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Gegen vier Uhr nachmittags verließen wir Wladikawkas mit dem Zug und erreichten nach nur halbstündiger Fahrt auf der kurzen Zweigbahn Beslan an der Hauptstrecke Moskau – Petrowsk – Baku. Dort hatten wir eineinhalb Stunden Aufenthalt, denn der Anschlußzug ging erst um 6.09 Uhr abends.
Ich verbrachte die Zeit mit einem Besuch des Marktes dicht neben dem Bahnhof. Die Bauernfrauen verkauften Früchte, gebratene Hühner, Koteletten, Brot nach Gewicht und andere Lebensmittel. Lebhaftes Treiben herrschte um die Verkaufsstände. Die Leute machten wohl gerade ihre Einkäufe für den Abendtisch. Eine hübsche junge Frau fiel mir besonders auf. Sie bot gebratene Koteletten an, und ihr kleiner Junge stand vor einem Gefäß mit Brathühnern. Vermutlich hatte sie bessere Tage gesehen, aber sie fand sich geduldig darein, daß die Männer an ihren Stand traten, die Koteletten aus dem Kessel nahmen, sie um und um wendeten, nach dem Preis fragten und sie dann wieder zurückgaben, ohne etwas zu kaufen. Der eine oder andere entschloß sich doch zum Einkauf. Mit den Hühnern ging es ähnlich. Man befühlte und betastete sie und legte sie dann wieder zurück. Ein unschöner Anblick. Endlich aber fand auch ein Huhn seinen Käufer.
Weiter ab war eine Tombola auf der Straße eingerichtet, eine Frau stand an dem runden Spieltisch. Er war mit Taschentüchern und andern kleinen Gegenständen umsäumt. Man bezahlte einige Kopeken, setzte einen Zeiger in der Mitte des Tisches in Schwung und bekam den Gegenstand als Gewinn ausgehändigt, bei dem der Zeiger zum Stehen kam. An diesem Spieltisch drängten sich die Menschen.
Bezeichnenderweise befaßten sich hier die Frauen mit dem Handel. Das war in den Gegenden, aus denen wir soeben kamen, sehr selten; sogar auf dem Marktplatz in Tiflis. Dort trieben nur die Männer auf Märkten und in Basaren Handel. Hier aber befanden wir uns schon wieder in Rußland.
Der Expreßzug fuhr ein und entführte uns über die Ebene nach Osten. Als wir den internationalen Schlafwagen bestiegen, war es uns, als seien wir nach Europa zurückgekehrt.
Am Dienstag, dem 7. Juli, morgens 2 Uhr, erreichten wir Petrowsk oder Machatsch-Kalá, wie es jetzt nach einem Blutzeugen der Revolution genannt ist. Die Stadt liegt am Kaspischen Meer und ist die Hauptstadt der autonomen Republik Dagestan. Am Bahnhof empfingen uns der Präsident von Dagestan Samursky und der Präsident der kommissarischen Regierung Korkmasow. Samursky brachte uns in seine Wohnung; seine Frau bot uns Tee und Erfrischungen an. Man empfing uns mit all der Gastfreundlichkeit, die den Bergvölkern eigen ist. Der Präsident und seine Frau hatten außer dem großen Arbeits- und Empfangszimmer nur drei Wohnräume. Der eine davon war mit zwei ausgezeichneten Betten eingerichtet und wurde nun Quisling und mir überlassen. Nach dem langen, an Eindrücken so reichen Tage schliefen wir in unserer neuen Umgebung einen tiefen Schlaf.
Die autonome sowjet-sozialistische Republik Dagestan entstand als solche während der Revolution und des Bürgerkriegs gegen Ende des Jahres 1921. Alle inneren Angelegenheiten werden durch Selbstverwaltung erledigt, im übrigen ist das Land ein Teil der sowjet-sozialistischen Staatengruppe, die zusammen mit der Ukraine, den transkaukasischen Republiken, Weißrußland, der turkmenischen Republik und Usbekistan die große Union der sowjet-sozialistischen Republiken bildet.
Die Republik Dagestan erstreckt sich in einer Länge von 360 Kilometern an der Westküste des Kaspischen Meeres vom Fluß Samur, südlich von Derbent bis zum Fluß Koma im nördlichen Steppengebiet. Die Republik bedeckt eine Fläche von 50 000 Quadratkilometern. Präsident Samursky gab mir für die einzelnen Bodenarten folgende Zahlen an:
Gesamtfläche der Republik | 49 660 qkm |
Davon entfallen auf: | |
Nacktes Felsland | 17 100 qkm |
Moore und Sümpfe | 3 200 qkm |
Sandboden | 3 510 qkm |
Waldland | 1 980 qkm |
Grasland (Weide) | 10 490 qkm |
Wiesen | 7 700 qkm |
Äcker | 4 955 qkm |
Gärten | 265 qkm |
Die südliche Hälfte der Republik ist das eigentliche Bergland Dagestan (das heißt »Felsland«) und erstreckt sich von der Küste über den Rücken des Kaukasus gegen Südwesten bis zur Talmulde des Alasán. Es grenzt im Süden an Aserbeidschan, im Südwesten an Georgien, der nördliche Teil der Westgrenze stößt an Tschetschenien. Das wilde Gebirgsland ist von hohen Bergzügen und tiefen engen Tälern zerrissen. Die Täler verlaufen namentlich im südlichen Teil meistens von Nordwesten nach Südosten, also in gleicher Richtung mit dem Hauptzug des Gebirges. Im nördlichen Teil des Berglandes ziehen sich die Kämme und Täler großenteils in nordöstlicher Richtung.
Drei große Flußsysteme hat Dagestan. Der Sulak entsteht durch die Bereinigung des Andischen Koisu, des Awarischen Koisu, des Kara-Koisu und des Kasikumuchischen Koisu. Dieses Flußgebiet umfaßt mit seinen nordöstlich und nördlich verlaufenden Tälern den ganzen nördlichen Teil des Landes. Der größte Fluß im Süden ist der Samur, sein Talzug hat im Oberlauf südöstliche Richtung und biegt dann nach Nordosten ab. Der Unterlauf bildet die Grenze gegen Aserbeidschan. Durch die Ebene im Norden der Republik strömt der Terek, dessen weites, vielarmiges Delta eine große Fläche bedeckt.
In Tschetschenien und seinem Grenzbezirk Itschkerien sind die Berge dicht bewaldet. Der Buchenwald herrscht dort vor. So war es jedenfalls, ehe die Russen während des Schamylkrieges ihr Zerstörungswerk übten. Die Berge und Täler Dagestans aber sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nackt und unbewaldet.
