Fridtjof Nansen
Durch den Kaukasus zur Wolga
Fridtjof Nansen

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IX.
Über das Kaspische Meer nach Astrachan.

Quisling und ich wären gern noch recht lange in dem interessanten Lande und bei seinen liebenswürdigen Menschen geblieben. Aber unsere Zeit war abgelaufen. Der Dampfer, der uns über das Kaspische Meer an die Wolgamündung bringen sollte, verließ nachmittags den Hafen. Der Abschied wurde uns schwer. Unsere liebenswürdigen Freunde Samursky und Korkmasow und einige andere Mitglieder des Volkskommissariats brachten uns an Bord. Wir tauschten mit unsern Gastfreunden die letzten Grüße aus. Auf dem überfüllten Schiff war für unsere Bequemlichkeit aufs beste gesorgt. Vor der Abfahrt war noch eine Fülle von Geschenken für uns an Bord gebracht worden, würdig eines orientalischen Fürsten.

Das Schiff kam von Baku und war bis auf den letzten Platz mit Menschen besetzt, die nach Astrachan fahren wollten. Auch in Machatsch-Kalá kamen noch viele Reisende an Bord, die Landungsbrücke war schwarz von Menschen. An Deck türmten sich große Stapel von Heringstonnen. – Der Dampfer lief aus dem Hafen, unsere Freunde begleiteten uns noch im Schleppboot ein Stück weit und winkten uns das letzte Lebewohl zu. Machatsch-Kalá, die Ebene und die blaue Gebirgswand des Kaukasus, versanken hinter uns im Meer.

Der Dampfer war wieder eine neue Welt für uns. Die Reisenden waren wohl zum größten Teil Russen. Es fiel uns auch hier wieder, gegenüber dem kaukasischen Leben, die große Zahl der Frauen auf, und wir verglichen die freien Umgangsformen, das vollkommen kameradschaftliche Verhältnis zwischen Frauen und Männern mit der strengen Trennung der Geschlechter in den orientalisch beeinflußten Ländern. Alle Lebensalter waren unter den Reisenden vertreten. Wir hatten auch einige verliebte junge Paare an Bord, vielleicht machten sie ihre Hochzeitsreise.

Das Kaspische Meer ist hier, in seinem nördlichen Teil, ganz seicht, mit Ausnahme weniger Stellen nicht einmal zehn Meter tief. – Am Sonntagmorgen, dem 12. Juli, kamen wir in das noch seichtere Wasser vor dem Deltagebiet der Wolga. Hier wurden wir vom Schraubendampfer auf einen Raddampfer umgebootet, denn der durch das Delta gestochene Kanal ist nur zwei Meter tief. Die Meeresoberfläche war hier ganz mit dem gelbbraunen, schlammigen Süßwasser bedeckt, das leichter als Salzwasser ist und daher weithin an der Oberfläche sichtbar bleibt, ehe es sich mit dem Seewasser vermengt. – Die Fahrtrinne ist durch viele kleine Feuerschiffe gekennzeichnet. Wir begegneten einer Menge großer Leichter, sie sahen aus wie Inseln, auf denen kleine Häuser stehen. Oft zog ein einziger Schleppdampfer eine ganze Kette von Leichtern. Einige Schleppkähne führten ein viereckiges Raasegel, um auf der Fahrt nach Norden schneller vorwärts zu kommen. Wir überholten auch einige Zweimaster. Sie fuhren bei gutem Wind den gleichen Weg wie wir. Einige von ihnen hatten getrocknete »Wobla« geladen, die in großen Haufen an Deck gestapelt war. Der Anblick erinnerte mich an die norrländischen Jachten, die vor vielen Jahren noch den Dörrfisch nach Bergen brachten. Auch sie hatten ihre Ladung an Deck bis hoch über die Reling geladen. Wobla oder Rotauge ist der hier am häufigsten gefangene Fisch. Die ganze Bauernbevölkerung lebt von nichts anderm. Er heißt mit seinem zoologischen Namen Rutilus rutilus caspicus und ist eine Abart des gewöhnlichen Frischwasser-Rotauges Leuciscus rutilus. Das kaspische Rotauge unterscheidet sich vom gewöhnlichen Rotauge dadurch, daß es im Salzwasser lebt und ein Wanderfisch ist. Es kommt im ganzen Kaspischen Meer, besonders aber in dessen nördlichem Teil, vorDie hier und im folgenden mitgeteilten Angaben über die Fischerei sind dem ausgezeichneten Buch von Arvid Behning, »Das Leben der Wolga«, entnommen. Das Werk erschien als Band V der von Thienemann herausgegebenen Reihe »Die Binnengewässer«, Stuttgart 1928.. Der Fisch ist im geschlechtsreifen Alter 12 bis 36 Zentimeter lang und wiegt 70 bis 500 Gramm. Im Frühjahr, April oder Mai, ja schon während der Eisschmelze wandern die Rotaugen in ungeheueren Zügen zum Laichen ins Wolgadelta hinauf. Sie sind die wichtigste Beute der Fischerei. Der größte Teil wird leicht eingesalzen und dann auf Trockenplätzen von ungeheuerer Ausdehnung an Holzgestellen gedörrt. Die Ausbeute beträgt jährlich 600 Millionen bis eine Milliarde Fische, im Gewicht von 82 000 bis 150 000 Tonnen. Die Wobla ist billig und in getrocknetem Zustand leicht zu verfrachten. Sie und der Hering gehören in Rußland zu den allerwichtigsten Volksnahrungsmitteln.

