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Als sich der russische Zar im Jahre 1801 die georgische Krone aufs Haupt setzte, war die nächste Aufgabe die Unterwerfung der mohammedanischen Bergvölker, die zwischen Rußland und Georgien im Kaukasus hausten. Nur so konnte die russische Herrschaft gegen Süden befestigt werden, der Zar konnte seine harte Hand gegen die Türken im Südwesten, gegen die Perser im Südosten, vielleicht noch weiter bis nach Indien ausstrecken. Die kaukasischen Bergvölker waren zahlenmäßig nicht stark und mußten durch die gewaltigen Armeen Rußlands leicht zu überwinden sein. Zwar hatten sie Rußland nichts zuleide getan, noch hatte Rußland seinerseits irgendeinen Anspruch auf ihr Land, aber was bedeutete das gegenüber dem allerhöchsten Wunsch des Zaren? Ihre Heimat mußte zu einem Bestandteil des russischen Reiches gemacht werden, politische Unabhängigkeit und Selbstverwaltung freier Stämme im Gebirge oder in den Ebenen nördlich davon war »mit der Würde und Hoheit des Zaren unvereinbar«. Niemand dachte daran, welche Ströme von Blut die Eroberung kosten, welche Greuel der Vernichtung, wieviel Not, Jammer und Elend sie unter den Bergbewohnern anrichten würde. Mochten die Stämme das unter sich ausmachen, ehe sie sich dem kaiserlichen Befehl widersetzten. Außerdem, so hieß es, sind das ja Räuberbanden, sie stehlen Vieh und plündern die Reisenden auf der Landstraße aus. Wenn das so war – was waren dann der Zar und seine Berater, die ohne jedes Recht in die Täler eindrangen, die Menschen niedermetzelten, die Dörfer plünderten und das ganze Land raubten?
Am Anfang schien für die Russen alles gut zu gehen. Die dem Namen nach christlichen Osseten und die christlichen georgischen Bergstämme, die Chewsuren, Pschawer, Tuscher und Swaner, verhielten sich neutral oder stellten sich sogar auf die Seite der Russen. Das war außerordentlich wichtig, denn diese Stämme beherrschten die kaukasische Heerstraße nach Georgien. Sie verübten zwar von Zeit zu Zeit böse Räubereien oder muckten gegen die Fremdherrschaft auf, aber der Aufruhr nahm niemals bedenklichen Umfang an. Die Kabardiner, die nördlich vom Gebirge und in der Ebene zwischen beiden Seiten des Terek, nordwestlich und westlich von Wladikawkas wohnten, waren wohl Mohammedaner, aber ihr Land Kabardien wurde von den Russen alsbald erobert, durch zahlreiche Kosaken-Stanitsen besetzt und durch Forts gesichert, so daß den Einwohnern nichts übrigblieb, als sich still zu verhalten. Die Tscherkessen an den westlichen Hängen des Gebirges und die Abchasier am Schwarzen Meere waren dagegen ebenso erbitterte Widersacher der Russen wie die vielen mohammedanischen Stämme im östlichen Kaukasus. Aber sowohl die Tschetschenzen als die Lesghier in Dagestan waren in viele Stämme und Mundarten zersplittert, der Volkszusammenhalt zwischen ihnen war so gering, daß sie sich sogar teilweise gegenseitig befehdeten. Die kleinen tschetschenzischen Stämme hatten eine genossenschaftliche Verfassung ohne dauernde politische Führung und waren daher schlecht zur Verteidigung organisiert. Die meisten Stämme in Dagestan hatten Chane, deren jeder ein bestimmtes Gebiet beherrschte, sie konnten also größere, geschlossene Streitmächte ins Feld führen.
