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Wir kehrten von unserer Wanderung durch das Museum und dem Flug durch die versunkene Welt der Abenteuer jäh ins Heute zurück. Aus der Kühle der Museumsräume traten wir in die brennende Sonnenhitze heraus und fuhren zur Baumwollfabrik. Sie ist eine der größten industriellen Unternehmungen Dagestans und scheint durch tüchtige Arbeitskräfte durchaus auf der Höhe gehalten zu sein. Die Tagesleistung beträgt 20 000 Arschin (14 224 Meter) Baumwollstoff. Die Rohbaumwolle wird zum größten Teil in Dagestan selbst erzeugt. Die Fabrik ist 1921 aus eigenen Mitteln des Landes ohne finanzielle Hilfe Moskaus errichtet worden und beschäftigte anfangs 700 Arbeiter. Im Jahre 1924 zählte die Belegschaft noch 560 Köpfe. Von den andern industriellen Betrieben ist vor allem eine Fruchtkonservenfabrik zur Verwertung der ausgezeichneten dagestanischen Obsternte zu erwähnen. Wir bekamen Kostproben ihrer Erzeugnisse. Sie sind für die Ausfuhr bestimmt und finden wegen ihrer vortrefflichen Güte gewiß ihren Markt.
Von dort fuhren wir zu dem großen Staubecken und dem neuen Kanal. Er leitet das Wasser von dem Fluß her, der in seinem Lauf von den Bergen herab etwas westlich an der Stadt vorbeifließt. Die Stadt wird aus diesem Staubecken mit Trinkwasser versorgt. Die Reinigung geschieht durch einen großen Filter. Der Kanal führt so viel Wasser, daß auch für künstliche Bewässerung noch reichliche Mengen zur Verfügung stehen.
Machatsch-Kalá liegt auf einer Ebene, die sich vom Strand aus vier bis zehn Kilometer breit bis an den Fuß der steil ansteigenden Gebirgshänge hindehnt. Gegen Norden erweitert sie sich zum flachen Deltaland des Terek, gegen Süden erstreckt sie sich in wechselnder Breite zwischen der Küste und dem Osthang des Kaukasus. Sie ist am schmalsten bei der Stadt Derbent, die Jahrhunderte hindurch als Pforte zwischen Nord und Süden galt. Südlich von Derbent bis gegen Baku mit seinen märchenhaften Ölfeldern erweitert sie sich wieder.
Als ich nach dem Frühstück auf der Treppengalerie des Präsidentenhauses stand, kam mir ein Kind entgegengetrippelt. Ich sah den Kleinen wie bezaubert an. Das war ja ein Engel aus einem Bild von Correggio. Bisher hatte ich noch nicht geahnt, daß ich mit einem so himmlischen Geschöpf unter einem Dache weilte. Der Kleine war der Sohn Korkmasows. Er hatte sein Zimmer im gleichen Stockwerk und suchte gerade nach seinem Vater. Er strahlte vor Freude, als er ihn kommen sah, und eilte in seine Arme.
Nachmittags ging ich ein wenig am Strand entlang. Es wimmelte von nackten Knaben und Männern, die dort badeten. Alle hielten sich im seichten Wasser, planschten, tauchten und paddelten ein wenig herum, aber niemand wagte ins tiefe Wasser hinauszuschwimmen. Sie alle schienen hier sorglos ihr Leben zu genießen. Nur vereinzelt sah ich Gruppen badender Mädchen und junger Frauen. Sie hielten sich von den andern abgesondert.
Ich hatte gehört, daß die Ebene im Westen von Heuschreckenschwärmen heimgesucht sei, daß die Felder dort völlig kahl gefressen würden, und wollte mir dieses Schauspiel ansehen. Quisling und ich wurden vor die Wahl gestellt, ob wir nachmittags zu den Heuschrecken fahren oder das Schwefelbad bei Talgi in der Ebene, südlich der Stadt, besuchen wollten. Wir entschieden uns für die Heuschrecken und fuhren mit dem Auto nordwestwärts an der Eisenbahn entlang. Auf der unebenen Straße wurden wir arg durchgerüttelt. Der Ackerbaukommissar, ein aufgeweckter junger Mann, der eine auffallende Ähnlichkeit mit Karl dem Zwölften hatte, begleitete uns.
Wir waren schon eine gute Strecke gefahren, hatten aber von Heuschrecken nichts gesehen. Die Felder lagen frisch und grün vor uns, nirgends waren Anzeichen der Verwüstung. Endlich nach etwa 20 Kilometer schien es, als ob gegen Westen in weiter Ferne ein Nebel über den Feldern liege. Je näher wir kamen, desto größer schien seine Ausdehnung. Er stieg höher und wurde dichter. Endlich fuhren wir in die Wolke hinein – gewaltige Schwärme von Heuschrecken, die nun gegen Abend in die Felder einfielen und nicht mehr so hoch durch die Luft flogen wie am hellen Tage. Wenn einer von uns mit dem Gewehr in die Maisfelder feuerte, stiegen die Schwärme wie dunkle, brauende Wolken auf, und wir bekamen eine anschauliche Vorstellung davon, daß Heuschreckenschwärme in dichten Massen den Himmel verhüllen und die Sonne verdunkeln können.
Weit umher über den Maisfeldern lagen die Schwärme, ein trostloser Anblick! Die Blätter der Maispflanzen waren bis auf die Stumpen abgefressen, die nackten Stengel starrten aus der Erde. Die Menschen standen der Landplage machtlos gegenüber. Sie mußten tatenlos zusehen, wie ihre ganze Ernte aufgefressen und vernichtet wurde. Angeblich soll Schwefelstreuung ein gutes Bekämpfungsmittel sein. Es wurde versucht, Flugzeuge hierfür zu verwenden, doch scheint auch damit nichts Entscheidendes erreicht zu werden.
Die Heuschreckenschwärme lassen sich vom Wind treiben. Sie kommen gewöhnlich aus unbebauten Gebieten, wo sie in Ruhe ihre Eier legen und auskriechen können. Man kann sie nur an ihren Brutstätten wirksam bekämpfen. Die Eier und Larven müssen durch Absengen des Grases und durch Bestäuben mit Petroleum vernichtet werden. Am Nordhang der nordpersischen Berge am Kaspischen Meere, südlich von Aserbeidschan, soll viel Brachland liegen, wo die Heuschrecken sich vermehren. Die Perser haben wenig Interesse an der Heuschreckenbekämpfung, weil der Wind die Schwärme selten über die hohen Bergrücken nach Süden treibt. Gewöhnlich werden sie nach Norden über Aserbeidschan und Dagestan verweht. Die transkaukasische Regierung hat in den letzten Jahren auf Grund eines Übereinkommens mit Persien diese Brachlandbezirke auf persischem Boden abgebrannt und soll dadurch eine bedeutende Verminderung der Landplage erreicht haben. Die Schwärme, die wir hier sahen, hatten gewiß nicht den weiten Weg von Persien her gemacht, sondern stammten wohl aus näherer Umgebung. In ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsbereich war die Ernte völlig vernichtet. Zum Glück war dieses Gebiet nicht sehr groß. Aber wohin würde der Wind die Schwärme noch treiben?
