich so hochgewachsene Männer«, schreibt der Erzähler, »sie sind hoch wie Palmen, fleischfarben und rothaarig. Sie tragen keine Unterjacken und keinen Kaftan. Die Männer bekleiden sich mit einem groben Mantel, der nur die eine Schulter bedeckt, der andere Arm bleibt frei. Jeder Mann trägt ein Beil, ein Messer und ein Schwert. Nie sieht man sie ohne diese Waffen. – Die Frauen tragen ein Medaillon aus Eisen, Kupfer, Silber oder Gold auf der Brust, daran ist ein Ring befestigt, und an dem Ring ein Messer. Um den Hals tragen sie Ketten von Gold und Silber.« Die Zahl der Ketten richtet sich nach dem Vermögen des Mannes. »Der wertvollste Schmuck sind grüne Glasperlen.« – »Sie sind die schmutzigsten Menschen, die Gott geschaffen hat. Sie waschen sich nicht nach den natürlichen Vorgängen, noch auch zur Nacht. – Sie leben wie die wilden Esel.« Diese Unreinlichkeit war für einen Araber, dem so viele Waschungen durch seine Religion vorgeschrieben sind, der höchste Grad der Barbarei.
Ibn Fadhlân erzählt auch von den Götzenbildnissen unserer Vorväter und von den Opfern, durch die sie Glück im Handel zu erreichen hofften. Im Hause hatte jeder Mann eine breite Bank. Auf dieser Bank lustierte er sich auch mit einem Mädchen, während ein guter Freund zusah, ja manchmal trieben es mehrere Paare gleichzeitig so. – Ibn Fadhlân erzählt auch die Totenfahrt eines Häuptlings, deren Augenzeuge er war. Der Tote war mit einem prachtvollen Gewand aus Goldstoff und mit goldenen Knöpfen bekleidet, die Kappe war aus Goldstoff und mit Zobel verbrämt. So wurde er auf sein Schiff gebracht, das man an Land gezogen hatte. Eine Bank auf dem Schiff war mit golddurchwirkten griechischen Decken und mit Kissen aus gleichem Stoff für ihn bedeckt. Die Waffen wurden neben ihn gelegt und dazu berauschende Getränke, Früchte, Brot und Fleisch. Seine Landsleute zerwirkten einen Hund, zwei Pferde, zwei Ochsen, einen Hahn und ein Huhn und warfen die Stücke ins Schiff. Sie tranken unmäßig und »mancher starb mit dem Becher in der Hand«. Ein Mädchen, das sich bereit erklärt hatte, dem Toten ins Jenseits zu folgen, wurde nach reichlichem Genuß berauschender Getränke und nach wilden Ausschweifungen mit sechs Gefolgsmannen des Toten auf dem Schiff von dem Todesengel, dargestellt durch eine alte Frau, getötet. Zum Schluß gingen die nächsten Verwandten des Toten unbekleidet und rücklings an das Schiff heran und legten Feuer an die Reisigbündel, die unter dem Kiel aufgestapelt waren. Dann ging alles in Flammen auf, und der Häuptling trat die weite Reise in die andere Welt an.
Das Bulgarenreich an der Wolga wurde durch den Ansturm der Mongolen in seinen Grundfesten erschüttert. Es behielt nur dem Namen nach seine eigenen Fürsten, bis es Ende des 14. Jahrhunderts von Tamerlan vollständig vernichtet wurde. Bald danach wurde es von dem Tatarenreich mit der Hauptstadt Kasan abgelöst. Dieses neue Reich, im Jahre 1437 gegründet, wurde im Jahre 1552 von Iwan dem Schrecklichen erobert. Damit lag für die Russen der Weg wolgaabwärts frei, und schon wenige Jahre später eroberten sie alles Land bis nach Astrachan und dem Kaspischen Meer.
Dienstag, den 14. Juli. Wir setzen unsere Fahrt nach Norden auf der breiten Wasserstraße fort, die das endlose Flachland in weiten Windungen durchzieht. Kaum daß dann und wann ein Gehöft oder ein Dorf auf dem niedrigen Sumpfland im Osten sichtbar wird. Das westliche Ufer ist um so dichter besiedelt.