Der Mangel an innerem Zusammenhalt zwischen den Stämmen ermöglichte es den Russen, sie einzeln anzugreifen. Zeitweise schlossen die Russen sogar mit einzelnen Stämmen und ihren Chanen Bündnisse und spielten einen Stamm gegen den andern aus. So machten die Russen in den ersten Jahrzehnten recht gute Fortschritte und konnten sich mehrerer wichtiger Punkte im Lande versichern. Die Fortschritte waren besonders groß, seit im Jahre 1816 der General Jermolow das Oberkommando in Georgien und im Kaukasus angetreten hatte. Er ging planmäßig zu Werke, griff ein Chanat nach dem andern an und berichtete im Jahre 1820 nach Unterwerfung der wichtigsten Teile von Dagestan an den Zaren: »Die im vergangenen Jahr begonnene Unterwerfung Dagestans ist abgeschlossen. Das stolze kriegerische und bis dahin unbesiegte Land liegt zu den geheiligten Füßen Eurer Kaiserlichen Majestät.«
In der Tat war nur im Westen von Dagestan ein schmaler Streifen Land noch nicht von den Russen besetzt. Und doch erwies sich Jermólows Bericht als sehr verfrüht. 39 Jahre lang tobte der erbitterte Kampf noch weiter, und Ströme von Blut mußten noch fließen, ehe Dagestan endlich überwunden war. Jermólow schürte durch die grausame Art, in der er die Eingebornen behandelte, durch Plünderung und Einäscherung der Aule, durch Metzeleien unter den Einwohnern, den fanatischen Haß gegen die Russen und einen Freiheitsdrang, der nachmals der russenfeindlichen religiösen Bewegung reiche Nahrung gab und die bedrückten Stämme zum Widerstand gegen die fremden Herren einte.
Die Macht des Islam war durch die Spaltung in zwei Sekten, die türkische Gruppe der Sunniten und die persische Gruppe der Schiiten, geschwächt worden. Die neue Lehre, die sich damals in den Bergtälern ausbreitete, hatte unter anderm die Wiedervereinigung der beiden Sekten und die Stärkung des Islam zum heiligen Vernichtungskrieg gegen die Ungläubigen zum Ziel.
Im Aul Jarach in Süddagestan lebte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der hochangesehene Greis und liebenswerte Kadi Mullah-Muhámmed. Er war gütig, friedliebend, wohltätig und weise. In langen Nächten hatte er den Koran und die heiligen Bücher studiert und legte ihren Inhalt dem Volke aus. Alle liebten und bewunderten ihn, die Menschen strömten in Scharen herbei, um seinem Wort zu lauschen. Eines Tages aber öffnete Allah dem Greis durch einen Engel die Augen. Entsetzt erkannte Mullah-Muhámmed, welche Sünde es war, sich den Ungläubigen zu unterwerfen, statt sie vom Erdboden zu vertilgen. Tage und Nächte hindurch saß er grübelnd. Im Jahre 1824 trat er vor eine große Versammlung seiner Volksgenossen und sprach zu ihnen von dem höchsten Gut, dem Glauben der Väter. Seine Rede zündete wie lohendes Feuer.
Mullah-Muhámmed zeigte seinen Zuhörern, wie nach dem Wort des Propheten kein Muselmann eines Ungläubigen Untertan sein darf. Wie alle Buße, Waschungen und Opfer nutzlos sind, solange das Auge eines Moskowiten zusieht. »Wahrlich, solange Moskowiten unter euch wohnen, gereicht euch der Koran zur Verdammung und nicht zum Segen!« So predigte er den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Wer im Jenseits des ewigen Glücks teilhaftig werden will, muß nach den Worten des Propheten Leben und Habe für Allah opfern, muß Weiber und Kinder verlassen und sich in den Kampf stürzen. Nur so kann er über die Brücke El-Sirat ins Paradies eingehen. Unsere Stunden im Diesseits sind gezählt wie die Stunden des Tages, dort oben aber wartet das ewige Leben, dort ist unsere wahre Heimat. »Schwarzäugige Huris, deren Augen wie Sterne funkeln, mit Armen, schlank wie Schwanenhälse, werden uns dort zulächeln, aber nicht alle werden die Schönen umarmen. Aus milchweißem Marmor sprudeln Quellen diamantklaren Wassers, aber nicht alle Sterblichen dürfen sich daran erquicken. Schlanke Zypressen und üppig belaubte Platanen fächeln uns Kühlung zu, aber nicht jeder Sterbliche darf in ihrem Schatten ruhen. Nur wer in den Kampf zieht, um die Lehre des Propheten auszubreiten und die Macht der Ungläubigen zu brechen, kann die Seligkeit der Auserwählten erlangen. Seid gerüstet, haltet euch bereit, bis die Stunde schlägt, die euch zum Kampfe ruft.«
Die Rede des weisen Alten, die glühenden Haß gegen die Ungläubigen, unversöhnliche Feindschaft gegen die Russen predigte, machte tiefen Eindruck. Die neue Lehre verbreitete sich rasch in Dagestan, wo der Haß gegen die grausamen Unterdrücker schon längst in den Herzen der Bewohner glomm. Auch nach Tschetschenien sprang die Bewegung über. Dort hatten die Grausamkeiten und Zerstörungen der Russen im Jahre 1824 und 1825 ernsten Aufruhr verursacht. Die von Mullah-Muhámmed eingeweihten und gesegneten Apostel wurden Muriden genannt, das heißt: Schüler. Muride ist ein arabisches Wort und bedeutet »einen, der wünscht« (ergänze: einen Weg zu finden).