Nach der Volkszählung von 1926 hatte Dagestan 788 000 Einwohner, 383 000 Männer und 405 000 Frauen. 85 000 Menschen wohnten in größeren Städten, die übrigen 703 000 waren Landbewohner. Nach der gleichen Zählung ergeben sich die nachstehend aufgezeichneten Anteile der einzelnen Volksstämme.
Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung:
Dagestanische Bergstämme (Lesghier) | 61,8% | etwa | 487 000 |
Russen | 12,5% | " | 98 400 |
Kumücken | 11,2% | " | 89 300 |
Nogaier | 3,3% | " | 26 000 |
Tschetschenzen | 2,3% | " | 18 100 |
Türken (Tataren) | 3,3% | " | 23 600 |
Gebirgsjuden | 1,5% | " | 11 800 |
————————— | |||
95,6% | " | 754 200 |
Zusammensetzung der Stadtbevölkerung:
Russen und Ukrainer | 43,5% | etwa | 37 000 |
Juden | 17,1% | " | 14 500 |
Perser | 12,9% | " | 11 000 |
Lesghier | 9,1% | " | 7 700 |
Tataren | 6,3% | " | 5 350 |
Kumücken | 4,9% | " | 4 160 |
Armenier | 2,0% | " | 1 700 |
Andere | 4,2% | " | 3 570 |
————————— | |||
100,0% | " | 84 980 |
Zusammensetzung der Landbevölkerung:
Lesghische Völker: | ||||
Awaren und Andier | 24,0% | etwa | 169 200 | |
Darginer | 17,0% | " | 119 860 | |
Küriner | 13,0% | " | 91 700 | |
Laker (Kasikumuchen) | 6,3% | " | 44 400 | |
Türkische Völker: | ||||
Kumücken | 15,0% | " | 105 750 | |
Nogaier | 5,4% | " | 38 070 | |
Türken | 3,3% | " | 23 270 | |
Tschetschenzen | 2,7% | " | 19 040 | |
Russen und Ukrainer | 11,0% | " | 77 550 | |
Andere | 2,3% | " | 16 200 | |
—————————— | ||||
100,0% | " | 705 030 |
Diese Zahlen geben nur ein annäherndes Bild der Verteilung. Die erwähnten Völker und Stämme sprechen sehr verschiedene Sprachen, ja, in jedem Posten der Aufzählung sind ganze Gruppen von Stämmen zusammengefaßt, die untereinander sehr verschiedene Mundarten sprechen und sich gegenseitig kaum verstehen. Samursky sagte mir, es gäbe in Dagestan 32 verschiedene Sprachen und Mundarten. Die lesghischen Völker sind die eigentlichen Bergstämme von Altdagestan. Die türkisch (tatarisch) sprechenden Kumücken wohnen am äußersten Nordosthang des Gebirges und in der Ebene des Kaspischen Meeres zwischen dem Fluß Rubas, südlich von Derbent, und dem Fluß Sulak, nördlich von Petrowsk. Noch weiter nördlich, in der Ebene, wohnen die türkischen Nogaier und dazwischen, an den Ufern des Terek, die Terekkosaken.
Die Mannigfaltigkeit der Sprachen verursacht große Schwierigkeiten in der Verwaltung. Neben dem Russischen werden fünf Hauptsprachen hervorgehoben: Türkisch, Kumückisch, Lakisch (Kasi-Kumuchisch), Darginisch und Awarisch. Der Schulunterricht wird während der ersten zwei Jahre in der Muttersprache erteilt, vom dritten Jahre ab müssen die Kinder entweder Turski-Kumückisch oder Russisch lernen. In der höheren Schule sind vom vierten Jahre ab Russisch und Kumückisch Pflichtfächer. Aber Russisch sowohl als Turski-Kumückisch haben mit den übrigen Landessprachen nichts zu tun. Das Russische ist aus der Zeit des Zarismus und seiner rücksichtslosen Verrussungspolitik bei der Bevölkerung arg verhaßt. Die mohammedanische Geistlichkeit schürt noch dazu den Widerstand gegen die Sprachen der Giaurs (Sprachen der Ungläubigen). Zur Zeit gibt es je eine russische, kumückische, lakische und awarische Zeitung. In Ostdagestan ist das Turski-Kumückische anerkannte Umgangssprache, in Westdagestan herrscht das Awarische vor.
Die fünf größten Städte Dagestans sind Petrowsk (jetzt Machatsch-Kalá), Temir-Chan-Schura (jetzt Buinaksk), Derbent, Kisliar und Hasaf-Yrt; diese letzte Stadt ist im Bürgerkrieg fast völlig zerstört worden.
Die Herkunft der lesghischen Bergvölker und der Tschetschenzen ist unbekannt, auch über ihre Vorgeschichte wissen wir nur wenig, denn sie selbst haben keinerlei Aufzeichnungen und Überlieferungen, noch werden sie von den alten Chronisten anderer Völker erwähnt. Die Erforschung ihrer Sprache hat bisher noch keine zuverlässigen Schlußfolgerungen erlaubt, weil die Sprachgelehrten noch nicht imstande waren, die Verwandtschaft mit andern Sprachen sicher nachzuweisen. Lesghier und Tschetschenzen sind durchweg sehr kurz- und hochschädlig, die Linie vom Ohr bis zum Scheitel ist besonders lang. Im südlichen Teil des Landes, wo die Bevölkerung am wenigsten mit andern Elementen gemischt zu sein scheint, findet man lange, scharf abwärts gebogene Nasen und schwache Kinnbildung. Die Augen sind braun, Haupthaar und Bart dunkel, der Körperbau mittellang, oft sogar darüber. In Norddagestan kommen auch blonde, schlanke, zäh-geschmeidige Gestalten vor. Wo aber offenbar nur wenig Blutmischung stattfand, nähert sich der Typus dem der armenisch-dinarischen Rasse. Das könnte den Schluß nahelegen, daß diese Völker ihren Ursprung in Vorderasien haben, wo in vorgeschichtlicher und frühgeschichtlicher Zeit viele Völker dieses Rassetypus gewohnt zu haben scheinen. Wahrscheinlich verdanken die Semiten diesen Völkern einen Teil ihrer heutigen Rassenmerkmale, die ursprünglich keineswegs semitisch sind.