Die Sonne stach, und auch bei Nacht war es in den Kabinen drückend schwül. Am schlimmsten waren die Mücken, es gab hier sehr viele, und wir wußten, daß sie Malariaträger sind. Was soll man da machen? Bei geschlossenen Luken wird die Schwüle noch unerträglicher, und durch die offene Luke kommen die Mücken herein. Am besten wäre es, unter dem Mückennetz zu schlafen.
Wir leben wie die Tagediebe, und das ist herrlich. Nichts tut so wohl als eine solche Reise auf der Wolga, vor allem wenn man ein so ausgezeichnetes Schiff hat wie wir. Die Fahrt von Astrachan nach Nishnij-Nowgorod dauert sieben Tage, die umgekehrte Reise nur fünf. Das Schiff zieht auf dem breiten Band des Flusses seines Wegs, und das muntere Leben der Boote und Schiffe gleitet an uns vorbei, die Ufer an beiden Seiten, die weiten Ebenen dahinter, die Dörfer mit ihren großen, weißen Kirchen und Kuppeln, die Menschen bei der Feldarbeit. In langen Abständen legt das Schiff bei einem größeren Dorf oder einer Stadt an. Gewöhnlich bildet ein Leichter die Landungsbrücke. Da stehen dann die Bauern, ernst blickende Männer und Frauen, auch viel Jugend. Die Bevölkerung vertritt den bekannten südrussischen Typus, dunkler als die Nordrussen und mit starken Einschlägen tatarischen, finnischen und mongolischen Blutes. Im Hintergrund stehen an Land die Fahrzeuge von der Bauart der Telega. Das flache Steppenland, das sich östlich und westlich der unteren Wolga weit hindehnt, wird von den mongolischen Kalmücken, Kirgisen und Tataren bewohnt.
An Bord unseres Dampfers waren die verschiedensten Volkstypen vertreten. Da waren rechtgläubige Sowjetbeamte, revolutionsbegeistert und voll des Lobes über die neue Gesellschaftsform, die Rußland einer großen Zukunft entgegenführen soll. Nicht ganz dieser Meinung waren einige schwarzseherische oder zweifelsüchtige Kaufleute. Sie meinten, das sei ja alles schön und gut, wenn die Behörden sie nur nicht in ihren Geschäften hindern wollten. Manchen sah man an, daß sie am liebsten die ganze Schale ihres Hohnes über alle die Neuerungen ausgegossen hätten. Dann aber hatten wir als versöhnendes Element einige junge Ehepaare an Bord, denen Rot oder Weiß gleichgültig war, die sich über Revolution und Gegenrevolution keine Gedanken machten, sondern mit sich selbst beschäftigt waren. Wir alle aber, die Begeisterten, die Schwarzseher und die Gleichgültigen, genossen das faule Leben an Bord, das muntere Treiben auf dem Wasser und den wolkenlosen friedlichen Himmel.
Ich machte trotz der Sprachschwierigkeiten die Bekanntschaft eines sehr ansprechenden jungen Ehepaares. Die beiden sprachen fast nur russisch, das ich leider nicht verstehe. Die junge Frau war lungenkrank und reiste deshalb wolgaaufwärts und dann auf der Kama über Ufa in die Republik der Baschkiren. Dort sollte sie sich längere Zeit aufhalten, um sich in der Wald- und Bergluft von der Krankheit zu erholen. Der Anblick des schönen, jungen Menschenkindes tat mir weh. Wer weiß, ob sie je von ihrer Reise zurückgekehrt ist.
Der Fluß gleitet dahin, das Leben läuft weiter, ohne Stillstand, ohne Mitleid.
Durch der Wolga breites Bette
Rollen Wogen um die Wette.
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Über Inseln, über Seen
Weithin meine Augen spähen.
