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Vom 15. März bis 22. Juni 1895
Schon am 26. Februar hatte Dr. Nansen der Mannschaft officiell mitgetheilt, daß ich der Befehlshaber und Premierlieutenant Scott-Hansen der Zweite im Kommando der Expedition sein sollte. Vor seinem endgültigen Aufbruche am 14. März hatte er mir einen Brief mit einer Reihe von Instructionen eingehändigt, die schon früher in diesem Werke mitgetheilt worden sind.
Am Donnerstag, 14. März, um 11½ Uhr vormittags verließen Dr. Nansen und Johansen die »Fram« und traten ihre Schlittenreise an. Wir grüßten sie zum Abschied noch mit Flagge, Wimpel und Kanonensalut. Scott-Hansen, Hendriksen und Pettersen begleiteten sie bis zum ersten Lagerplatz, etwa 13 Kilometer vom Schiffe, und kehrten am nächsten Tage um 2½ Uhr nachmittags zurück.
Am Morgen hatten sie geholfen, die Hunde anzuschirren und vor die drei Schlitten zu spannen. In dem Gespann des letzten Schlittens befanden sich »Barnet« und »Pan«, die während der ganzen Zeit Todfeinde gewesen waren. Der kleine »Barnet«, der nur 17, 7 Kilogramm wog und einer der kleinsten Hunde war, war ein richtiger Raufbold und meist der Angreifer. Sie begannen wieder, sich zu beißen, und Hendriksen mußte »Barnet« eine tüchtige Tracht Prügel verabreichen, um ihn von dem andern zu trennen. Infolge dieses Kampfes war das letzte Gespann beim Aufbruch etwas zurück.
Die andern Hunde zogen inzwischen mit aller Kraft, und als die Prügelscene vorüber war und die Friedensstörer plötzlich zu ziehen begannen, schoß der Schlitten schneller dahin, als Johansen erwartet hatte, sodaß er zurückblieb und auf den Schneeschuhen tüchtig ausschreiten mußte. Scott-Hansen und die andern verfolgten die Schlitten mit den Augen, bis sie auf der endlosen Eisebene wie kleine schwarze Punkte in weiter, weiter Ferne aussahen. Nach einem letzten langen traurigen Blicke nach den beiden, die sie vielleicht niemals wiedersehen würden, legten sie die Schneeschuhe an und machten sich auf den Rückweg.
Zur Zeit des Aufbruchs der Schlittenexpedition lag die »Fram«, ungefähr nach Südost zu Ost gerichtet, auf 84° 4' nördlicher Breite und 102° östlicher Länge. Die Lage war kurz folgende: Das Schiff war mit einer leichten Neigung nach Steuerbord in ungefähr 8 Meter dickem Eise eingeschlossen und hatte also eine über einen Meter starke Eisschicht unter dem Kiel. An Backbord lag gegen die Schiffsseite hoch aufgethürmt ein Eisrücken, welcher sich der ganzen Länge des Schiffes entlang von Südsüdost nach Nordnordwest ausdehnte, hinten bis ungefähr zur Höhe der Rehling des Halbdecks hinaufreichte und ostwärts ein wenig von dem Schiffe abwich. In der Entfernung von ungefähr 150 Meter nach Nordwesten erstreckte sich in der Richtung von Süden nach Norden ein langer, ziemlich breiter Eishügel, der sogenannte Große Hügel, der stellenweise bis zu 7 Meter hoch war. Mitten zwischen der »Fram« und dem Großen Hügel befand sich eine neu gebildete offene Rinne von ungefähr 50 Meter Breite, während quer vor dem Buge in der Entfernung von 50 Meter eine alte Rinne war, die durch die Eispressungen geschlossen worden war, sich im Laufe des Frühjahrs aber wieder öffnete.
Auf dem Großen Hügel, der durch die heftige Eispressung am 27. Januar 1894 gebildet worden war, hatten wir unser Depot eingerichtet, und zwar an der dem Schiffe zugewandten Seite. Das Depot bestand aus aufgestapelten Blechkisten mit Proviant und sonstigen Bedarfsgegenständen und bildete sechs oder sieben kleine Hügel, die mit Segeltuch bedeckt waren. Außerdem waren hier unsere Schneeschuhe und Schlitten untergebracht. Auf halbem Wege zwischen dem Schiffe und dem Großen Hügel lag das Petroleumboot, das etwas weiter auf das Eis hinausgeschleppt werden mußte, als sich die neue Rinne gerade unter ihm geöffnet hatte. Endlich war noch unsere Schmiede dort. Sie befand sich an Backbord in ungefähr 30 Meter Entfernung etwas achterlicher als dwars vom Heck und war in die abfallende Seite des vorstehend erwähnten Eisrückens hineingebaut. Das Dach bestand aus einer Anzahl Spieren, auf welche Eisblöcke aufgethürmt worden waren. Darüber war eine Schicht Schnee geworfen worden, worauf das Ganze zusammengefroren war, sodaß es eine compacte Masse bildete. Als Thür diente eine Persenning.
Die erste und wichtigste Arbeit, an welche wir Hand zu legen hatten, war die Entfernung eines Theils des hohen Eisrückens an der Backbordseite, da ich befürchtete, daß, wenn die Eispressung anhalten sollte, das Schiff, anstatt aufwärts, hinab gedrückt werden würde, solange ein so hoher Eisrücken sich gegen die ganze Backbordseite stützte. Die Arbeit wurde am 19. März von der ganzen Mannschaft in Angriff genommen. Wir hatten fünf Schlitten mit je einem Kasten darauf, und an jedem Schlitten arbeiteten zwei Mann. Es waren gleichzeitig zwei Abtheilungen mit je einem Schlitten vorn und zwei Abteilungen hinten, die sich einander entgegenarbeiteten, während eine fünfte Abtheilung von zwei Mann und einem Schlitten einen Durchgang von 4 Meter Breite direct bis an die Mitte des Schiffes aushieb. Die Eisschicht, die auf diese Weise längs der ganzen Schiffsseite entfernt wurde, erreichte doppelte Mannshöhe, ausgenommen in der mittlern Passage, wo das Eis schon früher bis zur Tiefe von ungefähr 3 Meter entfernt worden war, theils im Hinblick auf einen möglichen Eisdruck gegen diesen niedrigsten Theil des Rumpfes, theils um die Treppe freizulegen, über welche die Hunde auf das Schiff oder von demselben liefen.