Die niedrigen, flachen Inseln und Auen des Deltas zu beiden Seiten der Fahrtrinne waren mit frischgrünem Schilf bewachsen. Weiter abseits von den Ufern standen auf dem ganz flachen Küstenland einzelne Baumgruppen und Kirchdörfer. Nirgends liegt das Uferland erheblich über der Wasserfläche. Weit und breit ist der Boden von kleineren Flußarmen durchkreuzt, die Gegend ist sehr feucht und eine Brutstätte der Malaria. Erst weiter nördlich liegt das Land etwas höher über der Wasserfläche des Flusses, namentlich auf der linken Seite. Aber auch hier beträgt der Höhenunterschied nur wenige Meter. Der Fluß führte noch ziemlich viel Wasser; er sinkt aber im Spätsommer. Bei Astrachan pflegt der höchste Wasserstand Mitte Juni einzutreten. Dann sinkt das Wasser gleichmäßig bis zum September. Um diese Zeit ist der Wasserstand am tiefsten.

Je weiter der Weg flußaufwärts geht, desto größer werden die Ortschaften zu beiden Seiten. Sie rücken auch näher ans Ufer heran, namentlich auf dem Westufer des äußersten westlichen Deltaarmes, den wir hinauffuhren, stehen die Dörfer oft dicht am Fluß. Die niedrigen Häuser liegen oft weit verstreut, aus ihrer Mitte ragt die Kirche auf.

Große schwarze Entenvögel zogen über die schilfbewachsenen Ufer. Ihr Fleisch ist nicht eßbar, doch gibt es viele andere Entenarten, und die Gegend bietet reiche Gelegenheit zur Jagd auf Enten und Wildgänse. Bei mittlerem Wasserstand kann man viele Kilometer weit durch das Schilf des Deltas waten, besonders östlich von unserm Fahrtweg. Das Wasser reicht dann nur bis unters Knie. Das Schilf beherbergt eine Menge Wildenten und Gänse.