Es handelt sich um große bräunliche Heuschrecken von fünf bis zehn Zentimeter Länge. Leider kann man sie nicht statt des Korns, das sie fressen, als Nahrung gebrauchen. Die Bevölkerung dieser Gegend verzehrt die Heuschrecken nicht. Die Araber dagegen sollen sie vielfach in geröstetem Zustand essen. Der Anblick eines beladenen Heuwagens, der uns zwischen den verwüsteten Feldern begegnete, konnte uns nicht trösten. Das Heu war wohl schon vor dem Einfallen der Schwärme gemäht.
Der Einbruch der Dunkelheit mahnte uns zur Heimkehr. Der Landstrich, auf dem sich die Heuschrecken niedergelassen hatten, war ganz scharf begrenzt. Dicht neben verwüsteten Feldern lagen ganz unberührte grüne Maisäcker. Aber gegen den dunklen Himmel konnten wir da und dort einzelne Heuschrecken im schwachen Winde davonschwirren sehen. Vielleicht waren sie die Vorboten der künftigen Bewegung des ganzen Schwarmes. Alles hängt von der Windrichtung in den nächsten Tagen ab.
Unsere liebenswürdigen Gastfreunde wollten uns gern ihr eigenartiges Land von allen Seiten zeigen, namentlich war ihnen daran gelegen, uns einen Eindruck von den Quellen des Wohlstandes und den Zukunftsmöglichkeiten zu vermitteln. Da waren die Ölvorkommen im Süden, die Fischerei, die großen Entwicklungsmöglichkeiten des Ackerbaues, die Schwefel- und Mineralvorkommen und vieles andere.
Früh am nächsten Morgen, Donnerstag, den 8. Juli, fuhren die beiden Präsidenten, Quisling und ich mit der Eisenbahn südwärts über die Ebene an der Küste entlang. Mit dem gleichen Zuge fuhr auch eine Schar junger Studenten beiderlei Geschlechts von der Universität Charkow in der Ukraine. Sie waren auf einer kaukasischen Studienreise. An einer Station, wo wir etwas längeren Aufenthalt hatten, kam eine feierliche Abordnung an unsern Wagen, der Sprecher hielt auf deutsch eine Rede, in der er den Dank der Studentenschaft für meine Bemühungen um Linderung der ukrainischen Hungersnot im Jahre 1921/22 ausdrückte. Ich hatte damals Kapitän Quisling als meinen Vertreter zum Aufbau und zur Leitung unseres Hilfswerks nach Charkow entsandt. Später hatte auch die Internationale Studentenhilfsorganisation eine Speiseanstalt in Charkow errichtet, um den vielen notleidenden Studenten ihre bescheidenen Tagesmahlzeiten zu gewähren.
Die Studenten waren ansprechende junge Männer und Frauen. Sie strahlten von Laune, Gesundheit und Kraft. Gewiß haben sie von ihrer Reise reiche Ausbeute mit nach Hause genommen. – An einer späteren Station verließen wir den Zug, der mit seiner Fracht von keckem, jugendlichem Mut die Fahrt nach Süden fortsetzte. Aus den Fenstern der Abteile grüßten uns zum Abschied winkende Hände.
Eine große Reiterschar erwartete uns. Von nah und fern waren die Männer mit ihren kleinen, aber tüchtigen Pferden gekommen. Für uns standen mehrere Wagen und ein Auto bereit. Samursky, Korkmasow und ich fuhren in einer Kutsche über die Ebene, umschwärmt von Reitern, die vor, hinter und neben uns trabten. Es dauerte nicht lange, da konnte Samursky nicht widerstehen, ließ sich ein Pferd geben und galoppierte davon. Die kleinen Pferde sind überaus ausdauernd. Quisling fuhr im Auto. Er erzählte mir, daß mehrere Reiter auf dem ganzen Wege vor seinem Auto hergaloppierten, obwohl der Fahrer reichlich Gas gab. Wir kamen zu einigen Ölquellen, deren Ausbeutung früher von der Nobelgesellschaft betrieben worden war. Die Bohrtürme und Bohrlöcher aus jener Zeit waren noch erhalten, ein Gemisch von Öl und Wasser quoll heraus. Hier gab es offenbar ganz ansehnliche Mengen Petroleum, es stieg an mehreren Stellen aus der Erde, der Boden war ganz davon durchtränkt. Ich bin zwar nicht sachverständig, hatte aber den Eindruck, daß es noch nicht gelungen sei, die richtigen Bohrstellen zu finden, an denen das Öl reich genug strömte. Offenbar fehlte es noch an einer planmäßigen geologischen Untersuchung des ganzen Feldes. Nur auf diese Weise kann ermittelt werden, wo die Faltung der Gesteinschichten zu den reichsten Ölansammlungen geführt hat. An solchen Stellen muß die Bohrung angesetzt werden. Nach Besichtigung einiger Quellen und Bohrlöcher fuhren wir zur Küste und besuchten eine der großen Fischereistationen, die zu bestimmten Jahreszeiten ihren Hochbetrieb haben. Am wichtigsten ist die Heringsfischerei. Hier gab es große Baracken für die Fischer, Hallen mit Salzkabinen für den Hering, Verwaltungsgebäude und Boote. Der Krieg hatte alles vernichtet. Teils waren die weißrussischen Truppen Denikins, teils die Engländer im Krieg gegen die Bolschewiken, teils die Türken die Zerstörer gewesen. Jetzt waren die Schäden zum großen Teil wieder beseitigt.
Wir sahen verschiedene Sorten gesalzenen Hering, manche waren so groß, wie ich nie vorher einen Hering gesehen hatte. Wir nahmen auch Kostproben. Der Hering war reichlich gesalzen, aber sehr fett und schmackhaft. Es war wohl der große kaspische Hering oder Schwarzrücken (Caspialosa kessleri), der an tiefen Stellen in der Mitte des Kaspischen Meeres steht und im Vorfrühjahr zum Laichen in die Flüsse hinauf zieht, namentlich in die Wolga. Er wird bis zu einem halben Meter lang und wiegt dann wohl eineinhalb Kilogramm. Einige kleinere Heringsarten kommen in größeren Zügen vor. Hier im Kaspischen Meer und in der Wolga werden alljährlich große Mengen Hering gefischt und in ganz Rußland abgesetzt. Der kaspische Hering kann zwar an Güte nicht mit unserm norwegischen Fetthering in Wettbewerb treten, bildet aber doch eine vortreffliche Volksnahrung. Ein großes Fischerboot mit langem Steuerruder lag im Wasser, andere ähnlich gebaute Fahrzeuge waren aufs Ufer gezogen, kräftige, brauchbare Fahrzeuge.