Das Fortschaffen des Eises begann am 19. März und war am 27. beendet. Der ganze Eisrücken an Backbord war dann bis zu solcher Tiefe entfernt, daß 2½ Planken von der Eishaut des Schiffes freilagen. Während dieser Arbeit war das Wetter ziemlich kalt und die Temperatur bis auf -38° und -40° C. gesunken. Jedoch ging alles gut und erfolgreich von statten, mit der einen Ausnahme, daß Scott-Hansen das Unglück hatte, sich die eine große Zehe zu erfrieren.
Der Doctor und ich arbeiteten an demselben Schlitten. Mein Tagebuch bemerkt: »Er hatte mich immer im Verdacht, schlechter Laune zu sein, und ich ihn.« Thatsache ist, daß ich die Gewohnheit habe, nicht gern zu plaudern, wenn ich eifrig mit einer Arbeit beschäftigt bin, während bei dem Doctor das Gegentheil der Fall ist. Als ich nach meiner Gewohnheit Stillschweigen beobachtete, glaubte der Doctor, ich sei schlechter Laune, und ebenso dachte ich, daß er schmolle, als er sich des Plauderns enthielt. Das Mißverständniß klärte sich jedoch auf, und wir lachten herzlich darüber.
Da die Abreise Dr. Nansen's und Johansen's Gelegenheit zu einer passendern Neuvertheilung der Quartiere bot, so zog ich in Nansen's Kabine, die wie die meine auf der Steuerbordseite lag. Steuermann Jacobsen, der bislang mit vier Mann von der Mannschaft in der großen Kabine an Backbord einquartiert gewesen war, erhielt meine Kabine zugewiesen, und in der Steuerbordkabine, wo vier Mann geschlafen hatten, blieben nur noch drei. Auch der Arbeitsraum erhielt seine frühere Ehre und Würde wieder. Dort waren im Laufe des Jahres die Glascylinder des Theerölofens zerbrochen worden; Amundsen ersetzte sie jetzt durch Essen aus Blech und brachte dünne Marienglasplatten über den Gucklöchern an. Nachdem der Ofen auf diese Weise reparirt worden war, wurde der Arbeitsraum zum belebtesten und behaglichsten Aufenthaltsorte im ganzen Schiffe. Nach Beendigung der verschiedenen Arbeiten beim Umstellen und Inordnungbringen der Sachen an Bord und im Depot war unsere nächste Sorge, uns hinten einen bequemen und passenden Zugang zum Schiffe durch die Herstellung eines tüchtigen Steges zu sichern, der aus zwei Spieren bestand, zwischen welche Bretter von Packkisten genagelt waren, an denen ein Tau als Geländer befestigt war.
Nachdem dies geschehen war, machten wir uns an die langen und mannichfachen Vorbereitungen für eine Schlittenreise nach Süden, für den (thatsächlich von keinem von uns als wahrscheinlich betrachteten) Fall, daß wir gezwungen sein sollten, die »Fram« zu verlassen. Wir bauten Schlitten und Kajaks, nähten Säcke für die Vorräthe, wählten den Proviant und andere nothwendige Dinge aus und wogen sie ab u. s. w. Diese Arbeit hielt uns lange in Thätigkeit.
Wir mußten uns auch mit mehr Schneeschuhen versorgen, da wir nur spärlich versehen waren. Gute starke Schneeschuhe müssen wir haben, mindestens ein Paar für jeden Mann. Aber woher sollten wir das Material dazu nehmen? An Bord ist kein Holz mehr zu finden, das sich zur Anfertigung von Schneeschuhen eignete. Allerdings hatten wir noch ein großes Stück Eichenholz zur Verfügung, allein es fehlte uns an einem geeigneten Werkzeug, um es zu spalten, da wir es mit den kleinen Sägen, die wir hatten, nicht zu zerschneiden vermochten. In unserer Verlegenheit nahmen wir unsere Zuflucht zu der Eissäge. Amundsen verwandelte sie, indem er sie in anderer Weise feilte, in eine Brettsäge; Bentsen fertigte Handgriffe hierzu an, und sobald sie fertig war, begannen Mogstad und Hendriksen den eichenen Balken in Stücke zu sägen. Anfänglich ging die Arbeit nur langsam von statten, da der größte Theil der Zeit von dem Feilen und Schärfen der Säge in Anspruch genommen wurde, allein allmählich ging es besser, und am 6. April war der Balken zur Anfertigung von Schneeschuhen in sechs Paar gute Bretter zerschnitten, die zeitweilig zum Trocknen in den Salon gelegt wurden. Da ich canadische Schneeschuhe für besser halte als norwegische, wenn es sich darum handelt, schwer beladene Schlitten über eine so rauhe und unebene Fläche zu schleppen, wie sie das Polareis bietet, so wies ich Mogstad an, zehn Paar canadische Schneeschuhe aus Ahornholz herzustellen, von dem wir ein Quantum an Bord hatten. Anstatt des Netzwerkes aus Renthierhaut spannten wir Segeltuch über die Rahmen; es thut dieselben Dienste, während es den Vortheil hat, daß es sich leichter repariren läßt. Mit den Schneeschuhen, die wir besaßen, unternahmen wir häufig Ausflüge, insbesondere Scott-Hansen und ich. Auf einer dieser Touren, auf welcher auch Amundsen, Nordahl und Pettersen uns begleiteten, trafen wir 6 Kilometer westlich vom Schiffe einen großen Eishügel, den wir wegen seiner Ähnlichkeit mit der Insel Lovunden, unweit der Küste von Helgeland, »Lovunden« nannten. Der Hügel hatte sehr schöne Abhänge zum Schneeschuhlaufen, und wir übten es dort nach Herzenslust.