Das Fahrwasser ist auf dem ganzen Weg flußaufwärts sehr seicht und deshalb schwer schiffbar. Bei jeder Kursänderung muß man sich vor Sandbänken in acht nehmen. Die Fahrtrinne ist daher genau abgesteckt. Der Verkehr auf dem Fluß war lebhaft und nahm immer noch zu, je mehr wir uns Astrachan näherten. Man merkte, daß man auf dem Wege zu einem großen Handelsmittelpunkt war. Es wimmelte von Fischerbooten, und die Leichter zogen in langen Reihen hinter ihren Schleppern her. Manchmal waren drei Leichter am Bug wie mit einem Schlüsselring zu einem Bündel zusammengekettet, so daß sich bei der Fahrt die Achterenden auseinanderspreizten und das Wasser wild aufschäumte. Der Höhenunterschied der Ufer trat immer deutlicher hervor; im Westen hatten wir Hochufer, im Osten war das Land flach und sumpfig.

Unser Frühstücksplatz oberhalb Tarki. Von links nach rechts: der Verfasser, Korkmasow, Samursky, Ali Beg, Quisling, Der General.

Heringstonnen auf der Landungsbrücke von Machatsch-Kalá.

Astrachan. Der Turm über dem Eingang des Kremlin, links die Kathedrale, rechts die Ruinen des Basars.

Astrachan.

Gegen ½9 Uhr abends kamen wir mit einer halben Stunde Verspätung in Astrachan an. Wir verpaßten den Anschluß an den Personendampfer, der von hier weiter wolgaaufwärts fährt. Herr Tarchow, der Vorstand des Vollzugsausschusses für die Provinz Astrachan, kam zu unserer Begrüßung an Bord. Der örtliche Leiter des Schiffsverkehrswesens begleitete ihn. Die beiden Herren teilten uns mit, wir müßten in Astrachan Aufenthalt nehmen und auf das Schnellboot warten, das am nächsten Abend abfahren sollte. Wir konnten zwar um 10 Uhr noch ein gemischtes Personen- und Frachtschiff erreichen, aber die Fahrt würde sehr viel länger dauern. Das Schnellboot lag schon nebenan, und wir konnten also unsere Sachen gleich für den nächsten Tag hinüberbringen lassen. Es war ein sehr gut ausgestatteter geräumiger Raddampfer; wir bekamen die schönsten und größten Kabinen, die ich jemals auf einem Schiff gesehen habe. Die Kajüte war so hoch wie ein Hotelzimmer. Die Fahrt versprach angenehm zu werden.

Wir besuchten mit Herrn Tarchow und seinem Freund ein Sommertheater in einem Park. Vor vollbesetztem Hause wurde eine Operette gespielt. Während der langen Zwischenakte lustwandelten die Menschen im Park. Die meisten sahen aus, als gehörten sie den besser gestellten Arbeiterschichten an, die Frauen waren gut gekleidet.

Am nächsten Morgen, Montag, den 13. Juli, wurde uns ein Automobil für eine Rundfahrt durch die Stadt zur Verfügung gestellt. Astrachan hat 175 000 Einwohner und ist seit uralter Zeit einer der wichtigsten Handelsplätze weit und breit. Durch seine Lage an der Wolgamündung ist es der gegebene Durchgangshafen für allen Handel und Verkehr, der sich zwischen dem weitverzweigten Stromgebiet des ungeheueren Flusses und den Ländern am Kaspischen Meer abspielt. Das Verkehrsgebiet des Kaspischen Meeres selbst ist durch die transkaspische Eisenbahn, die es mit den reichen Ländern des Ostens verbindet, noch mehr erweitert. Astrachan ist zugleich der Mittelpunkt für die Fischerei im Wolgadelta und im nördlichen Teil des Kaspischen Meeres.