Die lesghischen Stämme wohnen in den Gebirgstälern. Ihre Dörfer, die sogenannten Aule, sind terrassenartig an den Felswänden emporgebaut, und zwar stets an der nach Süden liegenden Seite, um die Sonnenwärme auszunutzen. An den mächtigen Felswänden türmt sich Haus über Haus, meist an schwer zugänglichen, die Verteidigung erleichternden Stellen. Die Häuser sind im Grundriß viereckig, meist sind sie aus Stein und grobem Mauerkalk gebaut und haben gewöhnlich zwei Stockwerke. Die Dächer sind flach, das Dach des einen Hauses bildet oft zugleich die Altane oder Terrasse des darüberliegenden. Ich habe diese Bauart schon bei Besprechung der Chewsuren und Osseten geschildert. Im Untergeschoß sind Ställe und Vorratsräume, im Obergeschoß die Wohnräume für Männer, Frauen und Gäste. Nur selten haben die Frauen ein besonderes Gemach. Stühle findet man kaum, die Bewohner sitzen mit gekreuzten Beinen auf dem teppichbelegten Boden, oft sind auch die Wände mit Teppichen behängt. Getrockneter Kuhmist, in Stücke gebrochen, dient als Feuerung. Doch wird auch Holz gebrannt, wo es im Umkreis Bäume gibt. Zwischen den Häusern und den schmalen engen Gassen liegen gewöhnlich kleine Hofräume. Sie sind von einer Steinmauer mit nur einer engen Pforte umgeben.
Die Männer tragen über der Unterkleidung eine Stoffjacke mit Leibgurt, Stoffhosen, Ledersocken und Schuhe aus weichem Leder, manchmal auch hohe Filzstiefel. Die übliche Kopfbedeckung ist eine Schaffellmütze. Das Haupthaar ist gewöhnlich glatt rasiert. Über dem Kittel wird ein dicker, oft ärmelloser Mantel aus grobem Filz getragen. In den Hochgebirgstälern wird ein langer Lammfellmantel mit breitem Kragen an Stelle der Burka oder über ihr getragen. Die Frauen haben weite Hosen, darüber einen Rock und einen (meist blauen) Kittel mit Gürtel. Sie tragen das Haar in Zöpfen und bedecken den Kopf mit einem Schal oder einer Haube, deren Enden zu beiden Seiten herabhängen. Die Kopfbedeckung ist oft mit Münzen verziert. Im Winter geht man gewöhnlich in Filzstiefeln, im Sommer barfuß. Die Männer führen in der Regel als einzige Waffe den Kindschal (großen Dolch).
Der Hauptnahrungszweig ist die Viehzucht. Die Bevölkerung hält Schafe, Ziegen, Kühe, Büffel, Pferde und Esel. Das Kleinvieh überwiegt, namentlich die Ziegen, deren es hier mehr gibt als in andern Teilen des Kaukasus. Im Sommer sind die Almweiden im Gebirge reich genug, während der übrigen Jahreszeit ziehen die Männer mit Weibern und Kindern entweder nach der Ebene am Kaspischen Meer oder nach den Steppen im Norden, um Weiden zu finden. Der Ackerbau macht hier oben im Gebirge sauere Mühe. Die kleinen Feldstücke an den Hängen müssen mit Steinmauern umgeben werden, damit die Erde nicht weggeschwemmt wird, ja teilweise wird das Erdreich sogar mühselig hinaufgeschleppt. Bei günstiger Bewässerung gibt der Boden gute Ernte, doch nicht genug, um das Volk zu ernähren. Der Korn- und Mehlbedarf muß teilweise durch Einfuhr aus der Ebene oder aus Georgien gedeckt werden. Auch in den besten Jahren reicht die Ernte nur für drei oder vier Monate. Die Bauern treiben auch etwas Netzfischerei und jagen Hasen, Fasanen und Rebhühner. In Awarien wird sogar noch mit Falken gejagt.
Die Kost ist einfach, man lebt von Schwarzbrot aus Buchweizen- und Bohnenmehl, von Käse, Milch, Zwiebeln und einer Art Nudeln aus ungegorenem Teig von Buchweizen-, Hirse-, Mais- oder Bohnenmehl. Im Winter, wenn das Vieh in der Ebene weidet, wird gedörrtes Schaffleisch gegessen, ebenso wie bei uns in Norwegen im Sommer, wenn das Vieh auf den Almen weidet. Bier wird nur wenig getrunken, dagegen wird zu hohen Festen trotz des Verbotes des Propheten reichlich Schnaps, Most und Wein verbraucht.
Die vorherrschende Religion in Dagestan ist der Islam. Er wurde im 8. Jahrhundert bei den Lesghiern eingeführt. Die Bevölkerung hält sich streng an die meisten religiösen Gebote, sie verrichtet ihre Gebete und Waschungen und gibt Almosen. Die Reste altheidnischer Vorstellungen, namentlich die Überbleibsel der frühgeschichtlichen Naturreligionen, scheinen ziemlich verschwunden zu sein. Die Tschetschenzen waren bis ins 18. Jahrhundert hinein größtenteils Christen, dann erst übernahmen sie von den benachbarten Kumücken und Kabardinern den Islam. Bei ihnen hat sich die Verehrung verschiedener Naturgottheiten als Rest einer vorchristlichen Naturreligion erhalten. Die kultische Sprache ist bei all diesen Stämmen das Arabische. In dieser Sprache wird der Koran gelesen. Die Sowjetregierung in Dagestan steht dem religiösen Kultus weniger ablehnend gegenüber als die Moskauer Zentralregierung. Die Regierung von Dagestan ist sogar gewillt, mit den kirchlichen Mächten zusammenzuarbeiten. Präsident Samursky schreibt in einem Buch, die beste Politik für Dagestan bestehe darin, sich der Geistlichkeit zu bedienen und auf diesem Wege allmählich auch die weltliche Bildung zu fördern. Bis zum Jahre 1925 hatte die Sowjetregierung 93 Schulen mit 6951 Schülern im Lande errichtet. Der Schulunterricht ist in der Weise eingerichtet, daß die Kinder zunächst eine dreijährige Vorschule und hierauf eine vierjährige höhere Schule besuchen. Die meisten Schulen sind aber nicht voll ausgebaut. Im Jahre 1923 wurde in Moskau der Beschluß gefaßt, vom Jahre 1933/34 ab den allgemeinen Schulzwang in den asiatischen Teilen des Reiches durchzuführen. Dieser Beschluß wird sich natürlich auch auf Dagestan beziehen. Neben den öffentlichen Schulen bestehen in viel größerer Anzahl mohammedanische. Samursky gab mir die Zahl ihrer Schüler mit 40 000 an. Er erblickt darin eine Gefahr, denn der mohammedanische Einfluß drohe dadurch übermächtig zu werden. In gleicher Richtung wirkt auch die ungenügende Zahl der Volksgerichte im Land, denn die Rechtssprechung liegt überwiegend in den Händen der mohammedanischen Geistlichkeit. Diese aber urteilt nach dem Schariat (religiösen Recht) statt nach den bürgerlichen Gesetzen. Die Regierung beabsichtigt aus diesem Grunde die Errichtung weiterer Volksgerichte und Tribunale. Diesem Plan und seinem Erfolg steht aber im Wege, daß die Bevölkerung die bürgerlichen Gerichte der zaristischen Zeit in unangenehmer Erinnerung hat.