Mittags kamen wir an einer Stelle vorüber, wo viele tote Fische am Ufer herumlagen oder vom Wasser flußabwärts getrieben wurden. Oft bildeten sie ganze geschlossene Flächen. Leider gelang es mir nicht, einige Fischleichen an Bord zu holen. Ich konnte auch den Grund dieses Massensterbens nicht erfahren. Der Kapitän sagte mir nur, man finde auf der Wolga oft solche Mengen eingegangener Fische. Es sah beinahe so aus, als seien große Leichter mit Fischladung untergegangen. Professor Arvid Behning, der Leiter der biologischen Station in Ssaratow, teilte mir mit, daß zwei Erklärungen möglich sind. Entweder handelte es sich um Wolgaheringe (Caspialosa volgensis), die bis gegen Ende Juni in der unteren Wolga bis nach Stalingrad (Zarizyn) zum Laichen kommen. Sie gehen dann nach dem Laichen in großer Zahl ein, und es wäre möglich, daß wir noch am 14. Juli toten Wolgaheringen begegneten, allerdings schwerlich in so großen Mengen an einer Stelle. Es ist aber noch eine andere Deutung möglich. Mitte Juni beginnt in den Buchten und Seitenarmen der Wolga die Süßwasserfischerei (Weißfisch). Es kommt dann vor, daß die Fischer wegen Absatzschwierigkeiten oder wegen Salzmangels einen großen Teil ihres Fanges wieder in den Fluß werfen müssen. Wenn die Fischleichen, die wir gesehen haben, daher rührten, muß es sich um verschiedene Brachsenarten (Abramis brama, A. sapa, A. ballerus), um Blikken (Blicca björkna) und dergleichen gehandelt haben. Die Fische sahen auch von weitem so aus, als könnten sie zu diesen Arten gehören. Die zweite Erklärung ist also wahrscheinlich richtig.
Wir kamen zu der deutschen Ortschaft Sarepta, die Ende des vorigen Jahrhunderts einer herrnhutischen Brüdergemeinschaft gehörte. Dieses Sarepta verdankt zwar seinen Ruhm nicht dem unerschöpflichen Ölkrüglein einer Witwe, wohl aber seinen Senftöpfen. Von hier aus reihen sich bis weit nördlich von Ssaratow, ja bis Wolsk am Ostufer der Wolga, eine ganze Anzahl deutscher Ansiedlungen und Dörfer aneinander. Sie alle wurden Ende des 18. Jahrhunderts von Katharina II. gegründet. Die Ansiedler sind tüchtige Bauern und sprechen bis auf den heutigen Tag reines Deutsch.
60 Kilometer östlich von Sarepta, jenseits der vielen Seitenarme der Wolga, liegt das Dorf Zarew. Früher stand an dieser Stelle die Stadt Sarai, wo im 13. Jahrhundert Batu, der Enkel des Dschingis Chan, sein goldenes Zelt aufschlug. Sarai war der Hauptsitz des mächtigen Mongolenreiches.
Ungefähr 30 Kilometer nördlich von Sarepta liegt an einer starken Biegung der Wolga Stalingrad, das ehemalige Zarizyn. Hier nähert sich die Wolga dem Don bis auf 50 Kilometer. In alter Zeit führte von hier aus ein Schleppweg zu der stark befestigten Chasarenstadt Sarkel am Don. Von dort fuhren dann die Schiffe den Don hinab ins Schwarze Meer.
Wenn wir morgens auf das geräumige Promenadendeck hinaustraten, grüßte uns strahlende Sonne, das Wasser glitzerte, und wir erfrischten uns nach dem Aufenthalt in der schwülen Kabine. Während wir Kaffee tranken und frühstückten, ruhte der Blick auf dem Uferland, das zu beiden Seiten vorüberglitt. Die Küche an Bord war ausgezeichnet, wir konnten unsere Mahlzeiten bestellen, wann wir wollten, und nahmen sie unter dem Sonnensegel an Deck ein. Wir luden den freundlichen Kapitän ein, unsere Mahlzeiten mit uns zu teilen. Er war ein erprobter alter Seebär, der schon seit vielen Jahren mit großen Wolgaschiffen fuhr. Er konnte uns viel vom früheren und heutigen Leben auf der Wolga erzählen. Vor dem Weltkrieg herrschte ein bunter Reisebetrieb, Touristen kamen vom Orient oder fuhren dorthin, Kaukasusreisende und solche, die Südrußland besuchten, benutzten die Wolgaschiffe. Acht große Personendampfer fuhren täglich von Astrachan nach dem Norden ab, die Frachtdampfer nicht gerechnet. Jetzt gibt es nur noch einen Personendampfer täglich und außerdem ein gemischtes Personen- und Frachtschiff. Nach dem Mittagessen rauchten wir zum Kaffee eine gute Zigarre und blickten über die von der Sonne überglänzte Wasserfläche und über die weite Ebene hin. Ein herrliches Faulenzerleben! Bei Einbruch der Dunkelheit tönten aus dem großen Salon die Klänge russischer Musik über Fluß und Ebene hin, die unterm Sternenhimmel schlummerten.