Die Muriden verkündeten die Lehre ihres Meisters mit flammender Begeisterung. Durch das ganze Land erscholl der Kampfruf: »Krieg den Ungläubigen, Vernichtung den Russen!« Die Lehre der Muriden fand beim Volk auch deshalb solchen Anklang, weil sie vollkommene Gleichheit aller Menschen predigte. Nach dem Koran konnte niemand eines andern Untertan sein. Der Muridismus verkündigte auch die Vereinigung zwischen Sunniten und Schiiten, denn sie alle seien die Kinder Allahs. Überall begann es zu gären, die Bewegung wurde eine ernste Gefahr für die Russen. Alle Anstrengungen, die Erregung zu dämpfen, konnten nur Öl aufs Feuer sein. Durchs Volk ging ein Murren: »Schmach und Schande über euch, solange eure Tempel durch die Anwesenheit der rothaarigen Moskowiten entweiht sind. Besser wäre es, ihr machtet eure Heiligtümer dem Erdboden gleich und begrübet die Gotteslästerer unter den Ruinen. Jeder Stein, der eines Ungläubigen Haupt zermalmt, wird ein Denkmal zu Allahs Ehre.« Mullah-Muhámmed sprach zu den Häuptlingen: »Tod oder Sieg, im Jenseits winkt euch das Paradies, im Diesseits die Freiheit. Was zögert ihr noch? Kämpfe, und du wirst frei sein. Stirb, und du wirst selig sein. Haß und Vernichtung! Die Leichen der erschlagenen Feinde türmen sich euch zur Himmelsleiter, auf deren Sprossen ihr ins Paradies steigt. Denn also spricht der Prophet: ›Wer einen Ungläubigen tötet, des Name soll gepriesen sein. Wer im Kampf für den Glauben stirbt, der soll große Herrlichkeit erlangen.‹«
Noch fehlte es an dem Manne, der berufen war, das Volk vereint zum Kampf zu führen. Da legte Mullah-Muhámmed seine Hände auf das Haupt des jungen Kasi-Mullah aus Gimri in Awarien und weihte ihn für die Aufgabe: das Volk zu sammeln und in Allahs Namen den heiligen Krieg zu beginnen. »Das Paradies erwartet jeden, der im Kampfe fällt oder einen Russen tötet. Aber wehe dem, der den GjavurenGjavur = ein Ungläubiger oder Fremder. Byron schrieb das Wort »Giaur«. seinen Rücken zeigt.«
Im Jahre 1826 begann der feurige Kasi-Mullah mit Hilfe des jungen Mullah-Schamyl, der gleich ihm aus Gimri stammte, seine Aufgabe zu erfüllen. Er zog von Ort zu Ort, befestigte die Lehre der Muriden unter den Lesghiern und Tschetschenzen und sammelte das Volk zum Kampf. Die Russen waren damals im Krieg gegen die Perser und Türken festgelegt, und so konnte er ziemlich ungehindert wirken. Bald wurde er zum Imam, zum Volksführer in allen geistigen und weltlichen Dingen, erwählt. Nur der Chan von Awarien, der seinen Sitz in Chunsach hatte, schloß sich ihm nicht an. Die streitbaren Einwohner von Chunsach hatten keine Lust, sich den strengen Gesetzen der Muridenlehre zu unterwerfen. Im Februar 1830 zog Kasi-Mullah mit einem Heer von 6000 Mann von Gimri gegen Chunsach. Der Chan war minderjährig, und die Regierung wurde von seiner Mutter Pachu-Biché geführt. Die Stadt mit ihren mehr als 700 Häusern lag unzugänglich am Rand eines hohen, steil abfallenden Felsens und war durch Brustwehr und Türme wohlbefestigt. Die Mutter des Chans hoffte, die Hauptstadt halten zu können. Die Muriden gingen in zwei Abteilungen vor, deren eine Kasi-Mullah selbst führte, während die andere dem jungen Schamyl unterstand. Die beiden Abteilungen setzten zum Sturm an mit dem Kampfruf: »Allah akbar, lia-il-allahu!