Wir durften nicht zuviel Zeit verlieren, unser Weg führte weiter über die Ebene zu einigen großen Gütern, die jetzt für Rechnung der Regierung betrieben werden. Die Sonne brannte unbarmherzig, die Hitze war drückend, und auf der unebenen Straße wurden wir bis zur Erschöpfung durchgerüttelt. Die Ebene schien hier besonders fruchtbaren Ackerboden zu haben, und doch war sie aus Mangel an Wasser eine Halbwüste. Dazwischen gab es auch moorige Strecken, die der Entwässerung bedurft hätten, in ihrem jetzigen Zustand aber ganz gewiß Brutstätten der Malaria waren. Dann kamen Strecken völlig verwucherter Wildnis. Der Weg waren stellenweise schlecht befahrbar. Wir kamen mit der Kutsche noch leidlich vorwärts, aber das Automobil blieb mehrmals im Moorboden stecken und mußte mühselig wieder herausgezogen werden. Endlich blieb es ganz stecken. Die Insassen mußten mit dem Wagen weiterfahren, das Auto wurde abgeschleppt. – Die Büffel lagen in den Wasserpfützen, wo sie am tiefsten waren.
Endlich kamen wir bei den großen Landgütern an. Sie hatten ausgedehnte Weingärten, Maisäcker und Baumwollfelder. Die Ackerkrume sah ergiebig aus, und stellenweise war das wilde Wachstum so üppig, daß es die Anpflanzungen zu überwuchern drohte. Auf dem ehemaligen Gut Woronzow-Daschkow waren die wertvollsten Weingärten. Die Gutsgebäude selbst hatten unter der Revolution schwer gelitten. Das Schloß war ganz zerstört, und auch die andern Gebäude lagen zum Teil in Trümmern. Die Bauern vertrieben oder töteten ja gewöhnlich die Gutseigentümer und zerstörten die Schlösser. Wir besuchten die ausgedehnten Kellereien, in denen der berühmte Schloßwein dieses Gutes früher aufbewahrt wurde. Auch die Keller waren zum Teil zerstört, wurden aber jetzt frisch instand gesetzt, und bald sollte hier wieder köstlicher Wein lagern.
Das Gut schien sehr wertvoll zu sein und vortrefflichen Boden zu haben. Es mußte bei planmäßiger Bewirtschaftung reichen Gewinn abwerfen, doch befand es sich noch im Zustand des Verfalls. Der Betrieb litt offenbar unter dem Mangel an Kapital und konnte aus diesem Grunde nicht auf volle Höhe gebracht werden. Die Regierung ist deshalb geneigt, das Landgut im Wege der Konzession zur privaten Bewirtschaftung freizugeben. Wenn es gelingt, das Sumpfgebiet im Umkreis zu entwässern, das dürre Land zu berieseln und den Ausgleich straff zu kontrollieren, so würde schon viel erreicht sein. Zur Zeit herrschte hier die Malaria, sie soll mehr als die Hälfte der Einwohner im Umkreis befallen und ihre Arbeitskraft und Unternehmungslust gelähmt haben. Durch Entwässerung wäre hier Abhilfe zu schaffen. Gleichzeitig müßte man natürlich auch mit ärztlichen Mitteln gegen die Krankheit vorgehen. Nur so können die Volksgesundheit und die Arbeitsfähigkeit gehoben werden.
Hier und auch sonst an vielen Stellen in der Ebene sahen wir offene Schlafplätze auf hohen Pfahlrosten, mit flachen oder gegiebelten Stroh- und Schilfdächern. In diesen offenen Hütten halten die Menschen ihren Nachtschlaf, sie sind dort gegen die Mücken geschützt und haben es auch kühler und luftiger als in den Häusern, in denen nachts noch die Sonnenhitze des Tages brütet. Unter ähnlichen Dächern waren auch an einigen Stellen Wiegen aufgehängt, darin lagen die Kinder gesund und luftig und waren vor Kriechtieren und Mücken sicher.
Wir erfrischten uns an einem Mittagsmahl unter großen, schattigen Bäumen auf dem Hof und fuhren dann weiter. Während der Fahrt durch die breite, jetzt vom Gras überwucherte Auffahrtsallee des Gutes erzählte mir Korkmasow von dem Glanz und der Gastlichkeit, die in früherer Zeit von den fürstlichen Eigentümern dieses Gutes entfaltet wurden. Jeder Fremde, wer auch immer es sein mochte, wurde gastlich aufgenommen. Er konnte hier tagelang wohnen, Pferde, Waffen und Hunde standen ihm zur Verfügung, und er war zur Jagd eingeladen. Hier in der Ebene und oben in den Bergen war die Jagd ausgezeichnet. Da gab es Wildschweine, Fasanen, Wachteln, Hirsche und anderes Wild – ein wahres Jägerparadies.
Die holprige Straße führte über die wellige Ebene zur Küste hin, unser Wagen kam schnell vom Flecke, rüttelte uns aber auch tüchtig durch. Wir wollten noch die neue Glasfabrik besichtigen, die nahe an der Eisenbahn an einer Stelle errichtet ist, wo Gas aus der Erde strömt. Die Fabrik hat ausgedehnte Anlagen, ihre Erzeugung soll nicht nur den Bedarf des Landes, sondern auch größerer Teile Rußlands decken.
Einer der größten Ausgabeposten bei der Herstellung von Glaswaren ist der Heizstoff für die Schmelzöfen. Den hat man hier umsonst, denn das Gas kommt in fertig brennbarem Zustand mit etwa 95 vom Hundert Metangehalt aus der Erde. Seit urdenklichen Zeit strömt es aus. In nächster Nähe der Erdöffnung liegt ein Hügel. Man vermutet, daß hier in der Vorzeit der Altar und das Heiligtum der Feueranbeter standen. Das ewige göttliche Feuer soll durch das Erdgas unterhalten worden sein. Nicht nur das Heizgas für die Schmelzöfen, sondern auch der Rohstoff zur Glasherstellung findet sich in nächster Nähe in reicher Menge, nämlich reiner Kieselsand und Muschelkalksand. Wir konnten von unserm Standort aus die Sandgruben sehen. – Der Betrieb wurde von Deutschböhmen geführt und offenbar sehr tüchtig versorgt. Bisher wurde nur einfaches Flaschenglas hergestellt, doch bestand die Absicht, bald auch zur Erzeugung von Fensterglas und feineren Glaswaren überzugehen. Das Werk hat sicher eine aussichtsreiche Zukunft.