Am 1. Mai hatten wir die für den täglichen Gebrauch bestimmten Schneeschuhe vollendet, und ich ertheilte Befehl, daß hinfort täglich, wenn das Wetter gut sei, von der ganzen Mannschaft Schneeschuhfahrten von 11 bis 1 Uhr gemacht werden sollten. Diese Schneeschuhläufe waren nach jedermanns Geschmack und zugleich nothwendig, nicht nur, weil sie lebhafte Bewegung in der frischen Luft boten, sondern auch um denjenigen, die weniger an Schneeschuhe gewöhnt waren, einen genügenden Grad von Sicherheit zu geben für den Fall, daß wir die »Fram« verlassen mußten.
Während wir mit der Entfernung des Eisrückens beschäftigt waren, war fortwährend viel Unruhe im Eise. Zwanzig Meter vom Schiffe hatte sich eine neue Rinne parallel mit der alten zwischen uns und dem Depot gebildet; außerdem hatte sich nach allen Richtungen eine Anzahl größerer und kleinerer Spalten geöffnet. Etwas später, in der Zeit vom 11. April bis zum 9. Mai, traten meist beträchtliche Störungen im Eise mit mehrern heftigen Pressungen in den Rinnen um das Schiff herum ein. Am Abend des erstgenannten Tages hatten Scott-Hansen und ich eine Schneeschuhfahrt nach Nordosten längs der neuen Rinne zwischen dem Schiffe und dem Depot unternommen. Auf dem Rückwege trat in der Rinne Eispressung ein, und wir hatten Gelegenheit, eine Pressung mit anzusehen, wie ich sie in gleicher Weise noch niemals erlebt hatte. Erst war da ein ganz schmaler Kanal, der parallel mit der Hauptrinne lief, die mit ungefähr 2/3 Meter dickem Eis bedeckt war. Darauf öffnete sich jenseits der ersten und parallel mit ihr laufend eine größere Rinne. Während der dann folgenden Eispressung krachten die Ränder mit solcher Heftigkeit gegeneinander, daß sie das Eis mit Gewalt nach unten drängten, sodaß wir es oft 5½-7 Meter tief unter Wasser sahen. Neugefrorenes Seeeis ist merkwürdig elastisch und biegt sich in staunenswerthem Grade, ohne zu brechen. An einer andern Stelle sahen wir, wie das neue Eis sich, ohne zu brechen, in großen wellenförmigen Erhöhungen gebogen hatte.
Am 5. Mai wurde die breite Rinne hinter dem Schiffe durch Eisdruck zusammengeschoben, und an ihrer Stelle bildete sich an Backbord, ungefähr 100 Meter vom Schiffe und nahezu parallel mit demselben, eine Spalte in dem Eise. Das Schiff befand sich also in einer andern Lage, insofern als die »Fram« nicht mehr mit einem einzigen soliden, zusammenhängenden Eisfeld in Verbindung stand und von demselben abhing, sondern durch mehr oder weniger offene Rinnen getrennt und an einer großen Scholle befestigt war, die täglich abnahm, sobald sich neue Spalten bildeten.
Die Hauptrinne hinter dem Schiffe fuhr während der zweiten Hälfte des April fort, sich mehr zu öffnen, und war am 29. sehr breit geworden. Sie dehnte sich nordwärts aus, soweit das Auge reichte, und zeichnete sich außerdem durch den dunkeln Widerschein aus, der darüber zu schweben schien. Sie erreichte wahrscheinlich ihre größte Breite am 1. Mai, als Scott-Hansen und ich sie maßen und fanden, daß sie dicht hinter dem Heck des Schiffes 900 und etwas weiter nördlich über 1432 Meter breit war. Wäre die »Fram« damals frei gewesen, so würde ich in der Rinne soweit als möglich nach Norden gegangen sein. Es war jedoch hieran nicht zu denken angesichts der Art und Weise, wie das Schiff vom Eise in die Höhe gehoben und mit Mauern umgeben worden war.
Schon am 2. Mai schloß sich die Hauptrinne wieder. Der Steuermann, Nordahl und Amundsen, die sich zufällig auf einer Schneeschuhfahrt längs der Rinne nach Süden befanden, waren Augenzeugen der Eispressung, die sie als einen großartigen Anblick beschrieben. Der frische südöstliche Wind hatte dem Eise beträchtlichen Antrieb gegeben, und als die Ränder des Eises sich mit erheblicher Geschwindigkeit und Wucht einander näherten, kamen zuerst zwei große vorstehende Zungen mit donnerartigem Krach miteinander in Collision; sie wurden im nächsten Augenblicke zu einem Hügel von ungefähr 7 Meter Höhe emporgeschoben, um bald darauf wieder zusammenzustürzen und mit gleicher Plötzlichkeit unter dem Rande des Eises zu verschwinden. Wo das Eis nicht in die Luft emporgedrängt wurde, pflegte ein Rand über oder unter den andern geschoben zu werden, während alle vorstehenden Zungen und Eisblöcke zu Tausenden von Bruchstücken zermalmt wurden, welche alle kleinen Ritzen, die von der vorhin so mächtigen Oeffnung übriggeblieben waren, ziemlich gleichmäßig füllten.