« (Gott ist groß, es gibt keinen Gott außer ihm!) Beim Anblick der laut brüllenden sieghaften Scharen befiel die Verteidiger, die niemals dergleichen gehört und gesehen hatten, lähmende Furcht, und sie begannen zurückzuweichen. Da trat Pachu-Bichés hohe Gestalt mit gezücktem Schwert und flammenden Augen vor sie hin. »Awaren«, rief sie, »ihr seid nicht wert, Waffen zu tragen. Wenn ihr Angst habt, so gebt eure Waffen uns Weibern und verbergt euch unter unsern Röcken.« Der Hohn saß, die Verteidigungstruppen rissen sich zusammen, während die Feinde schon über die Brustwehr kletterten. Die Muriden wurden unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Ein Teil der Awaren, der sich schon den Muriden angeschlossen hatte, zog sich wieder von der Bewegung zurück, das Muridenheer wurde in die Flucht geschlagen und hinterließ 200 Tote, viele Verwundete und 60 Gefangene. Schamyl war vorübergehend in schwerer Gefahr, von seinen empörten Begleitern getötet zu werden. Ein Derwisch rettete ihn. Das war der erste Fall einer wunderbaren Lebensrettung. Ihm folgten mehrere ähnliche Ereignisse. Diesem wunderbaren Zufall verdankte es Schamyl, daß die abergläubischen Bergbewohner überzeugt waren, er sei von Allah auserkoren, Gottes Werk auf Erden zu vollbringen. Der später als gefährlicher Widersacher der Russen so berühmt gewordene Chadschi-Murat sammelte die Fahnen und Kriegszeichen, die das Muridenheer auf dem Kampfplatz zurückgelassen hatte, und schickte sie als Beweis für die Treue der Awaren gegen Rußland nach Tiflis. Kasi-Mullah zog sich mit seinen in Verwirrung geratenen Scharen nach Gimri zurück und verkündigte dort, die traurige Niederlage sei Allahs Strafe für den Glaubenswankelmut und die Sittenlosigkeit seines Volkes. Trotz dieser Auslegung litt sein Ansehen schwer, wurde aber durch seine Erfolge im Kampf gegen die Russen bald wiederhergestellt.
Die Russen wandten nach Beendigung des Krieges gegen die Türken und Perser ihre ganze Aufmerksamkeit wieder den kaukasischen Stämmen zu und versuchten im Jahre 1830 mit ihren Truppen in Dagestan und Tschetschenien einzudringen. Da aber wurde ihnen der mutige und kühne Kasi-Mullah zum gefährlichen Widersacher. Wohl wurde er mit Hilfe der russischen Kanonen, denen er keine gleiche Waffe gegenüberzustellen hatte, gelegentlich geschlagen, wohl wich er zeitweise zurück, aber dadurch lockte er seine Feinde nur in die engen Bergtäler und dichten Wälder Tschetscheniens. Dort fiel er unerwartet über sie her und fügte ihnen Niederlage um Niederlage zu. Im Mai 1831 zerstörte er Paraul, wo sich der kumückische Schamchal gerade aufhielt, und nahm die Hauptstadt Tarku, nahe dem heutigen Machatsch-Kalá, ein. Dieser Streich gelang ihm unmittelbar vor den Mündungen der russischen Kanonen, die von der Festung Burnaja aus die Stadt beherrschten. Er belagerte auch die Festung selbst und war nahe daran, sie in die Hand zu bekommen, da mußte er sich vor den eben noch rechtzeitig eintreffenden Entsatztruppen zurückziehen. Bald darauf, im Juni, rückte er erneut zum Angriff vor und belagerte die starke Festung Wnesápnaja in der nördlichen Ebene. Bei Annäherung eines russischen Heeres zog er sich wieder in die Wälder zurück, die Russen verfolgten ihn und holten sich eine blutige Niederlage. Der russische General Emanuel selbst wurde verwundet.