Wir hatten ursprünglich die Absicht, von hier aus nach Süden, zu der alten historischen Stadt Derbent, zu fahren. Derbent war lange Zeit hindurch die Grenzstadt zwischen Persien und den kriegerischen Nomadenvölkern, den Skythen, Massageten und Sakern, später die Grenzstadt zwischen Persien und dem Chasarenreich im Norden. Es gab nur wenige Wege von Norden nach Süden, die engen, schwer gangbaren Kaukasuspässe, von denen der wichtigste der Darjalpaß war, und außerdem den Durchgang am Ufer des Kaspischen Meeres. Der ebene Küstenstreifen ist bei Derbent am schmalsten, hier rücken die steilen Hänge des Kaukasus besonders nahe an die See heran. So bekam diese Stelle ihren alten Namen »Kaspische Pforte«. Die Völkerwanderungen vom Norden her pflegten diesen Weg zu nehmen. Hier waren die Skythen im 7. Jahrhundert v. Chr. eingedrungen und hatten die Meder verdrängt. (Herodot I, 103-106, IV, 1.)
Bei Derbent war eine 60 bis 70 Kilometer lange Mauer von der Küste quer über die Ebene bis an den Fuß des Gebirges (600 Meter überm Kaspischen Meer) errichtet worden. Gleich allen Wunderwerken des Orients wurde auch der Bau dieser Mauer Iskander Bey (Alexander dem Großen) zugeschrieben. Der Araber Jakut el Hamavi (um 1230 n. Chr.) erzählt, daß der Sassanidenkönig Kobad bei der Stadt Derbent (auf arabisch: Bab-el-Abvab, das heißt: Pforte der Pforten) zum Schutz gegen die Chasaren eine Ziegelmauer erbaut habe, sein Sohn Anuschirwan (531 bis 579 n. Chr.) habe dann später eine Steinmauer errichtet. Sie steht zum Teil noch heute. Derbent ist der persische Name der Stadt und bedeutet »Türschloß«. Der tatarische Name Temir-kapu heißt »Eiserne Pforte«.
Um Stadt und Mauer wurde im Laufe der Zeit viel und blutig gekämpft. Manche Sage knüpft sich an diesen Ort. Für die Russen bedeutete der sichere Besitz des Durchgangs unendlich viel, wenn sie ihre Macht gegen Südosten ausdehnen wollten. Schon Peter der Große besetzte die Stadt während seines persischen Feldzugs im Jahre 1722, mußte sie aber später an Persien zurückgeben. Noch dreimal eroberten die Russen Derbent; in den Jahren 1775 und 1776 und endlich zum letzten Male für immer im Jahre 1806. Während des Weltkrieges und der Bürgerkriege wurde Derbent im Kampfe mit den Türken und Engländern arg mitgenommen.
Leider befiel mich ein plötzliches Unwohlsein, wahrscheinlich infolge einer Infektion und der drückenden Hitze. Ich mußte noch am gleichen Abend mit dem Zug nach Machatsch-Kalá zurückkehren. Schweren Herzens verzichtete ich auf einen Besuch in Derbent und auf das anziehende Programm, das die beiden Präsidenten in ihrer Gastfreundschaft für mich vorgesehen hatten. Die Herren waren in rührender Weise um meine Gesundheit besorgt.
Ich mußte Bettruhe halten und eine Milchkur machen. Am nächsten Vormittag wurde mir ein unerwarteter Besuch gemeldet: der Bürgermeister eines Auls im Hochgebirge. Er hatte bei der Regierung in Tiflis und dann in Baku zu tun und hatte unterwegs von meiner Anwesenheit gehört. Ich begab mich in den Empfangsraum der Präsidenten und sagte ihm guten Tag. Er war einer der kräftigsten Menschen, die mir je begegnet sind, mehr als zwei Meter hoch, breitschultrig, von gewaltigem Brustumfang, seine Arme waren erdrückend muskulös, und seine Hände wie Schaufeln. Das war wirklich ein treuer, kräftiger Männerhandschlag, den wir zur Begrüßung austauschten. Das große, breitflächige Gesicht hatte den gutmütigen Kinderausdruck, den man oft bei sehr starken Menschen findet, Augen und Haare waren dunkel, die derben Gesichtszüge erinnerten mehr an den nordischen Typ als an die schmalen armenischen Gesichter. Ich glaubte, ein Riese oder Berserker sei aus den alten Sagenbüchern auferstanden. Der Mann war auf kaukasische Art gekleidet, trug hohe Schaftstiefel, einen Leibgurt und den langen Dolch. Man erzählte mir, er sei Lesghier. – Auf seinem eigenen Rücken soll er die Erdkrume zu dem Garten und den Ackerstücken hinaufgeschleppt haben, die er nun in seinem Adlernest hoch oben an den Felshängen bebaute. Sein Rücken sah auch aus, als könne er eine ordentliche Last schleppen. Mit Ackerboden ist es ja dort oben in den Bergen schlecht bestellt. Deshalb pflegten die Bergbewohner zu Zeiten, wenn bei ihnen Schmalhans Küchenmeister war, einen Ausflug in die Ebene zu machen und dort zu rauben, was ihnen fehlte. Die kleinen Ackerstückchen im Hochgebirge liegen gewöhnlich an den Felshängen verstreut. Oft ist die Erdschicht so dünn, daß noch Ackerkrume auf dem Rücken nach oben getragen werden muß. Die Felder sind ja auch ganz klein. Korkmasow erzählte mir, ein Bauer sei eines Tages in die Berge hinaufgegangen, um seinen Acker zu bestellen. Es war ein warmer Tag, und als er oben war, warf er die Burka (Kittel) ab. Er sah sich nach seinem Acker um und konnte ihn nicht entdecken, er war verschwunden. Betrübt wollte er wieder nach Hause gehen und nahm seine Burka vom Boden auf. Was sah er? – Er hatte den Acker mit der Burka zugedeckt.