»O–ho–hei, o–ho–hei
— — — — — — — —
Wolga, du bist tief und groß,
Wolga, unser Mutterschoß.
Ai da-da, ai da, ai da-da, ai da
— — — — — — — — — — —
Wolga, du bist schwer und lang — —.«
Schon bei der Einfahrt ins Wolgadelta aus dem Kaspischen Meer war uns der Höhenunterschied zwischen dem rechten und linken Ufer aufgefallen. Das westliche Ufer war höher und steiler, das östliche war ganz niedrig und verlor sich unmerklich im Wasser. Der äußerste westliche Arm des Deltas ist am breitesten und tiefsten. Bis Stalingrad (Zarizyn) fuhren wir in nordwestlicher Richtung. Dort macht der Fluß eine starke Biegung und kommt nun von Nordosten. Auf der ganzen 450 Kilometer langen Strecke vom Delta bis Stalingrad ist das Ostufer des Hauptarmes ganz flach, niedrig und sumpfig. Oberhalb Stalingrads sendet die Wolga einen Seitenarm, die Achtuba, aus. Sie stießt fast genau östlich neben dem Hauptbett. Der Abstand beträgt 12 bis 22 Kilometer. Der niedrige Landstreifen zwischen den beiden Flußarmen wird von einem verwickelten Netz ungezählter Seitenarme durchkreuzt. Bei Hochwasser liegt fast der ganze Streifen bis zu einer Breite von 30 Kilometern und mehr unter Wasser. Die Breite des Hauptarmes schwankt zwischen 480 und 3500 Meter. Der Fluß ist hier stellenweise mehr als 25 Meter tief.
Auf der ganzen Strecke von Astrachan bis Sarepta ist das Westufer zwar höher als das Ostufer, aber auch im Westen ist das Land flach. Es besteht aus nachtertiären Ablagerungen. Erst weiter im Norden kommen Höhenzüge mit festeren Gesteinschichten aus der Kreide- und Tertiärzeit. Je weiter wir nach Norden kamen, desto auffälliger wurde der Höhenunterschied zwischen West- und Ostufer. Nördlich von Stalingrad ist das Westufer 30 bis 40 Meter hoch. Nördlich von Kamyschin erreicht es die Höhe von 50 bis 150 Metern. Dort besteht das Uferland aus Sandstein, Kalkstein und Kieselgur (aus der Kreide- und Tertiärzeit). Das Ostufer besteht aus ganz flachem, niedrigem Wiesenland. Die Wiesen sind nach Norden zu bis an die Kamamündung und noch weiter von vielen Seitenarmen durchzogen, ausgenommen ein kurzes Stück bei Samara, wo sich der Fluß zwischen den Schigulibergen hindurchzwängt. Die höchste Erhebung ist hier 353 Meter. Diese Gestaltung der Ufer bringt es mit sich, daß die meisten Städte und größeren Dörfer am Unterlauf der Wolga auf dem Westufer liegen. Das Westufer ist dicht bevölkert, das flache Ostufer mit seinen unfruchtbaren Salzsteppen ist nur dünn besiedelt.
Ich halte es für ganz sicher, daß diese eigentümliche Bodengestaltung durch die Erdumdrehung verursacht ist, die auf der nördlichen Halbkugel das eben dahinströmende Wasser aus seiner Stromrichtung nach rechts ablenkt. Infolge dieser Ablenkung wird die Strömung eines breiten Flusses auf der rechten Seite stärker, das Wasser hat also hier die größte WühlkraftVgl. Fridtjof Nansen, »Durch Sibirien«, 1914, S. 128 f.. Die Kraft, mit der das Wasser Grus und Geröll abschwemmt, steigt in der 7. Potenz mit der Stromgeschwindigkeit. Wird also die Stromgeschwindigkeit verdoppelt, so kann das Wasser 64mal so große Gruskörner und Steine abschwemmen. Das Flußbett muß also am rechten Ufer am tiefsten werden, und der Fluß nagt dort stärker als am linken Ufer. Das Flußbett neigt also dazu, immer weiter nach rechts zu rücken. Auf flachem Land, besonders auf losem Untergrund, in den die Strömung sich leicht einwühlen kann, wird eine solche Verlagerung des Strombettes verhältnismäßig schnell fortschreiten. Der Fluß hinterläßt dann links flache Tieflandstriche, während das rechte Ufer immer höher und steiler wird, je mehr der Fluß sich in höheres Land eingräbt. Dieses Weiterrücken des Flußbettes über ebenes Land mit lockerem Boden setzt sich so lange fort, bis Höhenrücken mit festeren Gesteinschichten dieser Bewegung ein Ziel setzen. Hier schreitet dann die Auswaschung des Gesteins nur noch sehr langsam vorwärts.