Unsere Drift nach Norden war während des ersten Monats fast gleich Null. Beispielsweise waren wir bis zum 19. April nicht mehr als 4 Breitenminuten (ungefähr 7½ Kilometer) weiter nach Norden gekommen. Ebenso trieben wir in derselben Zeit höchstens etwa 77 Kilometer nach Westen. Später machten wir bessere Fortschritte, aber jedenfalls bei weitem nicht so große wie im Jahre 1894. Am 23. Mai trug ich Folgendes ins Journal ein:
»Wir sind alle sehr neugierig darauf, zu sehen, was das Ergebniß unserer Drift im Frühjahr sein wird. Wenn wir bis zum Sommer oder Herbst nur 60° östlicher Länge zu erreichen vermöchten, dann glaube ich, daß wir sicher darauf rechnen können, im Herbst 1896 heimzukehren. Die Frühjahrsdrift ist in diesem Jahre beträchtlich weniger stark als im vorigen, wird aber vielleicht bis später in den Sommer hinein dauern. Wenn wir in diesem Jahre während der Zeit vom 16. Mai bis 16. Juni ebenso weit treiben sollten wie im vorigen Jahre, so würden wir 68° östlicher Länge erreichen; es wird jedoch nicht möglich sein, diese Länge so früh zu erreichen. Möglicherweise gelingt es uns auch in diesem Jahre, der starken Rückdrift im Sommer zu entgehen und statt dessen etwas vorwärts zu kommen; dies wird für uns um so besser sein. Das Eis ist nicht so stark durch Rinnen zerstückelt, als es voriges Jahr um diese Zeit war. Allerdings sind auch jetzt viele da, aber im vorigen Jahre konnten wir wegen der Rinnen uns überhaupt kaum darauf bewegen. Jetzt haben wir große Eisflächen vor uns, in denen kaum irgendwelche Oeffnungen zu finden sind.«
Um die Drift des Eises zu beobachten, stellten wir eine Art Logleine von 2-300 Meter Länge her, an deren Ende ein kegelförmiger offener Beutel aus lose gewebtem Stoff befestigt war, in welchem wir kleine Thiere fangen konnten. Unmittelbar über dem Beutel war ein Stück Blei an der Leine angebracht, sodaß ersterer selbst frei im Wasser nachschleppen konnte. Das Log wurde durch ein ziemlich weites Loch im Eise hinabgelassen, das während der kalten Jahreszeit offen zu halten eine höchst schwierige Aufgabe war. Mehreremal am Tage wurde die Leine untersucht und der Driftwinkel gemessen. Für diese Messung hatten wir einen mit einem Bleiloth versehenen Quadranten construirt. Hin und wieder pflegten wir die Logleine einzuholen, um zu sehen, ob sie noch in Ordnung sei, und zu sammeln, was der Beutel an kleinen Thieren oder sonstiger Beute enthalten mochte. In der Regel war der Inhalt unbedeutend und bestand nur aus einigen wenigen Exemplaren niedriger Organismen.
Ende Mai war die Frühjahrsdrift vorüber. Der Wind ging nach Südwest, West und Nordwest herum, und die Rückdrift oder Sommerdrift setzte ein, die jedoch nicht von langer Dauer war, da wir am 8. Juni wieder östlichen Wind mit guter Drift nach Westen hatten, sodaß wir am 22. auf 84° 31,7' nördlicher Breite und 80° 58' östlicher Länge waren; während der letzten Tage des Juni und des größten Theils des Juli war die Drift noch besser.
Ein Umstand, der die Einförmigkeit unserer Drift im Eise während des Winters und Frühjahrs 1895 noch vermehrte, war die große Seltenheit thierischen Lebens in diesem Theile des Polarmeeres. Wiederholt sahen wir lange Zeit hindurch nicht ein einziges lebendes Wesen; selbst die doch so weit umherschweifenden Eisbären ließen sich nicht sehen. Mit allgemeiner Freude wurde daher am Nachmittage des 7. Mai das Erscheinen eines kleinen Seehundes in einer neu geöffneten Rinne dicht bei dem Schiffe begrüßt. Es war der erste Seehund, den wir seit März erblickt hatten. Später sahen wir in den offenen Rinnen oft Seehunde derselben Art, doch waren sie sehr scheu, und es gelang uns erst spät im Sommer, einen zu tödten, der so klein war, daß wir ihn bei einer Mahlzeit vollständig verzehrten.
Am 14. Mai erzählte uns Pettersen, er habe einen weißen Vogel, seiner Meinung nach eine Elfenbeinmöve, nach Westen fliegen sehen. Am 22. sah Mogstad eine Schneeammer, die das Schiff umkreiste; von da ab wurden die Frühjahrsboten immer zahlreicher.
Unsere Jagdbeute blieb jedoch sehr spärlich. Erst am 10. Juni erlegten wir das erste Wild, indem es dem Doctor gelang, einen Eissturmvogel und eine Stummelmöve zu schießen. Allerdings ließ er diesen Heldenthaten verschiedene Fehlschüsse als Einleitung vorangehen, aber schließlich brachte er es doch fertig, die Vögel zu treffen und »Ende gut, alles gut«. Was den Eissturmvogel anlangt, war es eine aufregende Jagd, da der Vogel nur flügellahm geschossen war und in der offenen Rinne Zuflucht gesucht hatte. Pettersen war der erste, der sich hinter ihm her machte, gefolgt von Amundsen, dem Doctor, Scott-Hansen und der ganzen Hundemeute, bis es ihnen schließlich gelang, ihn zu bekommen.
