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Dieser Winter ...

In diesen Winter geht Deutschland nur noch mit zwei organisierten Mächten: mit dem Militarismus und mit der katholischen Kirche. Alles andre ist entweder in Auflösung begriffen oder sucht durch große Gestikulation über die innere Hilflosigkeit hinwegzutäuschen. Die Sozialdemokratie hat keine runde Gestalt mehr, der Erdrutsch an ihren Grenzen hat begonnen. Die Gewerkschaften leiden mehr und mehr unter der wachsenden Arbeitslosigkeit; die widerstandslose Hinnahme arbeiterfeindlicher Schiedssprüche raubt ihnen das Vertrauen auch ihrer alten Mitglieder. Die Banken, bis vor wenigen Monaten noch Kultstätten des Kapitalismus, werden vom Publikum mit höchstem Argwohn betrachtet. Die Schwerindustrie, vor kurzem noch eine uneinnehmbare Stellung aus Eisenbeton, erweist sich bei zunehmender Krise als ein ganz gewöhnliches deutsches Klublokal, in dem ein Rudel von Bierphilistern sich als Union der starken Hand fühlt. Und wie steht es um die extreme Opposition? Die Kommunisten haben zwar ungeheuer gewonnen, wie jetzt wieder die Wahlen in Hamburg zeigen, aber sie schleppen den Widerspruch zwischen einer fremden Doktrin und den ganz anders gearteten deutschen Verhältnissen mit sich, und die dialektische Lösung dieses Widerspruchs ist bis jetzt noch nicht gelungen. Auch die Nationalsozialisten sind noch immer im Wachstum begriffen, aber ohne Ideen, ohne Führung – ein gewaltiger, unbehilflicher Kloß, der sinnlos in der Landschaft herumliegt und sich seines Umfangs freut. Alle alten Autoritäten haben abgewirtschaftet. Der Reichstag ist nur noch eine klappernde Jasagemaschine, die bei Funktionsstörungen der Verschrottung anheimfällt, die bürgerlichen Parteien von Hugenberg bis Dietrich sind nur noch ein einziger Komposthaufen, auf dem der maßgebliche Dingeldey mit komischem Ernst seinen Führerpart herunterkräht.

Zwei kompakte Mächte gibt es also nur noch: davon stellt die eine den Kanzler, die andre die erforderlichen Nahkampfmittel, um dessen Herrschaft zu sichern.

Wir wissen nicht, wie lange der Katholizismus einem sozialen Sturm standhalten kann. Die Stellung Brünings beruht ja nicht auf einem Kontrakt zwischen ihm und Deutschland sondern auf einem stillen Pakt mit den bürgerlichen und sozialistischen Fraktionsführern, weil ihnen ein konfessionell gebundener Politiker, der notfalls die Religion als letzte ideologische Etappe beziehen kann, geeigneter erscheint als ein Mann der konkreten Partei- und Klasseninteressen.

Und wir wissen noch viel weniger, wie sich die Wehrmacht bei einem von rechts kommenden Stoß verhalten würde. Vielmehr, wir wissen es ziemlich genau, aber wir wollen lieber nicht darüber reden.

Die Gefahr dieses Winters liegt also nicht in den bewußten und geplanten Umsturzversuchen von rechts und links. Hier sind die innern Explosivkräfte noch stark gefesselt. Noch immer ist der Umsturz bei der Reichsregierung monopolisiert, die auf dem Verordnungswege mit den Verfassungsparagraphen alle Neune wirft, während die unglücklichen Sozialdemokraten wie nervöse Kegeljungen, von allen Seiten angeschnauzt, über die Bahn stolpern. Die wirkliche Gefahr liegt in spontanen Volksaufständen, die von niemandem angezettelt und begünstigt, plötzlich losbrennen können. Entwickeln sich erst hier und dort Hungerrevolten, von politischen Parolen umflackert, dann müssen sich die radikalen Parteien wohl oder übel entscheiden. Dann müssen sie die Führung übernehmen, wenn die Bewegung nicht über sie hinweggehen soll.