Die Chasaren hatten schon in den ersten Jahrhunderten n. Chr. die wichtige Handelsstadt Itil am rechten Ufer der Wolga, ungefähr zehn Kilometer oberhalb Astrachans, gegründet. Itil wurde Marktort und Treffpunkt der Kaufleute aus Byzanz und Bagdad, Armenien und Persien, von der Wolga, vom Don und vom nördlichen und westlichen Hinterland dieser Stromnetze. Nach dem Einfall der Araber in den Kaukasus im 7. Jahrhundert wurde Itil auch zur Hauptstadt des Chasarenreiches, weil Semender, das spätere Tarku, aufgegeben werden mußte. Itil war der Haupthandelsplatz für Wachs, Honig, Pelze und Leder. Diese Waren kamen die Wolga herab. Als die Juden aus Konstantinopel vertrieben wurden, wanderten sie nach Itil ab und entwickelten dort den chasarischen Handel. Sie verbreiteten in der Stadt auch ihre Religion im Wettbewerb mit der mohammedanischen und christlichen. Das chasarische Herrscherhaus selbst trat um das Jahr 740 zum Judentum über.

Die Chasaren waren die Vermittler zwischen Ost und West. Nach vielen wechselnden Geschicken wurde ihrer Macht durch das warägisch-russische Reich mit dem Sitz in Kiew eine Schranke gezogen. Als Ibn Fadhlân um 922 n. Chr. Itil besuchte, fand er noch eine große Stadt mit Bädern, Marktplätzen und 30 Moscheen. Aber der Gewerbefleiß im Lande war schon zurückgegangen, das Reich lebte von den recht unsicheren Zwischenhandelsgewinnen. In den Jahren 965 bis 969 wurden Itil, Semender und andere Städte von Swiatoslaw, dem Fürsten von Kiew, erobert. Seit der Zerstörung durch die Russen im Jahre 969 hieß die Stadt nicht mehr Itil, sondern Balanjar. Ende des 14. Jahrhunderts wurde sie von Tamerlan dem Erdboden gleichgemacht. Bald danach wurde Astrachan an der Stelle gegründet, wo es noch heute liegt. Die neue Stadt war Mittelpunkt eines tatarischen Chanats, bis sie im Jahre 1557 unter Iwan dem Schrecklichen von den Russen erobert wurde. Seit dieser Zeit ist Astrachan russisch. Im Jahre 1660 hielt die Stadt eine Belagerung durch die Tataren aus, 1670 wurde sie von Stenjka Rasin eingenommen. Peter der Große wählte Astrachan zum Hauptstützpunkt für seinen Feldzug gegen die Perser. Er ließ eine Schiffswerft anlegen und förderte den Aufstieg der Stadt nach Kräften. Bis auf den heutigen Tag laufen alljährlich viele tausend Schiffe den Hafen von Astrachan an, und die Stadt hat noch immer einen bedeutenden Ein- und Ausfuhrverkehr.

Der wichtigste Erwerbszweig der Stadt und ihrer weiteren Umgebung ist der Fischereibetrieb. Von ihm lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Der Kanal Kulum, eigentlich ein regulierter Seitenarm der Wolga, läuft mitten durch die Stadt. Er bietet mit der Unzahl von Booten an seinen Ufern ein märchenhaftes Bild. Auf dem Marktplatz herrschte ein reger Verkehr. Waren aller Art lagen in kleinen Buden, auf Tischen, ja sogar auf dem Erdboden zum Verkauf ausgebreitet. Die verschiedensten Völkertypen wimmelten hier durcheinander: Russen, Tataren, Kalmücken, Perser, Kirgisen. Im Gegensatz zum Verkehrsbild von Tiflis sahen wir hier Frauen als Händlerinnen und Käuferinnen.

Die höchste Bodenerhebung im Stadtbezirk trägt den Kremlin. Er ist von einer weißen Mauer mit Schießscharten und vielen Türmen umgeben. Innerhalb des Mauerringes steht die Kathedrale mit ihren fünf grünen Kuppeln. Die Straße, die vom Osten her zum Torturm des Kremlin führt, war in früheren Zeiten der große Basar. Jetzt liegt sie in Trümmern, ein Opfer der Revolutionskämpfe. Die Engländer bewarfen damals die Stadt aus fünf Flugzeugen mit Bomben und sollen schweren Schaden angerichtet haben. Auch an anderen Stellen der Stadt sahen wir zerstörte Häuser, ich glaube aber nicht, daß alle diese Verwüstung auf Rechnung der Engländer zu setzen ist.