Von da ab kam es täglich vor, daß wir Vögel ganz nahe sahen; um sie und auch Seehunde besser erlegen zu können, vertäuten wir unser Seehundsboot in der offenen Rinne. Das Boot war ausgerüstet mit Segel und Ballast, der aus einigen Eisenstücken von der Windmühle bestand, die wir hatten herunternehmen müssen. Schon am ersten Abend, nachdem das Boot zu Wasser gebracht worden war, unternahmen Scott-Hansen, Hendriksen und Bentsen eine Segelpartie in der Rinne, welche Gelegenheit die Hunde benutzten, sich eine ordentliche Bewegung zu machen. Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, dem Boote, wie es auf- und niederkreuzte, dem Rande der Rinne entlang zu folgen; es war eine schwere Arbeit für sie, sich immer neben dem Boote zu halten, da sie viele Umwege um die kleinern Rinnen und Buchten im Eise machen mußten und, wenn sie endlich keuchend und mit weit aus dem Halse heraushängender Zunge sich dem Boote genähert hatten, dieselbe Strecke nochmals zurücklegen mußten, wenn letzteres dann gerade wendete.
Am 20. Juni schossen der Doctor und ich je eine Grilllumme. Wir sahen auch einige Krabbentaucher, jedoch gingen die Hunde auf den Sport, den sie als eine willkommene Unterbrechung der anhaltenden drückenden Einsamkeit und Einförmigkeit betrachteten, so eifrig ein, daß sie uns voranstürmten und die Vögel verjagten, ehe wir zum Schuß kommen konnten.
Wie gesagt, hatten wir die Mühle herunternehmen müssen. Eines schönen Tages war die Welle unter dem obern Triebrad gebrochen und mußte entfernt und zur Reparatur nach der Schmiede gebracht werden. Pettersen schweißte sie zusammen, und am 9. Mai war die Mühle wieder in gutem Gebrauchszustand. Allein sie schliff sich sehr rasch ab, hauptsächlich in dem Räderwerk, sodaß sie nach der ersten oder zweiten Juniwoche fast unbrauchbar war. Wir rissen sie daher ab und verstauten alle Holz- und Gußeisentheile auf dem Eishügel an Backbord, mit Ausnahme einiger Stücke harten Holzes, die wir an Bord behielten und zur Anfertigung von Schlittenkufen und andern Dingen sehr brauchbar fanden.
Das Wetter war durch den ganzen März, April und Mai gut, mit schwachen östlichen Brisen oder Windstillen und in der Regel klarer Luft. Ein- oder zweimal drehte sich der Wind nach Süden oder Westen, jedoch waren diese Veränderungen stets nur von kurzer Dauer. Das beständige Wetter wurde uns schließlich geradezu zur Qual, da es zur Erhöhung der Langweiligkeit und Monotonie unserer Umgebung in hohem Maße beitrug und einen deprimirenden Einfluß auf unsere Stimmung ausübte. Gegen Ende Mai besserte es sich etwas, als wir eine Zeit lang eine frische westliche Brise hatten. Allerdings war dies conträrer Wind, aber es war doch eine kleine Abwechselung. Am 8. Juni drehte sich der Wind wieder nach Osten und nahm nunmehr an Stärke zu, sodaß wir am Sonntag, 9. Juni, einen halben Sturm aus Ostsüdost mit der Geschwindigkeit von 10,6 Meter in der Secunde hatten, den stärksten günstigen Wind, den wir seit langer Zeit gehabt hatten.
Es war erstaunlich, welche Veränderung ein einziger Tag mit gutem Wind in der Stimmung aller an Bord herbeiführte. Wer sich vorher träumerisch und theilnahmslos umherbewegt hatte, erwachte zu neuem Muth und Unternehmungsgeist. Jedes Gesicht strahlte von Befriedigung. Vorher bestand unsere tägliche Unterhaltung aus dem einsilbigen »Ja« und »Nein«; jetzt waren wir vom Morgen bis zum Abend voller Scherz, und überall hörte man Lachen und Singen und lebhaftes Geplauder. Und mit der Stimmung stieg auch unsere Hoffnung auf eine günstige Drift. Die Karte wurde immer wieder herausgeholt, und die Prophezeiungen pflegten zuversichtlich genug zu sein. »Wenn der Wind sich längere Zeit in dieser Richtung hält, werden wir an dem und dem Tage an dem und dem Orte sein. Es ist so klar wie Tageslicht, daß wir im Herbst 1896 zu Hause sein werden. Sehen Sie nur, wie wir bisjetzt hinaufgetrieben sind, und je weiter wir westlich kommen, desto schneller wird es gehen« u. s. w.
Die Kälte, die um Mitte März nicht über -40° C. betrug, hielt sich während des April stetig auf -30° und -25° C., nahm aber im Mai in verhältnißmäßig raschem Tempo ab, sodaß das Thermometer um die Mitte des Monats -14° und im letzten Theile nur -6° C. verzeichnete. Am 3. Juni – bis dahin der wärmste Tag – hatte sich in der Nähe des Schiffes ein großer Wassertümpel gebildet, obwol die höchste Temperatur an diesem Tage -2° betrug und der Himmel überzogen war. Als der Doctor und ich am 18. April nach einem passenden Stück Eis zur Bestimmung des specifischen Gewichts desselben suchten, fanden wir einen bemerkenswerthen Wassertropfen unter der vorspringenden Ecke eines durch Eispressung hoch hinaufgeschobenen großen Eisblocks. Er hing dort im Schatten und zitterte in der frischen Brise, obwol das Thermometer ungefähr 23° Kälte zeigte. »Der muß sehr salzig sein«, sagte ich und kostete ihn. Pfui, er war in der That salzig, furchtbar salzig, gleich der stärksten Salzlake.
Am 5. Juni stand das Thermometer zum ersten mal über dem Gefrierpunkt, nämlich auf +0,2° C. Dann fiel es wieder einige Tage und ging bis auf -6° C. hinab, stieg aber am 11. aufs neue bis auf ungefähr +2° C. u. s. w.