Von diesem Risiko weiß der Reichskanzler gewiß mehr als die meisten Mitglieder seines Kabinetts. Er fürchtet den Ansturm der Unternehmer gegen das Lohnniveau und gegen die Sozialversicherung; hier ist die Stelle, wo zwei Klassen zusammenprallen müssen und aus unterdrückten Arbeiterinteressen unmittelbar revolutionäre Politik flammen kann. Aber wie will Brüning dem vorbeugen? Er will den Staat herausziehen und die Auseinandersetzung den Beteiligten selbst überlassen. Soeben wird offiziös verlautbart, daß die nächsten Notverordnungen nur »die dringenden finanzpolitischen Fragen regeln«, aber nicht an das heiße Eisen der Löhne rühren wollen. Es soll eine Art Arbeitsgemeinschaft aufgebaut werden, »die die Lohn- und Tarifstreitigkeiten durch direkte Vereinbarungen ohne Eingreifen der staatlichen Instanzen« ordnet. Das hört sich recht großartig an und heißt im Grunde doch nur, daß der Staat sich vor der brennendsten sozialen Frage drückt und daß er nicht in die Verlegenheit kommen möchte, etwas Autorität gegen die Unternehmerschaft anwenden zu müssen. Der Staat will seine Hände in Unschuld waschen, Arbeitervertreter sollen selbst der Herabsetzung der Löhne zustimmen. Heute beugen sich noch Gewerkschaftsführer ratlos und zähneknirschend vor Schiedssprüchen, die sie nachher vor ihren Leuten vertreten müssen. Aber sie können sich noch immer damit salvieren, daß man sich, so bitter es sein mag, den Gesetzen beugen muß und daß Tarifbruch katastrophale Folgen nach sich zieht. Aber daß Gewerkschaftsmänner in gemischten Körperschaften, die zunächst auf nichts anderm beruhen als auf der Empfehlung des Staates, unter eigner Verantwortung die Schädigung der von ihnen Vertretenen beschließen, das ist ganz unmöglich. Solche Funktionäre kann man selbst unter den heutigen zahmen sozialistischen und christlichen Gewerkschaften mit der Laterne suchen. Sie würden von ihren eignen Leuten in Stücke gerissen werden.

Ein derartiges System würde also nicht dem sozialen Frieden, nicht dem vernünftigen Ausgleich der Interessen dienen sondern zur Schwächung und, im Endeffekt, zur Zerstörung der Gewerkschaften führen. Kommen die Gewerkschaften aber ins Rutschen und stellen sie keine festen Gebilde mehr dar, so ist bis zur Zwangssyndizierung nach italienischem Muster kein langer Schritt mehr. Dann würden in Kartellen, wo Arbeiter und Unternehmer angeblich einträchtig miteinander verhandeln, die Arbeiter faktisch als Gefangene sitzen, und die Tarife würden einfach diktiert werden. Selbst wenn wir dem Reichskanzler keine bewußten Fascisierungstendenzen unterstellen wollen, so muß doch gesagt werden, daß es ein Unding ist, den Staat heute dort herauszunehmen, wo seine wichtigste Aufgabe liegt. Das Verhältnis von Arbeiterschaft und Unternehmertum in Deutschland ist wie mit Dynamit geladen. Anstatt schleunigst die Zündschnur durchzuschneiden, empfiehlt der Staat den beiden Gegnern, es sich einstweilen auf dem Pulverfaß bequem zu machen, und zieht sich, zufrieden mit seinem Versöhnungswerk, aus der Rauheit des sozialen Klimas in die bekömmliche Luft seiner Kanzleien zurück.