Im August des gleichen Jahres belagerte Kasi-Mullah sogar die Festungsstadt Derbent am Kaspischen Meer eine volle Woche lang, bis Entsatz eintraf. Im November machte er einen plötzlichen kühnen Angriff auf Stadt und Festung Kisliar, weit im Norden am unteren Terek, nahe dem Delta. Kasi-Mullah plünderte die Stadt und kehrte mit 200 Gefangenen, meist Frauen, und reicher Beute nach Dagestan zurück.
Bald darauf begann sein Stern zu sinken. Schon am 1. Dezember 1831 griffen die Russen sein befestigtes Hauptquartier Schumkeschkent (Agatsch-Kalá) im Waldgebirge Ostdagestans an und eroberten es im Sturm. Kasi-Mullah mußte flüchten, aber auch die Russen hatten schwere Verluste erlitten. Die Kampfesweise der Bergbewohner wird durch eine kleine Begebenheit aus jener Zeit gekennzeichnet. Die Galgaier, ein kleiner Tschetschenzenstamm, machten die georgische Heerstraße unsicher und sollten durch eine Strafexpedition gezüchtigt werden. Eine russische Truppenabteilung, Infanterie, Kavallerie und Gebirgsartillerie, brach in die Gebirgstäler ein und fand nur geringen Widerstand. Eines Tages rückten die Russen auf schmalen Pfaden an steilem Felshang vor. Plötzlich sahen sie vor sich den Weg durch einen festen, aus Steinen gemauerten Turm auf unzugänglichem Felskegel versperrt. Die Feinde feuerten von dort herab mit großer Sicherheit, die kleinen Kanonen der Russen mit ihren dreipfündigen Granaten konnten nicht viel ausrichten und waren ohnmächtig gegenüber der dicken Eichenpforte, die drei Mann hoch über der Erde lag und zu der keine Treppe hinaufführte. Endlich fand man einen Fußpfad, der am Turm vorbei über den Felsen führte. Aber hier konnten Pferde und Troß nicht durchkommen. Zwei Kompanien Infanterie erzwangen sich den Weg und umringten den Turm. Die Verteidiger wurden zur Übergabe aufgefordert, lehnten aber ab. Da die Kanonen nichts ausrichten konnten, wurde eine Mine unter den Turm gelegt. Nach dreitägiger Belagerung und mühseliger Arbeit war die Mine fertig, und der Turm sollte gesprengt werden. Der menschenfreundliche russische General von Rosen schickte aber vorher noch einmal einen Unterhändler zu den Verteidigern und forderte sie zur Übergabe auf. Die Besatzung antwortete, sie sei jetzt zur Übergabe bereit, aber sie brauche eine Frist von zwei Stunden, um die hinter der starken Eichentüre aufgetürmten Steine beiseitezuschaffen. Nach Ablauf der Frist stellte sich der General mit seinem ganzen Stab und einer Kompanie Jäger unter Gewehr zum Empfang der Besatzung vor dem Turm auf. Zuerst wurde ein halbes Dutzend Gewehre heruntergereicht, und dann ließen sich zwei zerlumpte, schmutzige Burschen an einem Seil herab. Sie kreuzten die Arme über der Brust, schauten die Russen finster an und erwarteten ihr Schicksal. »Wo bleiben denn die andern?« fragte der General ungeduldig.
Antwort: »Wir sind nur zu zweit!«
Kasi-Mullah war so keck, im April 1832 sogar Wladikawkas zu bedrohen und die Festung Nasran in der Sundjaebene, nordöstlich der Stadt, zu belagern. Dadurch hoffte er die Kabardiner zum Anschluß an die Aufständischen bewegen zu können. Die Lage der Russen war einige Tage lang sehr bedenklich, doch zog sich Kasi-Mullah unverrichteterdinge wieder zurück. Im August fielen die Russen in Tschetschenien ein und machten dort gute Fortschritte. Es gelang ihnen, das größte und reichste tschetschenzische Aul Ghermentschuk einzunehmen. Die Einwohner setzten sich heldenmütig zur Wehr, obwohl die meisten von ihnen keine Schußwaffen hatten. (Vergleiche 5. Kapitel am Ende.) Kasi-Mullah zog sich nach Dagestan zurück und verschanzte sich dort gemeinsam mit seinem Getreuen Schamyl in seinem Heimatort Gimri. Viele seiner Anhänger hatten den Glauben an ihn verloren und ließen ihn im Stich.