Die atmosphärischen Niederschläge während der erwähnten Periode waren höchst unbedeutend; nur hin und wieder sehr leichter Schneefall. Der 6. Juni bildete jedoch eine Ausnahme. Der Wind, der mehrere Tage aus Süden und Westen geweht hatte, ging während der Nacht nach Nordwesten herum und drehte sich am nächsten Morgen um 8 Uhr nach Nord, wobei eine frische Brise mit ausnahmsweise starkem Schneefall wehte.
In der Nacht zum 2. April sahen wir zum ersten mal die Mitternachtssonne. –
Eine der wissenschaftlichen Aufgaben der Expedition war die Untersuchung der Tiefe des Polarmeeres. Unsere Leinen, die schwach waren und sich für diesen Zweck nicht besonders eigneten, waren bald durch Reibung, Oxydation u. s. w. so abgenutzt, daß wir gezwungen waren, sie nicht nur mit der größten Vorsicht zu benutzen, sondern auch die Zahl der Lothungen viel mehr zu beschränken, als wünschenswerth war. Manchmal passirte es auch, daß die Leine während des Einholens brach, sodaß ein tüchtiges Stück von ihr verloren ging.
Die erste Lothung nach der Abreise Dr. Nansen's und Johansen's wurde am 23. April vorgenommen. Wir glaubten, in einem Zuge bis auf 3000 Meter auslaufen lassen zu können. Allein da die Leine bei 1900 Meter schlaff zu werden begann, so meinten wir, den Grund erreicht zu haben, und holten die Leine wieder ein. Als es sich dann aber zeigte, daß die Leine den Grund nicht erreicht hatte, ließen wir jetzt 3000 Meter aus, verloren dabei aber etwa 900 Meter Leine. Darauf hin nahm ich an, daß wir bei 2100 Meter den Grund berührt hätten, und ließ daher die Leine bis zu dieser Tiefe auslaufen, ohne aber Grund zu bekommen. Am nächsten Tage lotheten wir aufs neue bei Tiefen von 2100, 2300, 2500 und 3000 Meter, stets aber, ohne Grund zu erreichen. Am dritten Tage, 25. April, lotheten wir zuerst auf 3000 und dann auf 3200 Meter, ohne Grund zu finden. Da die Stahlleine zu kurz war, mußten wir sie mit einer Hanfleine verlängern und reichten nun bis auf 3400 Meter hinab. Beim Einholen merkten wir, daß die Leine brach, und fanden, daß wir außer 200 Meter Hanfleine ungefähr 500 Meter Stahlleine verloren hatten. Wir stellten das Lothen dann bis zum 22. Juli ein, weil die Hanfleinen so stark abgenutzt waren, daß wir sie bis zum Eintritt mildern Wetters nicht zu benutzen wagten. –
Wind und Wetter waren natürlich ein Lieblingsthema an Bord der »Fram«, namentlich in Verbindung mit unserer Drift. Wie es sich gehörte, hatten wir in der Person Pettersen's einen Wetterpropheten an Bord. Seine Specialität war die Vorhersagung günstigen Windes, und in dieser Beziehung war er unermüdlich, obwol seine Prophezeiungen sich keineswegs immer erfüllten. Aber er spielte sich auch in andern Beziehungen als Prophet auf, und nichts schien ihm mehr Vergnügen zu machen als das Angebot einer Wette mit ihm über seine Vorhersagungen. Gewann er, so strahlte er Tage lang in einem fort von guter Laune; wenn er aber verlor, wußte er sowol seine Vorhersagung als auch das Resultat meist in so orakelhaftes Dunkel zu hüllen, daß beide Parteien recht zu haben schienen. Zu zeiten war er, wie bereits angedeutet, unglücklich, und dann wurde er unbarmherzig gehänselt; zu andern Zeiten hatte er aber eine erstaunliche Reihe von Glücksfällen, worauf seine Courage dermaßen zu wachsen schien, daß er alles zu prophezeien und auf alles zu wetten bereit war.
Unter seinen großen Unglücksfällen befand sich eine am 4. Mai mit dem Steuermann abgeschlossene Wette, daß wir gegen Ende October Land in Sicht haben würden. Und am 24. Mai schloß er mit Nordahl eine Wette ab, daß wir am Abend des 27. Mai auf 80° östlicher Länge sein würden. Es braucht wol nicht gesagt zu werden, daß wir alle wünschten, seine unglaublichen Prophezeiungen möchten sich als wahr erweisen. Aber leider, das Wunder geschah nicht, denn erst am 27. Juni passirte die »Fram« den 80. Längengrad.
Während des letzten Theiles des Mai begannen Sonne und Frühjahrswetter in solchem Maße auf die um das Schiff liegende Schneeschicht einzuwirken, daß sich vorn auf dem Eise ein richtiger kleiner Teich von Schneewasser bildete. Da der Schnee besonders dort, aber auch längs der ganzen Seite des Schiffes voller Ruß, Abfälle und Mist aus den Hundeställen war, so befürchteten wir, daß ein schädlicher oder doch unangenehmer Geruch entstehen könnte und außerdem, wenn sich wie im vorigen Jahre ein Teich um das Schiff bilden sollte, sein Wasser zu unrein sein würde, um es zum Abspülen zu benutzen. Ich ließ daher alle Mann ans Werk gehen, den Schnee von der Steuerbordseite fortzuschaffen, eine Arbeit, die ungefähr zwei Tage in Anspruch nahm.
Der beginnende Frühling gab uns jetzt längere Zeit Beschäftigung mit verschiedenen Arbeiten sowol an Bord wie auf dem Eise. Eins der ersten Dinge, die geschehen mußten, war, unser Depot zur Sicherheit an Bord zu bringen, da sich jetzt häufiger Rinnen und Spalten im Eise bildeten und einige der Waaren im Depot keine Feuchtigkeit vertragen konnten.