Am nächsten Morgen, Freitag, den 10. Juli, machte ich eine Wanderung zum Strand, obwohl ich mich noch recht schwach fühlte. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ins Wasser zu gehen und an dem heißen Vormittag ein wenig zu schwimmen. Von der Wasserfläche aus gesehen, stellten sich die steil aus dem flachen Küstenland aufragenden Berge besonders eindrucksvoll dar. Nach Norden zu bestand der Strand aus Grus und Sand, gegen Süden aus niedrigen Felsblöcken. Diese flachen Felsen interessierten mich. Die oberen Kanten lagen weithin nahezu in einer Linie. Die Blöcke hoben sich aus der losen Erdschicht, die sich im wesentlichen über die ganze Ebene ausdehnt. Es hat den Anschein, als ob die Felsen von der Stranderosion zu einer Zeit abgehobelt worden wären, als das Wasser noch viel höher stand. Auf diese Weise ist eine sogenannte Strandplatte entstanden. Auch die lockere Oberflächenkrume ist zum großen Teil zu einer Zeit unter Wasser abgesetzt, als das Kaspische Meer noch höher stand und den Fuß des Gebirges benetzte. Das war in einem geologischen Zeitalter, in dem der Niederschlag im Verhältnis zur Verdampfung noch viel größer war als heute. So muß es zum Beispiel während der kälteren Epochen der Eiszeit gewesen sein. In jenen regenreichen Zeiten war die Fläche des Kaspischen Meeres um ein Mehrfaches größer als heute. Sie bedeckte große Teile der südostrussischen Steppe.
Nach dem Frühstück fuhren wir im Auto südwärts nach Tarki oder Tarku, wie der Name ursprünglich und richtig heißt. Es liegt an dem steilen Gebirgshang und war der wichtigste Platz des kumückischen Gebiets, der Sitz des kumückischen Fürsten oder Schamchals. Wir ließen die Autos unten zurück und gingen zu Fuß hinauf. Unser Weg führte an einer absonderlich aussehenden Mühle vorbei. Sie war aus Stein gebaut, hatte ein langes, flaches Dach und ein gewaltiges oberschlächtiges Rad. Das war sichtlich ein bedeutender Fortschritt gegenüber den einfachen Mühlen der Bergbewohner mit dem waagerecht liegenden Mühlrad. Bei diesen Mühlen kommt das Wasser durch eine Rinne herab, trifft die Schaufeln des Rades seitwärts und dreht das waagerecht liegende Rad. Die Achse steht senkrecht, ihr oberes Ende ist zugleich Achse des Mühlsteins. Auch dieser dreht sich also in der waagerechten Ebene. Von dem großen überschlächtigen Rad bis zur Turbine ist noch ein weiter Weg, aber in absehbarer Zeit werden sich auch hier Turbinen drehen.
Die Straße kroch in Windungen zwischen Laubbäumen und Gärten durch künstlich berieseltes Land bergan. Immer höher führte die Steigung, bis uns endlich das Gewinkel der steilen, engen Gassen aufnahm. Die viereckigen, flachgedeckten Steinhäuser waren an den schroffen Hängen übereinandergetürmt wie in allen dagestanischen Aulen. Die Häuser machten einen verhältnismäßig wohlhabenden Eindruck, die ganze Stadt hatte das Aussehen eines blühenden Auls. Da und dort lagen kleine Gärten zwischen den Häusern eingezwängt, wo eine Gesteinsmulde mit Erdreich ausgefüllt und Wasser zur Berieselung vorhanden war. An einzelnen in der Stadt verstreuten Stellen standen auch Bäume, sonst aber sind die Berge nackt und baumlos. Ein geräumiges Haus mit verhältnismäßig großem Garten war der ehemalige Sitz des Chans oder Schamchals.
Auf dem hohen Berge oberhalb der Stadt steht die im Jahre 1821 von General Weliaminow erbaute Festung Burnaja. Kasi-Mullah hat sie nach der Einnahme von Tarku im Jahre 1831 belagert und beinahe erobert. Im Jahre danach wurde seine Leiche dort begraben, nachdem sie von den Russen öffentlich zur Schau gestellt worden war. Einige Jahre später schickte Schamyl zur Nachtzeit 200 Reiter nach Tarku, ließ die Leiche ausgraben und nach Gimri bringen.
Die Frauen gingen in Tarki ohne Schleier. Wir begegneten auf den Straßen vielen Frauen und konnten ihnen ungestraft ins Gesicht sehen. Sie waren schon so »christlich« geworden, daß sie sich sogar photographieren ließen. – Die Sonne brannte unbarmherzig, und der Anstieg zur Stadt war besonders für mich Halbkranken recht ermüdend. Die Gassen krümmten sich immer noch höher empor. Auf dem armseligen Markt empfing uns eine Schar Männer, darunter die höchsten Beamten der Stadt. Sie begrüßten die beiden Präsidenten und uns Gäste. Wir hielten uns nicht lange auf, sondern setzten unseren Anstieg in der drückenden Hitze fort. An einer Stelle, wo die Straße sich zu einem kleinen Platz erweiterte, hatten wir den erquickenden Anblick eines kleinen Beckens, in das aus zwei Rohren klares Wasser sprudelte. Das Becken war von einem eigenartigen bienenkorbförmigen Steinaufbau überdeckt. Ich konnte nicht herausbringen, wozu dieser Aufbau diente. Hier trafen sich die hübschen jungen Mädchen und holten in ihren Metallkrügen Wasser, die Männer nahmen an dem Brunnen als fromme Mohammedaner die vorgeschriebenen Fußwaschungen vor.
Noch höher führte unser Weg, dann endlich waren wir dicht am Fuß der senkrechten Felswand im Rücken der Stadt. Eine herrliche klare Quelle bricht aus dem Gestein. – Wie wohl tat es, sich neben dem plätschernden kühlen Wasser unter schattigem Laubgehänge zur Rast niederzulassen, zu unsern Füßen die Stadt, den weiten Ausblick über die Ebene tief unter uns, bis ans blaue Meer. Wie wohl tat es, den Kopf unter den kühlen Wasserstrahl zu halten und den brennenden Durst zu löschen.
Die Bauern waren von rührender Gastfreundschaft. Sie schleppten aus ihren Häusern die kostbarsten dagestanischen Teppiche herbei und breiteten sie vor uns auf dem Boden aus, damit wir uns darauf lagern sollten, und holten auch noch Kissen und Polster herbei, um es uns recht behaglich zu machen. – Wir machten die betrübliche Entdeckung, daß durch ein Mißverständnis in der Ortsbezeichnung unser Frühstück nach der Stadt Talgi mit ihren Mineralquellen, statt hierher nach Tarki geschickt worden war. Als die Bauern das hörten, brachten sie Samoware, Brot und Butter, Eier und Obst, Kirschen und andere schöne Dinge herbei. So bekamen wir doch unser Frühstück und noch dazu eins, wie es besser nicht zu wünschen war.