Nach einem Besuch des tatarischen Basars, wo wir die Handwerker bei ihrer Arbeit beobachten konnten, fuhren wir zum Regierungsgebäude. Hier, wie in allen großen Verwaltungen der Sowjetrepublik, saßen in jedem Raum eine Menge Beamte, und es herrschte ein ununterbrochenes Hasten und Rennen. Ich habe mich oft gefragt, wie die Menschen in diesem Getriebe ordentliche Arbeit leisten können. Ich glaube, die Russen stellen gern mehr Leute in der Verwaltung an als wir, und der einzelne hat daher ein geringeres Arbeitsmaß zu bewältigen. Tarchow empfing uns, führte uns in die Staatsbank und ließ uns dort den Betrieb der Bank erklären. Die Staatsbank hat vor allem die Aufgabe, die Fischerei zu unterstützen. Den verschiedenen Fischereiunternehmungen mußten möglichst billige Darlehen beschafft werden. Die Behörden gehen davon aus, daß Wohlstand und Gedeihen des Gemeinwesens nur gefördert werden kann, wenn die private Unternehmungslust, namentlich auf dem Gebiet der Fischerei, unterstützt wird. Auf dem grünen Verwaltungstisch wurde uns ein Frühstück angeboten. Frischeren Kaviar als hier an seinem Ursprungsort wird man wohl nirgends bekommen können. Nachdem wir uns daran gütlich getan hatten, wanderten wir zu den Landungsbrücken an der Wolga und besichtigten die Fischkästen auf den Leichtern. Wir sahen lebende Fische aller Art in großen Mengen. Die schnalzenden Fische wurden mit Netzen aus dem Wasser geholt, und wenn der Käufer sein Stück ausgewählt hatte, warf der Händler die übrigen in den Kasten zurück. Der Stör war in verschiedenen Größen und in seinen beiden Arten Osetrina und Sevriuga vertreten. Ganz große Störe von der Art Beluga (Acipenser huso L.) sah ich nicht. Der Beluga wird bis zu fünf Meter lang und bis zu einer Tonne schwer. Früher fing man noch größere Störe bis zu zwei Tonnen GewichtÜber die hier erwähnten Fischarten vgl. A. Behning a. a. O., S. 74 ff.. Der Hausen oder Beluga liefert viel vortrefflichen Kaviar. Auch das Fleisch ist in frischem oder geräuchertem Zustand hochgeschätzt. Aus der Schwimmblase wird der Hausenblasenleim gewonnen. Der Belugastör lebt im Kaspischen oder Schwarzen Meer und wandert im Herbst in die Flüsse hinauf, um im Frühjahr dort zu laichen.

Er wächst sehr langsam, auch laicht er nur jedes zweite oder dritte Jahr. Er vermehrt sich langsamer, als er abgefischt wird, obgleich das Weibchen bis zu zweieinhalb Millionen Eier legt. In der letzten Zeit ist der Störbestand zurückgegangen. In der Wolga fängt man die Störe mit grobmaschigen Netzen. Das wichtigste Störfischwasser ist aber der nördliche Teil des Kaspischen Meeres. Vor dem Kriege wurden jährlich etwa 76 000 Störe im Gewicht von 44 000 Tonnen gefangen. Diese Beute lieferte 1200 Tonnen Kaviar.