Die Wirkung der Sonnenstrahlen auf das Zeltdach wurde bald so stark, daß der Schnee unter den Booten und auf den Davits zu schmelzen begann. Schnee und Eis mußten daher gänzlich entfernt und fortgekratzt werden, nicht nur unter dem Zeltdach, sondern auch unter den Booten, auf dem Deckshause, in dem Durchgange an Steuerbord und in den Räumen und wo es sonst nöthig war. Im Hinterraum war jetzt viel mehr Eis als im vorigen Winter, wahrscheinlich weil wir in diesem Winter den Salon viel wärmer gehalten hatten als früher.
Im Salon, in der Bibliothek und den Kabinen nahmen wir eine gründliche Frühjahrsreinigung vor, die sehr nothwendig war, weil Decken, Wände und alle Mobiliar- und Ausrüstungsgegenstände im Laufe der langen Polarnacht sich mit einer aus Ruß, Fett, Rauch und andern Ingredienzien bestehenden dicken isabellfarbigen Schmutzkruste bedeckt hatten.
Ich selbst nahm die Reinigung der Bilder im Salon und in meiner eigenen Kabine vor, da diese allmählich dieselbe dunkle Grundfarbe angenommen hatten wie ihre Umgebung, und im ganzen ziemlich räthselhaft aussahen. Mit Hülfe von viel Arbeit und Anwendung von reichlich Seife und Wasser gelang es mir, ihnen einigermaßen zu ihrer frühern Schönheit zu verhelfen.
Am Pfingstvorabend, 1. Juni, hatten wir unsere Generalreinigung beendet, sodaß wir ein wirklich behagliches Pfingstfest mit Buttersuppe zum Abendessen und einigen Extradelicatessen zum Nachtisch feiern konnten.
Nach Pfingsten beschäftigten wir uns wieder mit Verschiedenem, was die Jahreszeit sowie die Möglichkeit, daß die »Fram« im Laufe des Sommers flott werden könnte, mit sich brachte. Auf dem Großen Hügel lagen noch viele Gegenstände, die, wie ich glaubte, vorläufig dort bleiben konnten, wie z. B. der größere Theil des Hundefutters. Die Kisten, die dasselbe enthielten, waren in vier Haufen aufgestapelt, sodaß sie ein abfallendes Dach bildeten, auf welchem das Wasser bequem ablaufen konnte, zumal ich das Ganze mit Persenningen überdeckt hatte. Das Großboot an der Backbordseite, das ich bis zum Winter auf dem Eise zu belassen beabsichtigte, wurde an einer sichern Stelle, etwa 50 Meter vom Schiffe, niedergelegt und mit Segeln, Takelung, Rudern und voller Ausrüstung versehen, um für jeden Nothfall bereit zu sein.
Das Abkratzen des Eises in den Räumen und auf dem Halbdeck wurde am 12. Juni beendet. Wir versuchten auch, hinten das Dampfrohr (das Rohr für das Spülwasser) aus dem Eise loszuhauen, mußten den Versuch aber aufgeben. Das eine Ende des Rohres hatte schon seit vorigem Jahr auf dem Eise geruht und war jetzt so tief eingefroren, daß wir es nicht freimachen konnten. Wir schlugen rundherum ein über ein Meter tiefes Loch, das sich jedoch rasch mit Wasser füllte, sodaß wir es der Sommerhitze überlassen mußten, das Rohr los zu thauen.
Im Maschinenraum hatte sich bis dahin so viel Wasser angesammelt, daß wir beträchtliche Mengen – gewiß 600 Liter täglich – ausschöpfen konnten. Anfänglich glaubten wir, das Wasser sei durch das Aufthauen des an Bord befindlichen Eises entstanden, später zeigte sich jedoch, daß es hauptsächlich von lecken Stellen herrührte, die wahrscheinlich dadurch entstanden waren, daß das Eis, welches sich in den verschiedenen Schichten der Eishaut bildete, die Beplankung etwas auseinandergetrieben hatte.
Der Gesundheitszustand blieb ausgezeichnet, und der Doctor hatte in seiner Eigenschaft als Arzt thatsächlich nichts zu thun. Was »Unfälle« anlangte, so kamen nur einige wenige unbedeutendster Art vor, wie eine erfrorene große Zehe, hin und wieder eine geringe Hautabschürfung, ein- oder zweimal ein schlimmes Auge; das war alles. Wir führten aber auch ein sehr regelmäßiges Leben, in welchem die Tagesstunden in geeigneter Weise zwischen Arbeit, Bewegung und Ruhe vertheilt waren. Wir schliefen gut und aßen tüchtig und waren daher sehr wenig bekümmert darüber, daß wir beim Wiegen am 7. Mai fanden, daß wir an Gewicht verloren hatten. Die Abnahme war jedoch nicht bedeutend; das Gesammtgewicht der ganzen Gesellschaft betrug kaum 3½ Kilogramm weniger als einen Monat vorher.