Ich glaube nicht, daß diese überquellende Gastfreundschaft nur den beiden Präsidenten galt. Sie entspricht einer althergebrachten Sitte der Bergbewohner und galt auch uns, den fremden Gästen, übrigens vergaßen wir im Zusammensein mit unsern beiden Freunden alle Rücksicht auf die Präsidentenwürde. Auch die Staatsoberhäupter selbst trugen offensichtlich nicht schwer an ihrem hohen Rang. Sie traten den Menschen wie ihresgleichen gegenüber, und ebenso kamen die andern ihnen entgegen.
Ein Zollbeamter, wir nannten ihn den »General«, kam an unsern Lagerplatz und wollte uns in seiner Heimat willkommen heißen. Es war ihm sehr darum zu tun, sich zu vergewissern, ob auch alles mit rechten Dingen zuging und ob uns so viel Ehre erwiesen werde, wie es das Ansehen des Bezirks erheischte. Er hielt sich für den höchsten Beamten in der Gegend. An seiner Hüfte hing ein mächtiger Säbel, er trug die kaukasische Tracht, die hellgraue Lammfellmütze, die lange Jacke oder Tscherkeßka, seine Brust und die Schultern waren mit allerlei Medaillen und Blechmarken behängt, darunter auch zwei schwere Dienstmannsschilder aus Messing mit der Nummer 17. Die beiden Messingschilder seien ihm von Stambul aus verliehen worden, sagte er.
Er hatte große Ähnlichkeit mit einem Zollaufseher, der in meinen Kinderjahren in Ostnorwegen von Hof zu Hof ging. Wir nannten ihn »Kaiser Dahl«. Er war bei dem Brand der Kirche von Grue, der so viele Menschenleben gefordert hatte, verrückt geworden. Er selbst war noch durch ein Fenster entkommen, konnte aber seine Braut nicht mehr retten und mußte zusehen, wie sie drinnen verbrannte, und hörte ihr jämmerliches Schreien. In späteren Jahren lief er ebenso aufgeputzt wie dieser dagestanische Zöllner herum. Auch er trug einen Säbel und über der Brust an einem breiten Riemen die Patronentasche, auch sein Rock war mit Medaillen und Sternen, ja mit Ballorden aus Goldpapier ausstaffiert. Für uns Kinder war es immer ein großes Erlebnis, wenn er einherstolziert kam, feierlichen Schrittes die Küche betrat und dort stets auf demselben Stuhl Platz nahm. Wir versammelten uns um ihn und bestaunten seine sonderbare Ausrüstung, während er Essen und Kaffee mit braunem Kandiszucker bekam.
Ich weiß nicht, wodurch unser dagestanischer Zöllner den Verstand verlor. Es berührte mich wunderlich, daß Geisteskrankheit bei zwei so völlig verschiedenen Völkern und unter zwei so weit voneinander entfernten Himmelsstrichen sich in so ganz gleichen Formen äußern kann. Beruht es auf Ähnlichkeiten in der Veranlagung der beiden Völker oder auf einer allgemeinen Gleichartigkeit der Menschen überhaupt? Der »General« sagte, er sei zur Zeit nicht verheiratet, aber er wolle sich wieder verheiraten, nur sei es nicht leicht, eine richtige Frau zu finden, den Weibern sei nicht zu trauen.
Wenn er beobachtete, daß wir irgend etwas brauchten, so befahl er den Umstehenden, es augenblicklich herbeizuschaffen. Die lachten nur, und wenn sie merkten, daß wir wirklich etwas brauchten, so schickten sie jemand weg, es zu holen. Der »General« stellte sich dann etwas weiter bergab an der Straße auf und spähte nach dem Boten aus. Die Besorgung ging ihm niemals schnell genug. Er beklagte sich bitter, daß die Leute seine Befehle nicht pünktlich genug ausführten. Es sei doch recht schwer, unter diesen Umständen die Zügel der Regierung straff zu halten. Leider ging nicht alles, wie es sollte.
Wir hielten eine lange Rast. Nach einiger Zeit kamen zwei europäisch gekleidete Damen mit Begleitung die Straße herauf, die an unserer Quelle vorüberführte. Ich wunderte mich, hier Vergnügungsreisende zu sehen; wir waren bisher noch nie welchen begegnet. Dann stellte sich aber heraus, daß es die Frauen der beiden Präsidenten waren. Sie wurden herzlich begrüßt, Quisling und ich wurden Frau Korkmasow vorgestellt, einer außerordentlich schönen, jungen Frau, von deren Dasein wir bisher noch keine Ahnung hatten, obwohl wir doch Wand an Wand nebeneinander im gleichen Stockwerk des Präsidentenhauses wohnten. Die Damen ließen sich bei uns nieder, sie bekamen Teppiche zum Sitzen und wurden vom »General« besonders aufmerksam bedient.
In der Stadt sollte an diesem Tag eine Hochzeit mit Tanz stattfinden. Wir wollten dem Fest gern beiwohnen und verabschiedeten uns von den Damen, die lieber im Freien blieben. Der »General« fragte mit europäischer, vielleicht auch orientalischer Ritterlichkeit, ob er nicht an der Quelle bleiben und die Damen beschützen solle.
Leider kamen wir zur Trauung schon zu spät, aber der Tanz war auf dem Platze vor der Moschee noch in vollem Gang. Die Musik wurde mit Saiteninstrumenten gemacht. Beim Tanz bewegten sich immer ein Mann und eine Frau innerhalb eines Kreises teils sitzender, teils stehender Zuschauer. Dieser Tanz ist die kaukasische »Lesghinka«. Der Mann, in kaukasischer Tracht mit Lammfellmütze, drehte sich eine Weile in rhythmischen, knappen Schritten und streckte dabei die Arme nach beiden Seiten aus, dann holte er sich aus dem Zuschauerkreis eine Frau als Partnerin. Sie trippelte ernsthaft, mit halb gesenktem Kopf und in koketter Schamhaftigkeit vor ihm her, der Mann folgte ihr tänzelnd, sie aber wich ihm immer wieder aus. Der Tanz stellt die Werbung des Mannes um die Frau dar. Die Bewegungen sind sittsam und ohne alle Wildheit. Die beiden Tänzer hatten jeder auf seine Weise viel natürliche Anmut: er die männliche Kraft, sie die Schamhaftigkeit und Weichheit der Frau. Die Füße bewegten sich leicht und flink wie Trommelschlegel im Takte der Musik, die Körper blieben dabei in ruhiger Haltung. Die Ähnlichkeit mit unsern norwegischen Springtänzen ist nicht zu verkennen. Beim Mann die gleiche kraftvolle Geschmeidigkeit, die gleiche Anmut und Sanftheit beim Mädchen. Nur Rhythmus und Fußstellung sind anders. Auch faßt bei der Lesghinka der Mann seine Partnerin nicht um und wirbelt sie nicht im Kreise, wie beim Springtanz. Im Orient wäre eine so nahe Berührung zwischen Angehörigen der beiden Geschlechter in der Öffentlichkeit unmöglich.