Die Blutrache ist in Dagestan noch immer weit verbreitet, obwohl sie dem Koran und dem Schariat widerspricht, und trotz der heftigen Bekämpfung dieses Mißbrauchs durch Schamyl und die mohammedanischen Propheten. Auch heute noch sollen 80 vom Hundert aller Totschläge der Blutrache zuzuschreiben sein. Lesghier und Tschetschenzen kennen keine gesellschaftlichen Rangschichten, wenn auch bei einigen lesghischen Stämmen, wie den Awaren und Lesghiern, ganze große Gebiete unter der Herrschaft von Chanen standen. Das Verhältnis der beiden Geschlechter, die Arbeitsteilung zwischen ihnen und die Einrichtung der Ehe entsprechen den heiligen Vorschriften. Im allgemeinen hat ein Mann nur eine Frau, die er gegen einen geringen Betrag käuflich erworben hat. Bei den Awaren haben es die Mädchen besser. Sie können selbst ihren Mann wählen, und wenn das Mädchen zu seinem Auserkorenen ins Haus zieht, so ist dieser zur Eheschließung verpflichtet. Bei einigen Bergstämmen übernimmt der älteste Sohn nach dem Tode seines Vaters dessen Frauen, ausgenommen seine eigene Mutter. Andere Stämme, die Dido und Küriner, hatten die gleichen Bräuche wie die Großrussen, das heißt, der Vater verheiratete seinen minderjährigen Sohn mit einem erwachsenen Mädchen. Die Kinder wurden zwischen ihm und dem Sohn geteilt, sobald der Sohn erwachsen war und seine Frau selbst ernähren konnte. Die Kinder werden oft bis ins 5. oder 6. Lebensjahr an der Brust genährt.
Gastfreundschaft ist bei diesen Bergvölkern heiligstes Gesetz. Um geringer Beute willen überfallen und berauben sie einen Fremden auf der Landstraße. Überschreitet er aber ihre Schwelle als Gast, so genießt er Frieden, selbst wenn er ein Feind ist. Man gewährt ihm Obdach, Nahrung und Schutz.
Die schwere Arbeit tun die Männer. Die Frauen arbeiten im Haus, melken das Vieh, warten die Kinder, pressen den Kuhmist zu Kuchen und dörren ihn, reinigen die Wolle, spinnen und weben, schaffen Wasser herbei, sicheln das Korn. Die Männer mähen Heu, hüten das Vieh, scheren die Schafe, pflegen und bestellen die Äcker, dreschen, bauen die Häuser und schlachten. Die Frauen verfertigen unter anderm Web- und Knüpfteppiche aus Schafwolle und Ziegenhaar. Sie weben feine und grobe lesghische Tücher aus Ziegen-, Schaf- und Kamelwolle und besticken Samt, Seide oder Leder mit Gold- und Silberfäden. Satteltaschen und Kleidersäcke aus teppichartigem Gewebe, grobe Korn- und Mehlsäcke aus Ziegenhaar, Schabracken und Stiefel aus Filz oder Fries werden gleichfalls von Frauen hergestellt.
Viele Lesghier sind tüchtige Handwerker. Sie tun sich als Steinhauer, Maurer, Zimmerleute und Schmiede hervor. Namentlich die Kasi-Kumuchen gelten als tüchtige Silber-, Kupfer- und Waffenschmiede. Die Waffenschmiede von Kubatsch genossen besonders hohen Ruf und werden schon im 6. Jahrhundert n. Chr. erwähnt. Ihre Klingen und Flintenläufe wurden sogar nach Rußland ausgeführt. In der Gegend von Kaitago und Tabassaran werden ausgezeichnete Gold- und Silberarbeiten, auch Einlegearbeiten in Stahl, Elfenbein, Horn und Perlmutter erzeugt.
Der Verkehr ist in dem wildzerklüfteten Bergland außerordentlich schwierig. Es gibt stellenweise nur schmale Kletterpfade, die an steilen Felswänden in schwindelnder Höhe über Flüssen und engen Talgründen hinführen. Wo die Felsen gar zu steil sind, hat man Holzpflöcke eingehauen und kleine Stämme, Zweige oder Steine darübergelegt. Schmale Brücken aus Balkenwerk hängen über Abgründen. Alle Waren müssen auf dem Rücken von Pferden, Eseln oder – Menschen befördert werden.
Die Lebensbedingungen sind in den Tälern zwischen den mächtigen Bergen hart genug. Die Menschen führen ein mühseliges Dasein, aber sie werden dadurch abgehärtet, mutig und streitbar. Besonders die Tschetschenzen sind vortreffliche Reiter, mit ihren ausgezeichneten leistungsfähigen Pferden legen sie bis zu 150 Kilometer an einem Tage zurück. Auch im Gebrauch von Waffen und als Scharfschützen haben sie große Übung erworben.
Noch einige Worte über die Kumücken, die im Küstengebiet nördlich und südlich von Petrowsk und in den angrenzenden östlichen Ausläufern des Kaukasus wohnen. Wir dürfen sie nicht mit den Kasi-Kumuchen oder Lakern, einem Bergvolk in Südostdagestan, verwechseln. Sie sprechen eine türkische Mundart, die der Sprache der benachbarten Nogaier nahe verwandt ist. Vermutlich sind sie zum Teil Nachkommen der Chasaren.