Eine Krankheit gab es jedoch, an welcher wir litten, eine ansteckende, wenn sie auch nicht gefährlicher Natur war. Es wurde an Bord der »Fram«, wenn man will, zur Modekrankheit, sich den Kopf rasiren zu lassen; es sollte ein untrügliches Mittel sein, um einen üppigen Haarwuchs hervorzubringen. Juell brachte es auf, und dann wurde es eine regelrechte Manie, indem die Uebrigen seinem Beispiele folgten, mit Ausnahme von mir und einem oder zwei andern. Als vorsichtiger General wartete ich erst eine Weile, um zu sehen, ob die erwartete Ernte auf den geschorenen Köpfen meiner Kameraden sprießen würde. Als aber das Haar nicht stärker als vorher wuchs, zog ich ein mir vom Doctor verschriebenes Mittel vor, nämlich den Kopf täglich mit weicher Seife zu waschen und dann mit einer Salbe einzureiben. Um diese Behandlung jedoch wirksamer zu machen und die Salbe in die Kopfhaut gelangen zu lassen, folgte ich doch noch dem Beispiel der andern und ließ mir den Kopf ebenfalls mehreremal rasiren. Persönlich glaube ich nicht, daß das Verfahren etwas genützt hat, allein Pettersen war anderer Ansicht. »Hol' mich der Teufel«, sagte er am nächsten Tage, nachdem mir das Haar geschnitten war, »wenn der Kapitän nach dieser Kur nicht einige frische starke Borsten auf seiner Platte bekommen hat.«
Der »Siebzehnte Mai« brachte uns das schönste Wetter. Klarer, heller Himmel, blendender Sonnenschein, 10-12° Kälte und fast vollständige Windstille. Die Sonne, die zu dieser Zeit des Jahres niemals untergeht, stand schon hoch am Himmel, als wir um 8 Uhr morgens durch einen Kanonenschuß und Festmusik auf dem Harmonium erweckt wurden. Wir schlüpften rascher als gewöhnlich in die Kleider, frühstückten hastig und bereiteten uns in lebhaftester Erwartung auf das Kommende vor, da das »Festcomité« am Tage vorher sehr geschäftig gewesen war. Pünktlich um 11 Uhr versammelten sich die verschiedenen Corporationen mit ihren Flaggen und Insignien und wurden an ihren Platz in dem großen Festzuge gewiesen. Ich marschirte mit der norwegischen Flagge an der Spitze; dann kam Scott-Hansen mit dem Wimpel der »Fram«, darauf folgte Mogstad mit dem Banner der meteorologischen Abtheilung, reich bedeckt mit »Cyclonen-Centren« und »Aussichten auf schönes Wetter«. Er saß auf einer mit einem Bärenfell bedeckten Kiste, die auf einem von sieben Hunden gezogenen Schlitten stand; das Banner wehte hinter ihm an einer als Mast aufgetakelten Stange. Amundsen war Nummer 4 und trug ein Demonstrations-Banner zu Gunsten der »Reinen Flagge«, ihm folgte sein Schildknappe Nordahl auf Schneeschuhen, einen Speer in der Hand und eine Büchse auf dem Rücken. Seine Flagge zeigte auf rothem Grunde das Bild eines alten norwegischen Kriegers, der seinen Speer über dem Knie zerbricht, mit der Inschrift: »Vorwärts! Vorwärts! (Fram! Fram!) ihr Norweger! Eure eigene Flagge in Eurem eigenen Lande! Was wir thun, thun wir für Norwegen!« Als fünfter in dem Festzuge kam der Steuermann mit dem norwegischen Wappen auf rothem Grunde; Sechster war Pettersen mit der Flagge der Mechaniker-Abtheilung, und zuletzt kam das »Musikcorps«, dargestellt von Bentsen mit einer Handharmonika. Dem Festzuge folgte das Publikum in Festtagskleidern, nämlich der Doctor, Juell und Hendriksen in malerischer Unordnung.
Mit wehenden Bannern und unter den Klängen der Musik nahm der Festzug seinen Weg um die Ecke der »Universität« (die »Fram«), durch die »Karl-Johann-Straße«, die »Kirchenstraße« (eine von Scott-Hansen für diese Gelegenheit angelegte Straße über die Rinne vor dem Großen Hügel) hinab, bei »Engebret« (das Depot auf dem Eise) vorbei und schwenkte dann herum nach dem »Festungs-Platz«, Alles in Christiania wohlbekannte Lokalitäten. Engebret ist ein Restaurant.dem Gipfel des Großen Hügels, wo der Zug halt machte und die Flaggen aufgepflanzt wurden.
Dort forderte ich zu einem Hoch zu Ehren der festlichen Gelegenheit auf, worauf die dichtgedrängte Menge ein neunmaliges donnerndes Hurrah erschallen ließ.
Genau um 12 Uhr wurde aus unsern großen Buggeschützen der officielle Salut für den Siebzehnten Mai abgefeuert. Dann kam ein prächtiges Festmahl; der Doctor hatte eine Flasche Liqueur gestiftet, und jeder Mann bekam außerdem eine Flasche echten Kronen-Malzextract aus der »Königlichen Brauerei« in Kopenhagen.
Als der Braten servirt war, brachte Scott-Hansen das Wohl unserer Lieben zu Hause und unserer zwei abwesenden Gefährten aus, die, wie er hoffe, die Aufgabe, die sie sich gestellt hatten, erfüllen und wohlbehalten in die Heimat zurückkehren würden. Dieser Toast wurde von einem Salut von zwei Schüssen begleitet.
Um 4 Uhr nachmittags wurde das große »Volksfest« auf dem Eise abgehalten. Der Festplatz war hübsch mit Flaggen und Emblemen geschmückt, und das Programm bot eine reiche Auswahl von Unterhaltungen dar. Da waren Seiltanz, Gymnastik, Schießen nach laufenden Hasen und viele andere Nummern. Das Publikum war durchgängig in hoher Feststimmung und spendete den Künstlern für ihre Leistungen nach Kräften Beifall. Nach dem Abendessen, das an Vortrefflichkeit kaum hinter dem Mittagessen zurückblieb, versammelten wir uns im Salon um eine dampfende Punschbowle. Der Doctor brachte unter lautem Beifall ein Hoch auf das Festcomité aus und ich eines auf die »Fram«. Später blieben wir in fröhlichster, kameradschaftlichster Stimmung noch bis tief in die Nacht hinein beisammen.