Schon im Jahre 1859 hat der Franzose Babinet und nach ihm 1860 der russische Forscher Baer die Wahrscheinlichkeit einer Ablenkung der Flüsse durch die Erdumdrehung behauptet. Viele Geographen und Geologen wandten dagegen ein, diese Ablenkung könne, verglichen mit der Wirkung anderer Kräfte, nicht so groß sein, daß sie an den Flußläufen sichtbar in Erscheinung trete. Ich kann darauf nur antworten, daß es mir unverständlich ist, wie jemand angesichts des Unterlaufes der Wolga an der Bedeutung des Einflusses der Erdumdrehung zweifeln kann. Die gleichen augenfälligen Erscheinungen, vor allem den Höhenunterschied zwischen den beiden Ufern, finden wir auch an vielen andern russischen und an den großen sibirischen Flüssen, aber nirgends so deutlich wie an der Wolga.
Ein großer Teil des Tieflandes, das die Wolga bei der Verschiebung ihres Bettes nach Westen östlich liegenließ, die große Salzsteppe, war vor mehreren tausend Jahren vom Kaspischen Meer bedeckt. Damals war ja der Wasserstand des Kaspischen Meeres lange Zeit hindurch viel höher, die Oberfläche dieses Binnenmeeres war um ein Vielfaches größer als heute. In früheren geologischen Zeitabschnitten war die Niederschlagsmenge im Verhältnis zur Wasserverdampfung wesentlich größer. Damals führte wohl auch die Wolga größere Wassermassen. Das Wasser, das sich in unserer Zeit auf diesen Ebenen niederschlägt, findet keinen Ablauf, sondern verdampft an Ort und Stelle. So wird die Erdoberfläche salzhaltig und unfruchtbar. Oft ist sie weithin mit einer Salzkruste überzogen.
Die scharfe, rechtwinklige Biegung der Wolga bei Stalingrad und Sarepta, wo der Fluß den Jergenihöhen (Wolgahöhen) auf dem Westufer ausweichen muß und über das flache Steppenland nach Südosten weiterfließt, ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, daß während eines langen Zeitabschnittes die Küste des Kaspischen Meeres hier verlief. Die Wolga fließt erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in ihrem jetzigen Bett über die Tiefebene bis zum Delta an die heutige KüsteHierbei können auch Hebungen und Senkungen der Erdkruste in und nach den Eiszeiten von Bedeutung gewesen sein..
Doch war der Zeitraum lang genug, daß sich auch hier am Unterlauf ein gewisser Höhenunterschied der beiden Ufer herausbilden konnte. Das Flußbett mag sich in der Zwischenzeit ungefähr um so viel verschoben haben, als das Sumpfland mit seinen vielen Nebenarmen auf dem linken Ufer des Hauptbettes breit ist.
In der Gegend nördlich von Stalingrad (Zarizyn) ist der Boden sehr fruchtbar. Die sogenannte schwarze Erde dehnt sich von hier aus weit nach Westen. Der Boden ist so reich, daß er bei gleichmäßigem und ausreichendem Niederschlag ungewöhnlich gute Ernten abwerfen könnte. Leider ist die Niederschlagsmenge oft ungenügend. Auch zur Zeit unserer Reise lag die Ebene im Westen teilweise braun und dürr da. Diese weiten Landstriche, Rußlands reichste Kornkammer, können in regenarmen Jahren zu Schauplätzen bitterer Not werden. So hatte die Trockenheit in den Jahren 1921/22 eine große Hungersnot im Gefolge. Am schlimmsten war es von hier bis Samara und Simbirsk im Norden. Statt Rußland mit Korn zu versorgen, mußte diese Gegend damals große Getreidemengen einführen. Amerika hat unter der Leitung Hoovers helfend eingegriffen. Es gelang, zum Schluß täglich 10 Millionen Menschen zu speisen. Auch wir Europäer haben unser Bestes getan, um Hilfe zu bringen.