Die Chasaren treten schon früh ins Licht der Geschichte. Firdusi gebraucht das Wort »Chasar« zur Bezeichnung der feindlichen Bevölkerung im Norden Persiens. Die Heimat der Chasaren waren wohl die nordöstlichen und östlichen Ausläufer des Kaukasus und der Landstrich am Kaspischen Meer, den die arabischen Geographen des Mittelalters als Bahr-el-Chazar (»Chasarischer See«) bezeichnen. In frühester Zeit war die Hauptstadt des Landes Semender, das spätere Tarku (nahe dem heutigen Machatsch-Kalá). Im 7. Jahrhundert, nach dem Einfall der Mohammedaner in den Kaukasus, wurde die Zentrale von dort nach Itil an der Wolgamündung verlegt. Die rassische Herkunft der Chasaren ist unbestimmt. Doch scheint vieles darauf hinzudeuten, daß sie mit den ugrischen und türkischen Völkern in Verbindung stehen. Eine Zeitlang waren sie der Oberherrschaft der Hunnen unterworfen (nach 448 n. Chr.), 0später standen sie vorübergehend unter türkischer Hoheit (um 580). Das ugrische Volk der Ungarn war ein chasarischer Stamm. Die Chasaren hatten helle Hautfarbe und schwarzes Haar. Sie zeichneten sich durch besondere Schönheit des Körperbaus aus. Ihre Frauen waren in Byzanz und Bagdad als Hausfrauen beliebt und gesucht. Das alte chasarische Reich erstreckte sich zwischen dem Kaukasus, der Wolga und dem Don, hatte aber zeitweise eine noch viel größere Ausdehnung. Die Chasaren waren verhältnismäßig hoch zivilisiert. Sie gründeten Städte, waren tüchtige Händler, besaßen ein wohlentwickeltes Staatswesen, waren auch wegen ihrer Zähigkeit, ihres Pflichtgefühls und ihrer Zuverlässigkeit beliebt – lauter Eigenschaften, die dem hunnischen Wesen fremd sind. Als ihr Reich gegen Ende des 9. und im Anfang des 10. Jahrhunderts durch das warägisch= skandinavisch.-slawische Reich in Kiew zerbrochen und endlich im Jahre 1016 vollständig vernichtet war, mag ein Teil der Chasaren in dem Gebiet zwischen dem Unterlauf des Terek und dem Kaukasus zurückgeblieben sein. Dort haben sich ihnen vielleicht Splitter türkisch-tatarischer Stämme angeschlossen, die mit den türkischen Wanderzügen und mit den Mongolen Dschingis Chans (1221) und Tamerlans (1395) im 13. und 14. Jahrhundert dorthin kamen und unter den Kumückenfürsten, Schamchalen genannt, in Tarku ihren Sitz aufschlugen.
Die Kumücken sind ein friedliches, ruhiges, arbeitsames, tätiges und reinliches Volk. Ihre Häuser sind verhältnismäßig geräumig. Im Erdgeschoß liegen die Arbeitsräume, im Obergeschoß getrennte Zimmer für Männer und Frauen. Die Fenster öffnen sich gegen eine freie Galerie. Die Kumücken sind Sunniten, zum Teil auch Schiiten. Sie leben von der Fischerei im Kaspischen Meere, von Viehzucht (hauptsächlich Schafen und Pferden), Imkerei, in letzter Zeit zum Teil auch vom Ackerbau mit künstlicher Berieselung. Sie sind ausgezeichnete Pferdekenner. Mit dem Lasso fangen sie wilde Pferde ein und zähmen sie als kühne Reiter außerordentlich schnell.
Teppiche, Schafwolle, Häute, Fische, Salz und andere Waren sind Gegenstand eines blühenden Handels mit Persien. Die Ware, die sie eintauschen, verkaufen sie vielfach an die Lesghier weiter. Der Haupthandelsplatz war Tarku mit seinem Hafen, aus dem das heutige Machatsch-Kalá entstand. Die Gesellschaftsordnung der Kumücken ist aristokratisch, wie das bei Steppenvölkern üblich ist. Die vier Bevölkerungsschichten sind: Fürsten, Adelige, Gemeinfreie und Sklaven.
Das dagestanische Volk hat auch heute einen wirtschaftlich schweren Stand. Die Möglichkeiten des Landes sind niemals folgerichtig entwickelt worden. Dazu ist Kapital nötig, und dies wiederum kann nur mit Hilfe des Staates beschafft werden. Der Zarenregierung scheint die Verrussung des Landes mehr am Herzen gelegen zu haben als die Entwicklung des Wirtschaftslebens und die Hebung der Volkswohlfahrt. Krieg und Bürgerkrieg haben die wirtschaftliche Lage des Landes weiter verschlechtert. Eisenbahnen, Telegraphen- und Schiffsverbindungen wurden zerstört. Der Viehbestand sank auf 25 vom Hundert, die Weingärten wurden zu drei Viertel vernichtet, die Fischerei litt unbeschreiblich. Im Jahre 1922 herrschte ein großes Viehsterben, im gleichen Jahr traten die Feldmäuse als Landplage auf und vernichteten die ganze Ernte, das Jahr 1924 brachte schweren Mißwachs. So folgte ein Unglück dem andern. Der gesamte Viehbestand betrug im Jahre 1911 3 600 400 Stück, 1923 nur noch 1 480 000 Stück. Ist die Wirtschaftslage an sich schon ungünstig genug, so wird sie durch schlechte Gesundheitsverhältnisse noch erschwert. Die Malaria ist im ganzen Lande, namentlich aber in der Ebene, weit verbreitet und hat einen großen Teil der Bevölkerung ergriffen. Auch Geschlechtskrankheiten sind sehr häufig, die Arbeiter stecken sich in den Städten an und schleppen die Krankheiten in ihre Aule ein, wenn sie zurückkommen. Die Zahl der Ärzte ist besonders in den Bergen viel zu gering, und wo es Ärzte gibt, will die Bevölkerung sich ihnen nicht anvertrauen. Die Männer entschließen sich zwar, zum Arzt zu gehen, die Frauen aber haben eine unüberwindliche Scheu.
Wegen der ungünstigen Wirtschaftslage und der geringen anbaufähigen Bodenfläche in den Gebirgstälern suchen in jedem Herbst nach der Ernte viele Männer auswärts Arbeit. Samursky schätzt die Zahl derer, die in andern Teilen Kaukasiens, in Turkestan wie auch im eigentlichen Rußland, Arbeit suchen, auf jährlich 200 000. Im Frühjahr kommen die Abwanderer wieder zurück. Viele Tausende suchen Beschäftigung in Baku. Samursky schreibt diesen Saisonwanderungen eine große Bedeutung für Dagestan zu, er sieht in ihnen vor allem einen Weg, auf dem europäische Kultur ins Bergland vordringen kann. Die Schattenseiten dürfen aber nicht vergessen werden, Geschlechtskrankheiten und Trunksucht werden eingeschleppt und entsittlichen die Bevölkerung.