Im Oktober 1832 rückten die Russen gegen Gimri vor. Nur mit größter Mühe kamen sie in dem zerklüfteten Gelände vorwärts. Als dem russischen Oberbefehlshaber, General Weliaminow, gesagt wurde, der Weg sei für Truppenkörper nicht gangbar, fragte er: »Kann ein Hund dort laufen?« »Ein Hund? O ja, der wird durchkommen.« – »Das genügt«, sagte der General, »wo ein Hund vorwärts kommt, muß sich ein russischer Soldat auch zu helfen wissen.« – Kasi-Mullah und Schamyl hatten ungefähr sechs Kilometer oberhalb der Ortschaft eine dreifache Mauer quer über die Schlucht errichtet und sie mit einer steinernen Brustwehr zu beiden Seiten versehen. Hier mußte der Feind vorüberkommen. Nahe der äußersten Mauer standen zwei kleine Steinhäuser. Die Russen nahmen nach heftigem Kampf diese Stellung, auf beiden Seiten verrichtete der Heldenmut Wunder. Nach dem Mißglücken des ersten Sturmangriffs auf die äußere Mauer ließ General Weliaminow eine Kesselpauke holen, setzte sich darauf und nahm in aller Ruhe die feindliche Stellung durch den Feldstecher in Augenschein. Die Verteidiger entdeckten den General sehr bald und ließen ihm die Kugeln nur so um die Ohren pfeifen. In seiner unmittelbaren Nähe fielen einige Soldaten tödlich getroffen nieder. Der Fürst von Mingrelien, Chef eines Regimentes, bat den General flehentlich, er möge doch in Deckung gehen. Weliaminow antwortete ganz ruhig: »In der Tat, Fürst, es ist hier sehr gefährlich. Sie können mir Deckung verschaffen, indem Sie sofort Ihr Regiment gegen die Befestigung dort einsetzen.« Endlich waren die Verteidiger von den Mauern und Brustwehren zu beiden Seiten vertrieben, aber in den beiden Häusern verteidigten sich noch etwa 60 Muriden, ohne auch nur an Übergabe zu denken. Die Russen beschossen die Häuser mit Kanonen und setzten zum Sturm an. Die Verteidiger gaben ihre Stellung nicht auf, sondern machten einen Gegenstoß, verließen einzeln oder zu zweien die Häuser und versuchten sich durchzuschlagen; sie fielen im Kampf, nur zwei entkamen. Auf der hoch über dem Erdboden gelegenen Tür erschien eine schlanke, hochgewachsene Gestalt. Während die russischen Soldaten ihre Gewehre anlegten, tat der Mann einen kühnen Sprung über ihre Köpfe hinweg und landete hinter ihren Reihen. Mit blitzschneller Wendung hieb er drei Russen nieder; da durchbohrte das Bajonett eines vierten seine Brust. Er aber faßte den tödlichen Stahl mit der einen Hand und zog ihn sich aus der Brust, schlug mit der andern Faust den Angreifer nieder und floh in den nahen Wald. Dabei war der Bajonettstich nicht seine einzige Verletzung, durch Steinwürfe war auch noch eine Rippe und das Schlüsselbein gebrochen. Niemand kannte den Mann. Es war Schamyl.
Unter den vielen Toten, die vor den beiden Häusern lagen, befand sich auch die merkwürdige Gestalt eines Mannes, der im Tod die Gebetshaltung angenommen hatte: die linke Hand faßte den Bart, die rechte war zum Himmel gerichtet. Die Eingebornen erkannten in dem Gefallenen ihren Imam Kasi-Mullah. Die Russen frohlockten und stellten die Leiche öffentlich zur Schau. Die Bergbewohner aber waren tief bedrückt. Die Stellung des Toten mit der nach oben weisenden Hand bestätigte, daß er ein Heiliger war, der den Tod für die große Sache des Volkes gefunden hatte.
Am andern Tage konnten die Russen in Gimri einziehen, niemand stellte sich ihnen in den Weg. Sie waren überzeugt, daß der Muridismus endgültig überwunden und die russische Herrschaft in Dagestan für alle Zeiten gesichert sei. Sie wußten ja nicht, daß Schamyl entschlüpft war und vielleicht noch lebte, rechneten auch nicht mit dem Eindruck, den Kasi-Mullahs Heldentod auf die Eingebornen machte.