Die Sonne brennt vom Himmel herab, die Dörfer liegen freundlich in ihrer sommerlichen Umgebung, weiß leuchten die Kirchen weit über die Ebene hin. Die Telegas der Bauern rollen schaukelnd den Weg entlang – ein Bild des Friedens, liegt die Landschaft vor uns. Und doch hängt die Erinnerung des Grauens jener Zeit noch gleich schwarzen Wolkenschatten über dem Land. Der Tod hat in diesen Dörfern gehaust. Von Haus zu Haus wütete der Hunger. Dürres Gras und Laub, gemahlene Knochen und Pferdehufe aßen die Menschen statt Brot. Es fehlte an Hausbrand, die klapperdürren Skelette froren am Boden fest, ehe noch das Leben ganz entwichen war. Es gab Häuser, in denen die Überlebenden der Familie auf dem kalten Ofen lagen, sie waren so schwach, daß sie sich nicht mehr aufrichten konnten, zwischen ihnen lag ein neugeborenes Kind, auf dem Boden der Hütte wühlte eine Frau in wilden Fieberphantasien, im letzten Stadium des Hungertyphus, den Lehm auf. Sie war aus den Nachbarhäusern verjagt worden und hatte hier ihre letzte Freistätte gefunden, hier, wo den Bewohnern die Kraft fehlte, sie hinauszujagen. In einem Kinderheim starben in einer Nacht 42 Kinder, sie lagen noch an der Seite der Lebenden in den Betten. Die Überlebenden starrten mit großen Kinderaugen auf die vom Tod Gezeichneten und warteten selbst auf die Erlösung von ihren Leiden. Die Menschen gruben auf den Friedhöfen die Leichen aus und verzehrten sie. Eltern schlachteten im Hungerwahn ihre eigenen Kinder, um sich satt zu essen.
30 Millionen Menschen hungerten. Seuchen wüteten, am schlimmsten wohl der Flecktyphus. Die Hilfe kam spät und auch dann noch in ungenügendem Maße. Über drei Millionen Menschen mußten ihr Leben lassen. Tausende und aber Tausende abgezehrter Menschen flohen in Scharen planlos über diese Ebene. Sie wußten nicht wohin, nur eines war ihnen klar: fort von hier. So liefen sie durch den Winterfrost, während ihre letzten Kamele und Pferde auf den winterlichen Straßen verendeten.
Der Flußverkehr war durch das Eis lahmgelegt. Die Eisenbahnen waren nicht in Ordnung, die wenigen Züge, die befördert werden konnten, waren von Flüchtlingen überfüllt und blieben unterwegs stecken. In den Abteilen der Eisenbahnwagen starben die Menschen. Ein Grauen ohne Ende.
Und einst? Was wissen diese Steppen von Not und Grausamkeit, vom Wandel und der Härte des Schicksals zu erzählen. Völkerscharen über Völkerscharen wälzten sich verheerend über das Land, Tod und Elend zeichneten ihren Weg. Auf die Hunnen folgten die Araber, nach ihnen kamen die Petschenegen, Mongolen, Türken, Tataren. Dann brach der Bürgerkrieg aus und zuletzt die große Hungersnot. Aber die Menschen hier sind zäh und ausdauernd. Noch immer schlummern unverbrauchte Kräfte in diesem Schlag. Aus der wunderbaren Volksmusik klingt der Widerhall vergangener Zeiten mit ihren Leiden und die Schwermut der weiten Steppen, tönt aber auch die Hoffnung auf bessere Zukunft.
Unsere Reise ging zu Ende. Am 16. Juli erreichten wir Ssaratow. Wir setzten unsere Fahrt über Moskau nach Norwegen mit der Eisenbahn fort. Hier hieß es von der Wolga und dem bunten Leben auf ihrem breiten Silberbande Abschied nehmen. Im sommerlichen Glanz strömt sie durch die weite Ebene, der Winter deckt sie mit Eis. Wolga, du mächtiger Strom, in langen Wogen ziehst du durchs russische Land, ein Sinnbild der russischen Schwermut.
Druck von F. A. Brockhaus, Leipzig.
Ende