Die Regierung tut zur Hebung des Volkswohlstandes was und soviel sie vermag. Sie hat einen großen Kanal zur Bewässerung des Landes gebaut, hat neue Straßen angelegt, hat auch Kredite zur Beschaffung von Vieh zur Verfügung gestellt, soweit sie Geld auftreiben konnte, endlich hat sie die Fischerei zu fördern versucht und auch hier mit Leihgeldern geholfen. Durch Anlage von Baumwollwebereien, Glasfabriken und andern Werken soll eine junge Industrie ins Leben gerufen werden.
Wenn nur Geldmittel aufzutreiben wären, so bestünden noch weit größere Möglichkeiten. Reiche Wasserkräfte könnten elektrischen Strom liefern. Eine Kommission von Ingenieuren hat genaue Untersuchungen angestellt, doch konnten noch keine Maßnahmen in dieser Richtung verwirklicht werden. Samursky wies darauf hin, wie entwicklungsfähig auch das Hausgewerbe sei, wenn nur der Ankauf von Rohstoffen und der Verkauf von Erzeugnissen durch Genossenschaften erleichtert werden könnte. Die Kooperativbewegung zählt zur Zeit 13 000 Mitglieder, genauer gesagt 13 000 Familien.
Am Morgen des 7. Juli machte ich einen Gang durch die Stadt. Mein erstes Ziel war das Kaspische Meer. Ich suchte meinen Weg durch die Straßen zum Strand hinab. Blau dehnte es sich bis an den Gesichtskreis, die Morgensonne glitzerte auf der von einer frischen Brise gekräuselten Fläche. Weit und breit kein Segel und kein Schiff. Auf dem flachen Sandstrand lagen die braungelben Körper badender Knaben in der Sonne. Auf den ersten Blick unterschied sich dieser größte Binnensee der Erde kaum von irgendeinem beliebigen Meer, nur daß am Strand die Hoch- und Niedrigwassermarken fehlten. Aber die gibt es ja auch am Mittelländischen und Schwarzen Meer nicht. Kein Wunder, daß die alten Griechen diesen großen Salzsee für eine Bucht des Okéanos hielten, der die ganze bewohnte Erde umfloß. Schon Herodot freilich bezeichnet das Kaspische Meer als Binnensee. Die Fläche des Kaspischen Meeres liegt bekanntlich etwas tiefer als die Meeresfläche, nämlich 26 Meter unter dem Spiegel des Schwarzen Meeres. Der Salzgehalt des Wassers beträgt im Durchschnitt etwa 1,4 vom Hundert (der durchschnittliche Salzgehalt von Seewasser ist etwas mehr als doppelt so hoch, nämlich 3,5 vom Hundert). In seichten, abgeschlossenen Buchten, wo die Verdampfung stark ist, steigt der Salzgehalt bedeutend höher, so z. B. im Karabugasgolf auf 17 vom Hundert.
Zu Hause erwarteten mich meine Gastgeber. Samursky, Korkmasow und ich frühstückten zusammen. Die Frau des Hauses bot uns den Kaffee; wir aßen grünen Kaviar, frische Eier, Weizenbrot, Butter und vortrefflichen Dagestankäse. Ein besseres Frühstück konnte man sich nicht wünschen. Da ich leider weder türkisch noch russisch kann, mußte ich meine Unterhaltung mit Samursky und seiner Frau durch Vermittlung meines russischen Dolmetschers Quisling oder durch Vermittlung Korkmasows führen, der ausgezeichnet französisch spricht.
Die Sprachverhältnisse Dagestans sind ja, wie ich oben beschrieb, sehr verwickelt. Samursky und Korkmasow sprachen offiziell turski-kumückisch, konnten aber beide auch russisch.
Samursky ist ein verhältnismäßig junger Mann, offenbar aus dem Volk emporgestiegen. Er scheint keine besondere Ausbildung genossen zu haben, hat auch kein tieferes Interesse für Gelehrsamkeit im allgemeinen, desto stärkeres für alles, was das praktische Leben angeht. Er versteht keine westeuropäische Sprache, kann aber so gut russisch, daß er im Jahre 1925 ein Buch über Dagestan in russischer Sprache herausgeben konnte. Er ist ein kluger Mann, wahrscheinlich auch ein guter Redner und hat offenbar großen Einfluß auf die Bevölkerung. Er ist süddagestanischer Lesghier, seine Muttersprache ist also lesghisch. Von Haus aus heißt er Effendi, Samursky ist nur ein angenommener Name. Vor dem Umsturz stand er noch nicht in der revolutionären Bewegung. Dann war er mehrere Jahre lang Präsident des Zentral-Exekutivkomitees von Dagestan. Seit 1929 gehört er dem Obersten Volkswirtschaftsrat in Moskau an. Er ist eine eigenartige, ganz uneuropäische Erscheinung: kaum mittelgroß, untersetzt, kurzhalsig und ausgesprochen kurzschädlig. Die eigenartige Schädelform wird noch besonders dadurch hervorgehoben, daß der Schädel nach lesghischer Art glatt rasiert ist. Der Kopf erinnerte mich sehr an den armenischen Typ. Die rückwärtige Linie steigt vom Nacken gerade auf, der Hinterkopf fehlt fast ganz, der Scheitel ist hoch, die Linie vom Ohr zum Scheitel sehr lang, die Stirn hoch und fliehend, die Nase leicht gekrümmt, Mund und Kinn weichen zurück. Diese Kopfform findet man bei vielen kaukasischen Stämmen. Das kluge Gesicht zeigt einen beinahe jovialen Ausdruck, es ist glattrasiert und mittellang, die Stirn ist verhältnismäßig schmal, die Augen stehen weit auseinander, der Mund ist entschlossen.
Korkmasow ist ein Kumücke aus Kum-Tor-Kale in der Nähe von Machatsch-Kalá. Er sieht mehr europäisch aus. Das geweckte Gesicht und die Stirn sind breiter, das Haar grau und gewellt. Er ist schon bei Jahren, aber größer und schlanker von Gestalt als Samursky. Seine Muttersprache ist turski-kumückisch. Das ist die weitestverbreitete Sprache im Land und neben dem Russischen anerkannte Verkehrssprache. Korkmasow ist außerordentlich klug und hat eine gute Ausbildung genossen. Er ist von Haus aus Jurist und auch allgemein belesen. Vor der Revolution hielt er sich lange Zeit hindurch als politischer Flüchtling in Paris auf.