Die Sonne ging unter, und der Abend brach herein. Hoch vom Minarett herab klang der klagende Gebetruf des Muezzin. Wir wanderten durch die engen Gassen und über die steile Straße herab zum Halteplatz unserer Autos. Dann sausten wir über die Ebene davon und hielten bald danach vor dem gastlichen Haus des Präsidenten. Nur ein flüchtiger Blick in das heimische Leben des Bergvolkes war uns vergönnt gewesen.
Vor dem Schlafengehen tranken wir, wie alle Abende, noch ein Glas Tee auf dem Balkon an der Vorderfront des Hauses. Die Nacht war still und die Luft nach dem glühend heißen Tag beinahe kühl. Im Garten jenseits der Straße spielte der Wind im Laub der breiten Baumkronen, es klang wie sehnsüchtiges Seufzen. Hoch wölbte sich darüber der tiefschwarze südliche Himmel, von ungezählten Sternen überflimmert. Landeinwärts türmte sich der märchenhafte Kaukasus hinter der Ebene auf. Dort ruhten in den Hochtälern die Aule, eingehüllt in den Mantel der Nacht, Tausende von Menschen schlummerten der harten Mühe und dem unsicheren Dasein des nächsten Tages entgegen. – Frieden und Sorglosigkeit breitete die Nacht über das Land.
Hart und mühselig ist das Dasein der Menschen in diesen nackten Hochtälern. Müssen sie doch sogar die wenige Erde, aus der sie ihre Nahrung gewinnen, Kiepe um Kiepe aus der Ebene hinaufschleppen und den mageren Acker mit einem Wall von Feldsteinen umgeben, damit der Regen ihn nicht über Nacht zu Tal schwemmt. Man möchte meinen, die Menschen hätten wahrlich genug mit der übermächtigen Natur um ihr Dasein zu kämpfen. Aber diese Art Kampf war ihnen noch nicht genug, sie mußten auch seit urdenklichen Zeiten in ständiger Feindschaft miteinander und mit auswärtigen Feinden leben. Krieg und Kampf sind ihre Lust. Wie Adler horsten sie dort oben und hacken auf jeden los, der ihrem Nest zu nahe kommt oder seinen Jagdbereich zu weit ausdehnt. So sind sie kühne und zähe Krieger geworden, oft bis zur Härte und Grausamkeit. Das Lied von Chotschbar aus GhedatlVgl. J. F. Baddeley, a. a. O., S. 483 ff. – Ghedatl war eine awarische Landschaft am Awarischen Koisu südlich vom Chanat. und vom awarischen Chan Nunzal erzählt von der kriegerischen Grausamkeit dieser Menschen. Der gefürchtete Chotschbar kam als geladener Gast nach Chunsach, der Chan empfing und begrüßte ihn, dann aber ließ er ihn durch sechs Mann überfallen und fesseln.
An der langen Felswand bei Chunsach türmten sie einen lohenden Scheiterhaufen, und der Berg selber errötete von der Glut. Chotschbar schleppten sie zum Feuer. Sein Reitpferd, den Fuchsen, holten sie herbei und schlachteten ihn mit ihren Schwertern. Seine spitze Lanze zerbrachen sie und warfen die Trümmer in den Brand. – Nicht zuckte mit dem Lid der Held.
»Wohlan, Chotschbar, sing uns ein Lied, du Meister des Gesanges! Spiel uns eine Weise auf der Zither! Du kannst es wie keiner, so sagt man.«
»Wohl kann ich singen, aber ihr habt meinen Mund geknebelt. Wohl kann ich spielen, aber meine Hand habt ihr gebunden.«
Die jungen Männer riefen: »Löst Chotschbar die Fesseln!« Die alten aber sagten: »Laßt den Wolf aus der Falle, so wütet er als ein Wolf.«
Die jungen Männer bekamen ihren Willen. Gelöst wurden die Fesseln des Helden.
»Horchet nun, Männer von Chunsach, singen will ich ein Lied für euch, und du, Chan, unterbrich mich nicht.«
Und er sang zur Zither:
»Wer außer mir erkletterte dein Fenster und holte die seidenen Hosen deiner Lieblingsfrau? Wer außer mir nahm die silbernen Spangen von den Armen deiner Schwestern, sie wehrten sich nicht? Wer außer mir durchschnitt deinem zahmen Steinbock die Kehle? Dort oben seh' ich die Hürden der Schafe. Sie sind leer. Wer trieb die Schafe fort? Dort unten seh' ich die Ställe, wo sind deine Pferde? Wer trieb sie fort? Sehet die Dächer eurer Häuser, ihr Witwen. Wer tötete eure Männer und machte euch zu Witwen? Waisen seh' ich um mich her. Wer erschlug eure Väter und machte euch vaterlos? Keiner zählt die Zahl der Männer, die von meiner Hand fielen im freien Feld, in den Wäldern. Drei Schock und nicht weniger deines Stammes hab ich gefällt. Mannes Tat ist das, o Nunzal, Tat, die meinen Namen ewig macht. Einen Mann durch Verrat fangen und ihn dann töten – was ist das für eine Tat?«
So sang und spielte Chotschbar. Indessen kamen die zwei kleinen Söhne des Chans herbei und setzten sich zu seinen Füßen. Chotschbar faßte sie mit jähem Ruck, jeden mit einer Hand, und sprang in die Flammen, der Held.
»Was schreien sie, Nunzals kleine Welpen, brenne ich nicht wie sie?«
»Was quieken sie, die kleinen Ferkel, liebte nicht auch ich das freie Licht des Tages?«
»Weh, mein stolzer Fuchs, wie oft hat er die Fersen fliehender Awaren zermalmt! Weh, meine spitze Lanze, wie oft hat sie Nunzals Söldlingen die Brust durchbohrt.«
»Weine nicht, Mutter mein, nicht vergebens stirbt dein Liebling. Meine Schwestern sollen nicht weinen, denn ich sterbe in Ehren.«
Da war Fiedelstreichen und Trommelschlag von Morgen bis Nacht. Chotschbar aus Ghedatl war gefangen. Da war Heulen und Klagen am Nachmittag. Die Prinzen der Awaren waren vom Feuer verzehrt. –
Die Berge waren gefühllose Zeugen von sagenhaftem Kampf, Mühseligkeit und Raub, Opfermut und Mordtat, Grausamkeit und Liebe, Trauer und Plage. Wir alle leben und sterben, kämpfen und leiden – einst und heute und in 100 Jahren. Die ewigen Berge sind ewig die gleichen und sehen herab auf die Menschen, ihre Pläne, ihre Träume.