Schamyl hielt sich drei Tage lang verborgen, dann gelang es ihm, sich nach Untsukul am Koisu, südlich von Gimri, zu schleppen. Dort schwebte er 25 Tage lang zwischen Leben und Tod, denn das russische Bajonett hatte den einen Lungenflügel durchbohrt. Noch mehrere Monate hindurch war sein Leben gefährdet, dann endlich erholte er sich. Das wunderbare Entkommen Schamyls aus der Schlacht bei Gimri überzeugte seine Anhänger aufs neue davon, daß er Allahs Auserkorener sei.
Während Schamyl an seiner Wunde daniederlag, weihte Mullah-Muhámmed Hamsad-Bei zum Imam und Anführer im heiligen Krieg. Hamsad-Bei war Aware, seine Heimat war Gotsatl bei Chunsach. Er hatte sich Kasi-Mullah angeschlossen und mehrfach mit ihm zusammen gekämpft. Doch fehlten ihm Kasi-Mullahs überragende Eigenschaften, und er hatte seinen Gefolgsherrn bei Gimri im Stich gelassen, um die eigne Haut in Sicherheit zu bringen. Mit Schamyls Hilfe gelang es ihm aber, die Muridenbewegung zu festigen und sich den nötigen Einfluß zu sichern. Die Mehrzahl der Awaren, ausgenommen den Chan von Chunsach, hatte sich ihm angeschlossen. Hamsad-Bei rückte daher im August 1834 mit starker Truppenmacht gegen Chunsach vor. Pachu-Biché sah ein, daß diesmal Widerstand nichts nützen konnte. Sie war bereit, sich dem Muridismus anzuschließen, wollte aber nicht in den heiligen Krieg ziehen. Sie sandte ihren jüngsten Sohn Bulatsch-Chan, einen 8jährigen Knaben, als Geisel zu Hamsad. Hamsad brachte es fertig, durch Versprechungen auch die beiden älteren Söhne Pachu-Bichés, Abu-Nuntsal und Umma (Omar) zu Verhandlungen in sein Lager zu locken. Auf Betreiben Schamyls ließ der treulose und wortbrüchige Hamsad die beiden Chane und einen Teil ihres Gefolges niedermachen. Zunächst kam die Reihe an Umma-Chan. Da stürzte der älteste Bruder Abu-Nuntsal-Chan wie ein rasender Löwe auf seine Feinde und tötete nach dem Bericht von Augenzeugen 20 Muriden, ehe er selbst, aus vielen Wunden blutend, zusammenbrach. Hamsad-Bei rückte in Chunsach ein und ließ die Mutter der Chane, Pachu-Biché, köpfen, obwohl sie Hamsad einst in seiner Jugend in ihr Haus aufgenommen und ihn wie einen Sohn behandelt hatte. Die Witwe Abu-Nuntsals wurde geschont, weil sie schwanger war. Der Sohn, den sie später gebar, wurde Chan von Awarien.
Hamsad-Bei hatte durch seine verräterische Handlungsweise sein Ansehen verloren, und die Awaren, ihren Chanen treu ergeben, fielen von ihm ab. Chadschi-Murat und sein Bruder Osman, die Pflegebrüder und innigen Freunde der getöteten Chane, fühlten sich zur Blutrache verpflichtet und töteten während eines religiösen Festes in der Moschee von Chunsach am Freitag, dem 19. September 1834, den tückischen Hamsad-Bei mitten im Kreise seiner Muriden. Osman fiel im Getümmel, aber Chadschi-Murat schlug sich durch und entkam. Das Volk erhob sich gegen die Muriden, jagte sie davon und machte Chadschi-Murat zum Herrn von Awarien.
Schamyl war während dieser Ereignisse nicht in Chunsach. Als er von den Begebenheiten erfuhr, sammelte er seine bewaffnete Macht und zog nach Gotsatl. Dort nahm er den Inhalt der Schatzkammer an sich und zwang Hamsads Oheim zur Auslieferung des jungen Bulatsch-Chan. Er ließ seinen Gefangenen erwürgen und die Leiche von einem Felsen herab in den Awarischen Koisu werfen. Der alte Mullah-Muhámmed war inzwischen gestorben, und Schamyl wurde nach Hamsad-Beis Tod in Aschitta zum Imam und Führer der Muriden gewählt. Er war unter allen hervorragenden Persönlichkeiten der Bewegung bei weitem die bedeutendste.