Der Osetrinastör (Acipenser güldenstädti) ist viel kleiner als der Hausen. Er wird nur selten mehr als zwei Meter lang und wiegt bis zu 100 Kilogramm. Die meisten sind nur eineinhalb Meter lang und 15 bis 25 Kilogramm schwer. Der Osetrinastör kommt im ganzen Kaspischen Meer vor, wandert im Herbst flußaufwärts und laicht im darauffolgenden Mai. Er bevorzugt namentlich die Wolga. Jedes Weibchen legt 80 000 bis 100 000 Eier. Durch künstliche Brütung werden jährlich etwa 200 000 Fische gezüchtet. Die Jahresausbeute an Osetrinastören erreicht 300 000 bis 400 000 Stück oder 5000 Tonnen. Die Fischer holten für uns einen solchen Stör aus einem Kasten und nahmen ihn vor unsern Augen aus. Der Rogen lag in zwei langen, dicken Strähnen zu beiden Seiten der Bauchhöhlen. Dieser einzige Fisch mußte wohl zwei Kilogramm Kaviar ergeben. Der Kaviar wird in der Weise zubereitet, daß der Rogen so lange mit einem Stäbchen oder Löffel gerührt wird, bis alle Häutchen entfernt sind und jedes Rogenkorn freiliegt. In diesem Zustand ist der grüne Kaviar speisefertig. So erzielt er den höchsten Preis, namentlich der Belugakaviar, aber auch Osetrina- und Sevriugakaviar sind geschätzt. Der Osetrinakaviar wird gewöhnlich leicht gesalzen und gepreßt, weil er in diesem Zustand bester verfrachtet werden kann und sich ziemlich lange hält. Er ist im Handel als »Pajusnaja ikra« bekannt.

Der Sevriuga- oder Sternstör (Acipenser stellatus Pall.) ist bedeutend kleiner als der Osetrina; er erreicht nur selten die Länge von zwei Metern und das Zentnergewicht. Im allgemeinen wird er ein bis eineinhalb Meter lang und etwa zwölf Kilogramm schwer. Der Sternstör wandert zum Laichen größtenteils den Kura und den Uralfluß hinauf. Doch kommen auch viele Sternstöre in die Wolga. Die Laichzeit sind die Monate Mai und Juni. Ein Weibchen legt 35 000 bis 360 000 Eier. In letzter Zeit werden in der Wolga jährlich vier bis fünf Millionen künstlich ausgebrütete junge Fische ausgesetzt. Die Jahresausbeute in der Wolga und in den ihrem Delta unmittelbar vorgelagerten Gewässern des Kaspischen Meeres beträgt rund 600 000 Fische oder 2500 bis 3300 Tonnen. Vom Sternstör kommt der beste gesalzene Kaviar (»Pajusnaja«).

Zum Schluß muß ich noch einen andern Störfisch erwähnen, den Sterlet (Acipenser ruthenus). Er lebt überall in der Wolga vom Delta bis zum Oberlauf und ist ein ausgesprochener Süßwasserfisch. Er steht an Größe hinter den andern Stören zurück, denn er wird nur ein Meter lang und 16 Kilogramm schwer. Der Durchschnitt der gefangenen Sterlete ist nur 35 bis 55 Zentimeter lang. Der Sterlet gilt als der bestschmeckende Wolgafisch. Aus ihm bereitet man die berühmte »Ucha«-Fischsuppe, er wird aber auch gekocht, gebraten, kalt und geräuchert gegessen. Die Gesamtausbeute aus der ganzen Wolga beträgt jährlich etwa 32 Millionen Sterlete. Der Sterletkaviar ist nicht so wertvoll wie der Kaviar der andern Störarten. Er wird nur an Ort und Stelle, und zwar meistens frisch, das heißt ungesalzen, verbraucht.