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Die beiden Präsidenten kamen zu meiner Überraschung auf den Gedanken, ich könnte ihnen vielleicht mit einigen guten Ratschlägen für die Ausbeutung der wirtschaftlichen Möglichkeiten Dagestans nützlich sein. In den letzten Tagen hatte ich ja einige wirtschaftliche Unternehmungen kennengelernt. Ich wandte ein, daß mir ja die Erfahrung in Wirtschaftslagen fehlte, aber das half nichts. Konnten die vielen ungenutzten Schätze in Geld umgesetzt werden, am besten wohl durch die Vergebung von Konzessionen, so mußte das dem armen Land einen wesentlichen Aufschwung bringen. Der ganze Staatshaushalt Dagestans schloß damals mit zehn Millionen Rubel ab.
Am nächsten Tag, Freitag, den 11. Juli, war zur Erörterung dieser Frage eine große Versammlung des ganzen Volkskommissariats von Dagestan einberufen. Ich hatte auf unsern Ausflügen wiederholt festgestellt, daß hier große Mineralschätze, Petroleum und natürlicher Schwefel, vielleicht in den Bergen auch Metallerze ruhten. Der bei weitem größte Reichtum des Landes schien mir aber die weite ertragfähige Ebene selbst zu sein. Sie erstreckt sich 216 Kilometer weit nach Norden über das Deltaland des Terek bis zur Landesgrenze am Kuma und hat eine Fläche von mehr als 25 000 Quadratkilometern. Im Norden waren zwar viele Salzsteppen, aber ein großer Teil der Ebene mußte meinem Eindruck nach anbaufähig gemacht werden können. Wurden die hunderttausende Desjätinen fruchtbaren Landes, die hier mehr oder minder brachlagen, entwässert, berieselt und umgepflügt, so konnten daraus die herrlichsten Äcker und Gärten werden. Baumwolle und Obst, Seide und Tabak, Gemüse und Wein, vom Getreide nicht zu reden, konnten hier gedeihen. Die Arbeit mußte durchführbar sein. Das Wasser des Terek, der nördlich der Hauptstadt mündet, schien mir für Berieselung besonders geeignet, und auch im Süden kommen genug Flüsse von den Bergen herab, deren Wasser über die Ebene geleitet werden könnte. Das Flachland kann mit Motorpflügen bearbeitet werden, deren Betrieb in einem petroleumreichen Land billig ist.
Die Malaria ist ein gefährlicher Gegner. Das Volkskommissariat war sich darüber klar, daß gegen diese Seuche ein planmäßiger Kampf geführt werden muß. Aber die Bebauung des Landes, namentlich die Entwässerung der sumpfigen Landstriche wäre ja selbst schon eine der wesentlichsten Bekämpfungsmaßnahmen. Außerdem konnte man noch mit andern Mitteln vorgehen. Das Besprengen der Sümpfe und stehenden Gewässer mit Naphtha würde in Dagestan mit seinen reichen Naphthaquellen kaum mehr Kosten verursachen als eben die Ausgaben für die Arbeitskräfte.
In allen diesen Punkten war man sich im Volkskommissariat einig. Bis jetzt hatten die Kommissare die Mineralvorkommen für den größten Reichtum des Landes gehalten, wollten aber nun doch meinem Rat folgen und der Urbarmachung der Ebene besondere Aufmerksamkeit widmen. Nur über den Weg zum Ziel herrschten noch Zweifel. Zu einer großen Entwässerungs- und Berieselungsanlage waren Betriebsmittel notwendig, und das arme Land Dagestan verfügte nicht über so bedeutende Wirtschaftsquellen.
Zwei Wege waren denkbar. Entweder mußte Dagestan eine Anleihe für die Urbarmachung seines Brachlandes aufnehmen und die Zinsen und Tilgungsraten aus dem Ertrag des Bodens selbst bezahlen, oder die Regierung gab das Land an ausländische Kapitalisten in Konzession mit der Verpflichtung zur Urbarmachung. Mehrere Mitglieder der Kommission fürchteten, daß eine Anleihe für Dagestan nur schwer aufzubringen sein würde, denn die Republik ist finanziell nicht selbständig, sondern gilt als ein Teil der sozialistischen Sowjetrepublik mit dem Hauptsitz Moskau. Das Konzessionensystem schien also einfacher und leichter durchführbar. In früherer Zeit hatte auf der Ebene im Norden eine deutsche Ansiedlung bestanden. Die Siedler waren als tüchtige Arbeiter allgemein beliebt gewesen. Leider waren sie während des Krieges vertrieben worden. Aber die Kommissare hätten die Wiederentstehung solcher Ansiedlungen freudig begrüßt und wären für jede Unterstützung in dieser Richtung sehr dankbar gewesen. – Die Regierung brauchte außerdem Hilfe im Kampf gegen die Malaria und bei der Anschaffung von Traktoren. Wären erst einmal die Geldmittel zur Urbarmachung des Flachlandes vorhanden, so würde es nicht schwer sein, die nötige Bauernbevölkerung heranzuziehen. Das Gebirge ist voll von Menschen, die mit Freuden gute Felder im Tiefland gegen ihre armseligen Ackerfleckchen im Hochgebirge eintauschen würden. – Die Möglichkeiten waren ungemessen; wer guten Willen und die nötigen Mittel besaß, dem bot sich Gelegenheit, ein segensreiches Werk zu unterstützen. Ganz Westeuropa leidet unter Erwerbslosigkeit. Die Menschen quälen sich um das bißchen Brot für ihren Lebensunterhalt, und hier im nahen Osten wartet die jungfräuliche Erde auf frische Arbeitskräfte, bereit, sie mit reicher Ernte zu lohnen. Es bedarf nur tüchtiger Menschen, die frisch anpacken. Für tausende und aber Tausende Erwerbslose oder ungenügend beschäftigte Menschen aus den alten Kulturländern ist hier Platz in Hülle und Fülle. Hier könnten sie zu nützlichen Gliedern eines blühenden Wirtschaftsorganismus werden. Raum für alle hätte unsere Erde, wäre nur die Bevölkerung richtig verteilt und der Boden vernünftig ausgenutzt.
Nach Schluß der Besprechungen fand ein gemeinsames Frühstück der Volkskommissare statt. Die Tafel war reich gedeckt. Alle diese Mohammedaner tranken Wein. Der Klang der Gläser bekräftigte die in vielen begeisterten Reden ausgesprochene Hoffnung, daß unsere gemeinsamen Bemühungen um Dagestans glückliche Zukunft reiche Früchte tragen möchten.