Machatsch-Kalá ist eine Stadt von reichlich 30 000 Einwohnern. Es wurde 1844 gegründet, nachdem im Jahre vorher das drei Kilometer entfernt liegende russische Fort Nizowoje im Schamylkrieg zerstört worden war. Damals wurde die Stadt nach Peter dem Großen Petrowsk genannt. Zar Peter war nach seinem unglücklichen Feldzug gegen die Perser am 12. August 1722 hierhergekommen, hielt seinen feierlichen Einzug in Tarku, der Hauptstadt des kumückischen Schamchals (Fürsten), und kehrte drei Tage später in sein Feldlager an der Küste zurück. Dort unten am Meer trug er einige Steine auf einen Fleck zusammen, sein Gefolge legte weitere Steine dazu, und so entstand ein Steinhaufe an der Stelle, wo mehr als 100 Jahre später die Stadt Petrowsk emporwuchs. Am Tage danach zog Zar Peter an der Spitze seines Heeres nach Derbent, von dort mußte er bald darauf nach Rußland zurückkehren, weil die Flotte, die mit Verpflegung und Kriegsgerät folgen sollte, unterwegs vom Sturm vernichtet worden war. Am 13. Dezember zog er als Triumphator in Moskau ein.
Heute trägt Petrowsk den Namen eines Mannes, der gegen das Zarentum gekämpft hat. An der Stelle, wo die Stadt erbaut ist, war früher der Hafen von Tarku (Tarki), das vier Kilometer südlich im Hinterland liegt. Die Reede von Machatsch-Kalá ist durch zwei lange Molen geschützt.
Unser erster Besuch galt dem Museum. Dort bekamen wir einen Einblick in das Leben der Bergvölker. Sie sind, wie schon erwähnt, Mohammedaner, und zwar zum größten Teil Sunniten, haben also mehr Beziehungen zu den Türken als zu den Persern. Doch gibt es auch Schiiten unter ihnen. Die Muridenbewegung hatte unter anderm auch das Ziel, zwischen den beiden Richtungen zu vermitteln und den ganzen Islam wieder zu vereinigen. Davon wird später noch die Rede sein. Der religiöse Übereifer scheint seitdem abgeebbt zu sein, der Glaube und die Religionsausübung haben einen zeitgemäßen Zuschnitt bekommen. Diesen Eindruck gewinnt man wenigstens in der Hauptstadt und ihrer Umgebung. Die Frauen tragen weder im Haus noch auf der Straße Schleier und scheinen vor den Blicken der Männer keine besondere Scheu mehr zu haben. Die meisten Männer begnügen sich wohl mit einer Frau. Im Lande wird Wein angebaut und auch getrunken, obwohl der Muridismus den Weingenuß bekämpft. Wir bemerkten im allgemeinen in diesen Dingen keinen besondern Unterschied gegenüber unsern europäischen Lebensgewohnheiten. Kein Muezzin rief zu den Gebetstunden, nirgends sahen wir Männer bei religiösen Verrichtungen, etwa beim Abendgebet um Sonnenuntergang. Sonst ist das ja für den rechtgläubigen Muselmann unverbrüchliche Pflicht. Vielleicht hat der Bolschewismus, der ja jede Religion abzuschaffen bestrebt ist, hier schon starken Einfluß ausgeübt.
Das Museum spiegelte im wesentlichen die Geschichte Dagestans. Es machte geradezu den Eindruck eines Heiligtums zur Erinnerung an Schamyl, den Propheten des Landes und Widersacher Rußlands. Da waren Bilder aus seinem abenteuerlichen Leben, sein Säbel, sein Zaumzeug, der Sack, in dem er seinen Koran trug, die großen Ordenssterne, mit denen er die Tapfersten seiner Muriden belohnte, und andere Denkwürdigkeiten.
Korkmasow erzählte begeistert aus dem abenteuerlichen Leben des großen Mannes und von der ungeheueren Macht, die er als der unbeugsame Verkünder Mohammeds über die Bergbewohner ausübte. Der Präsident berichtete auch von dem awarischen Helden Ehadschi-Murat, der elf Jahre lang gemeinsam mit Schamyl kämpfte und als sein bester Häuptling die Russen in ungezählten Schlachten aufs Haupt schlug. Schamyl aber, der mit dem Gedanken umging, seinen eigenen Bruder und andere nähere Verwandte, die awarischen Chane, zu ermorden, fürchtete Ehadschi-Murat und trachtete endlich sogar ihm selbst nach dem Leben. Ehadschi-Murat floh ins russische Lager, um Rache zu nehmen. So vollzog sich sein Schicksal zwischen dem religiösen Haß gegen die ungläubigen Russen, die Unterdrücker seines Volkes, auf der einen Seite, und der Pflicht zur Blutrache, dem Haß gegen Schamyl, der seine Angehörigen in der Gewalt hatte und zu töten drohte.
Das Museum besaß auch eine schön bebilderte Ausgabe der Novelle Tolstois über Ehadschi-Murat. – Während wir so durch die Räume wanderten, von deren Wänden Schamyls ernstes, grüblerisches Antlitz auf uns herabblickte, während unser Auge durch das Fenster über die Dächer und die grellbesonnte Ebene gegen die blauen Berge schweifte, die Heimat dieses freien Volkes, wanderten die Gedanken durch die Zeit zurück. Vor unserm Geist entrollten sich die bunten Schicksale dieser Stämme, die Gestalt des starken Mannes stand vor uns auf, dieses Propheten und Kriegshäuptlings, der 25 Jahre lang in unversöhnlichem Kampf gegen die täglich wachsenden Heere der Russen seine Zaubermacht ungebrochen aufrechterhalten konnte. Von allen Seiten angegriffen, hielt er dennoch stand, bis er sich endlich, verraten und verlassen, mit wenigen ihm gebliebenen Getreuen auf dem Berg Gunib (1859) ergab.
Von alters her war das Leben dieser Bergstämme nichts als Kampf, Fehde und Raubzug. Auf Kampf verstehen sie sich, an Ergebung denken sie nicht. Das mußten die Russen erfahren, so oft sie eines dieser Bergdörfer erobern wollten.