Nach diesem Besuch der Fischerei brachte uns Herr Schwedow, der Vizepräsident des Vollzugsausschußes, mit einem kleinen Dampfboot zum andern Wolgaufer. Der Fluß war von Dampfern und Segelschiffen, Fischerbooten, Leichtern und Schleppern belebt. Wir legten am rechten Ufer bei einigen großen, langen Fischereihallen, richtigen Kühlhäusern, an. Die Kühlhäuser haben Doppelwände, die Zwischenräume werden im Winter bis ans Dach hinauf mit Eis gepackt. Das Eis schmilzt im Laufe des Sommers allmählich und hält die weiten Hallen so kalt, daß manchem von uns, die wir aus der Tageshitze kamen, zu kühl wurde. Wir konnten es nicht lange aushalten. Der Hering lag in großen Behältern unter dem Fußboden in der Salzlake. Es war die Ernte des vergangenen Frühjahrs. Hier lagerten 100 000 Pud oder 1640 Tonnen Fische. Die Hallen konnten aber bis zu 150 000 Pud fassen. Der Hering war fertig zur Verpackung in Tonnen und zum Versand nach ganz Rußland. Von jedem Lagerschuppen führte ein langer Steg oder eine Landungsbrücke schräg ins Wasser hinaus, um den frischen Fisch von den Booten herein- und den gesalzenen zum Verladen hinauszubringen.

Wir fuhren wieder über die Wolga zurück und dann in einen Seitenarm, der etwas nördlich von der Stadt nach Osten abzweigt. Unser Weg führte an großen Holzlagerplätzen vorüber, am Ufer lagen viele Holzstöße in Reih und Glied. Sie alle kommen vom Oberlauf der Wolga hierher. In dieser baumlosen Gegend ist Zimmerholz eine wertvolle Ware. Wir gingen unter der Eisenbahn hindurch und kamen zu zwei großen Eisfabriken und Gefrieranstalten. Die Wolga liefert im Winter genug Natureis für die Aufbewahrung des Herings. Dieses Natureis wird auf dem andern Flußufer verbraucht. Hier aber wird für die Aufbewahrung der wertvolleren frischen Fische künstliches Eis mit Maschinen erzeugt. Als Betriebsstoff verwendet man Mineralöl, woran das Land ja unendlich reich ist. Nur ein russisches Fischgefrierwerk wurde mit Dieselmotoren betrieben. Hier wurden jährlich 500 000 Pud oder 8200 Tonnen Frischfische verschiedener Art gefroren und aufbewahrt. Das Werk verarbeitet Beluga-, Osetrina- und Sevriugastör, Sterlete, verschiedene Frischwasserfische wie Barsche oder Sudak (Lucioperca lucioperca), Brachsen und viele andere. Früher gab es auch ein englisches Gefrierwerk, das mit ölgefeuerten Dampfmaschinen betrieben wurde und jährlich 250 000 Pud oder 4100 Tonnen Frischfische verarbeitete. Der Gefrierfisch wird während des ganzen Jahres in Kühlwagen auf der Eisenbahn über ganz Rußland verfrachtet.

Man riet uns, zum Besuch der großen Gefrierhallen Pelze anzuziehen, wir meinten aber, bei der drückenden Hitze könne eine kleine Abkühlung recht angenehm sein. Ich bereute sehr bald, daß ich dem Rat nicht gefolgt war, und verzichtete auf den Besuch der kühlsten Hallen. Quisling machte mit Todesverachtung alles mit, nachher gestand er mir aber, es sei doch entsetzlich kalt gewesen.

Die Gefrierwerke bekommen täglich frische Zufuhr von der Fluß- und Deltafischerei. Auf den Landungsbrücken herrschte reger Verkehr ungezählter Boote, die ihre Beute löschten. Sie brachten Barsche (Sudak), Osetrina- und Sevriugastör, Rotaugen, Heringe und Fische anderer Art.

Damit hatten wir die wichtigsten Wirtschaftszweige Astrachans kennengelernt und kehrten mit unserm kleinen Dampfboot, an den Kais entlang südwärts fahrend, zurück. Auf dem schattigen Deck unseres Schnelldampfers erwartete uns ein kühler Trunk, an dem wir uns von der erschöpfenden Tageshitze erholten.

 


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