Als die Russen im Jahre 1832 das Tschetschenzendorf Ghermentschuk stürmten, waren zum Schluß nur noch drei Häuser übrig, in denen die Tschetschenzenkrieger sich erbittert verteidigten. Endlich gelang es den Russen, die Häuser in Brand zu stecken. Der Befehlshaber der russischen Truppe schickte einen Dolmetscher zu den Tschetschenzen hinüber und ließ ihnen günstige Übergabebedingungen anbieten. Die Verteidiger unterbrachen das Feuer und hörten sich den Vorschlag an. Nach einer Beratung von einigen Minuten trat ein halbnackter, vom Rauch geschwärzter Tschetschenze heraus und sagte: »Wir nehmen von den Russen keinen Frieden an, wir bitten nur darum, daß ihr unsern Familien Nachricht gebt, wir seien gestorben, wie wir gelebt haben, und wir hätten uns geweigert, das Joch der Fremdherrschaft auf uns zu nehmen.« Kaum hatte der Unterhändler ausgesprochen, da eröffneten die tschetschenzischen Schützen mit einer Salve das Feuer. Die Russen antworteten mit heftiger Beschießung, und bald standen die Häuser in hellen Flammen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die unheimliche Szene der Zerstörung und Vernichtung wurde nur durch den lohenden Brand beleuchtet. Die Tschetschenzen stimmten einen Todesgesang an, erst laut, dann leiser und immer leiser. Die Häuser brannten nieder, endlich stürzten die Mauern in sich zusammen und begruben 72 Tschetschenzen unter ihren Trümmern.
Ein tschetschenzischer Klagegesang schildert Hamsads letzten KampfJ. F. Baddeley: »The Russian Conquest of the Caucasus«, London 1908, S. 486 ff.. Hamsad befand sich mit einer Schar aus Ghich auf einem Plünderungszug jenseits des Terek in russischem Gebiet und wurde auf dem Heimweg von einer übermächtigen russischen Abteilung eingeholt. Hamsad und die Seinen töteten die geraubten Pferde und Rinder, türmten die Leichen zu einer Brustwehr auf und verschanzten sich dahinter. Die Russen schickten den Fürsten Kagherman als Unterhändler hinüber und forderten Übergabe. Hamsad aber antwortete:
»Ich bin nicht hierhergekommen, o Kagherman, weil es mir an Geld fehlt, ich bin gekommen, um den Tod des Ghasawát (heiligen Kriegs) zu finden. Wenn ich mich dir ergäbe, würden meine Leute in Ghich mich verhöhnen. – Wie ein Wolf, der müde und hungrig ist und dem Wald zustrebt, wie ein unbändiges, feuriges Pferd, das sich nach frischer, grüner Weide sehnt, so sehnen sich meine Gefährten nach dem letzten Kampf und dem Tod. Ich fürchte dich nicht, Kagherman, ich lache deiner Übermacht, Gott der Allmächtige ist unsere Hoffnung.«
Und wieder sprach Hamsad zu Kagherman: »Immer haben wir Beute und Gold gesucht. Heute aber, an diesem Tage, ist nichts so kostbar wie das schöne schwarze Pulver.«
Und wieder sprach er: »Gold, das ist heute nicht Geld. Der gute Feuerstein aus der Krim, der ist heute das reine Gold.«
Kagherman kehrte zum Befehlshaber der Russen zurück und berichtete ihm: »Hamsad will sich nicht ergeben.«
Hamsad zog sich in seine Verschanzung zurück und setzte sich im Kreise seiner Gefährten nieder. Die russischen Truppen rückten vor und gaben Feuer, Hamsad und seine Reiter antworteten.
Dicht war der Rauch, der von ihren Büchsen aufstieg, und Hamsad sprach: »Verflucht soll dieser Tag sein! Die Sonne brennt, und wir haben keinen Schatten als von unsern Schwertern.«
Und wieder sprach er: »Wie dicht der Rauch ist und wie finster der Tag. Uns leuchten nur die Feuerstrahlen aus unsern Büchsenläufen.«
Und abermals sprach Hamsad zu den Seinen: »Die Huris sehen aus dem Paradies auf uns herab, sie blicken aus den Himmelsfenstern und staunen über uns. Sie besprechen sich, wem jede von ihnen angehören will, und diejenige, die dem Tapfersten von uns zufällt, wird mit ihrem Geliebten prahlen, die aber dem weniger Tapferen zufällt, wird vor Scham erröten. Sie wird ihr Gitterfenster zuschlagen und sich abwenden. Wer aber von euch heute ein Feigling ist, des Antlitz möge schwarz werden, wenn er vor Gott hintritt.«
Hamsad aber dachte, während er so sprach, in seinem Herzen, daß der Tod über ihm sei. Keine Hoffnung war mehr in ihm.
Hoch am Himmel sah er die Vögel fliegen und rief ihnen zu: »Ihr Vögel der Luft, bringt unsere Botschaft und unsern letzten Gruß dem Naïb von Ghich, Achwerdi Mahomá. Grüßt auch die Schönen von uns, die zierlichen Bräute, sagt ihnen, unsere Brust ist ein Kugelfang für die Geschosse der Russen. Sagt ihnen, wie gern wir nach dem Tode auf dem Begräbnisplatz von Ghich liegen möchten, damit unsere Schwestern über unsern Grabhügeln weinen und alles Volk um uns trauere. Aber Gott schenkt uns diese Gnade nicht, die Seufzer unserer Schwestern werden nicht über unsere Leichen hinzittern, sondern das Heulen hungriger Wölfe wird über uns sein. Nicht die Scharen unserer Gesippten werden um uns versammelt sein, sondern Schwärme schwarzer Raben.
Meldet daheim, ihr Vögel, daß wir auf dem Tscherkessenhügel im Lande der Ungläubigen liegen, tot, und die blanke Klinge in der Hand. Die Raben hacken unsere Augen aus, und die Wölfe zerreißen uns in Stücke.«
Die Geschichte des Volkes ist eine einzige Bestätigung der Denkungsart und Lebensanschauung, die aus dieser Schilderung spricht. Sollte ein Volk, das aus solchem Stoff geschnitzt ist, nicht zu Höherem und Größerem taugen als zu Krieg und Vernichtung?
Ein kurzer Bericht über den Muridismus, jene religiöse Bewegung, in der die Bergstämme Dagestans und die Tschetschenzen sich zum Aufruhr gegen die Russen vereinigten, und eine Schilderung ihres heldenmütigen und zähen Kampfes gegen die Übermacht werden dem Leser erst das richtige Verständnis für diese Bergvölker vermitteln.