Wie es mit dem Geist der Arbeitgeberschaft steht, beweist das in diesen Tagen veröffentlichte Programm der Spitzenverbände des Unternehmertums. Da wird, wie in den Blütezeiten des Liberalismus, gegen die öffentliche Hand gewettert, grade so, als hätte man sich niemals über sie gebeugt, um ihr Subventionen zu entnehmen. Da wird »in kraftvoller Entschlossenheit« von der Regierung gefordert, sofort an das Rettungswerk zu gehen. Natürlich sollen die Löhne und Gehälter den »gegebenen Wettbewerbsverhältnissen« angepaßt werden; deshalb »individuellere Lohngestaltung«, deren Voraussetzung wieder eine Reform des Tarif- und Schlichtungswesens sein soll; deshalb Generalattacke auf die Sozialversicherung, damit sie »unverzüglich mit den wirtschaftlichen Kräften unsres Volkes in Einklang gebracht wird«. Kurzum, es ist der gleiche Inhalt und die gleiche Melodie wie seit Jahren, nur daß die Herren von der Schwerindustrie, inzwischen durch einen Fehlschlag nach dem andern bloßgestellt, von ihrer Schrecklichkeit einiges eingebüßt haben. Ihre Betriebe stehen still, ihre Gehirne auch. Die »Wirtschaft«, die sich jahrelang in sakraler Überheblichkeit darstellte, steht heute vor dem ganzen Volk als ein Haufe renommierender Tartarins, die mit den Armen herumfuchteln und von ihren Großtaten erzählen. Diese Mützenjäger von Rhein und Ruhr, die der ganzen Welt Krieg angesagt haben, beanspruchen heute noch den Staat als das ihnen von Gott zugesprochene Instrument, sie tun es dreister als es jemals der alte Feudaladel getan hat.

Der Reichskanzler soll über den Unverstand der Industrieherren verzweifelt den Kopf geschüttelt haben. In den Weg gestellt hat er sich ihnen jedoch nicht. Er machte nur den Sozialdemokraten die kleine Konzession, die Arbeiterlöhne einstweilen nicht zum Freiwild zu erklären. Diese brenzlichste Frage soll also auf die Arbeitsgemeinschaft abgeleitet, der Staat in wirtschaftlichen Kämpfen neutralisiert werden. Das nennt man ein Programm für die härteste Winternot seit hundert Jahren! Der privaten Charitas bleibt es überlassen, die Goulaschkanone in Bewegung zu setzen, die Sammelbüchse zu schwingen.

Es ist merkwürdig, wie gering dieser Staat, von kleinen Ordnungsrettern geleitet, seine eignen Kräfte einschätzt. Und doch hat es sich immer wieder, und zuletzt noch mit zwingender Gewalt in den Tagen des großen Julikrachs gezeigt, daß er das einzige Stabile bleibt, wo rundherum alles stürzt. Damals hätte der Staat mühelos einige der stärksten Festungen des Kapitalismus besetzen können, und sie sind heute noch zu haben, denn der Verteidigungswille ist schwach, der Glaube gebrochen. Man vergesse doch nicht, daß der Sozialismus schon lange keine mehr aus den letzten sozialen Tiefen aufsteigende Forderung mehr ist. Der Sozialismus ist keine Sache rebellierender Einzelgänger mehr, die sich an den gläsernen Wänden einer festen Gesellschaftsordnung die Stirne blutig stoßen, sondern eine Frage der Umorganisierung, der bessern Distribution. Der objektive Befund der gegenwärtigen Situation stellt sich als hochgradig revolutionär dar, aber die Menschen sind es nicht. Viele davon sind sehr müde, gewiß, aber die Meisten sind geduldig, und die Sorge um sich und die nächsten Angehörigen lähmt ihren Blick fürs Ganze. Wie lange dieser ungeklärte Zustand anhalten kann, das ist die schwere Frage am Rande dieses Winters. Aber das Eine ist sicher: so aufgelockert waren die sozialen Verhältnisse niemals, und niemals trieb das kapitalistische System so mutlos, so abdankungsreif dahin. Neben dieser Tatsache wirkt der Posaunenstoß der Schwerindustrie, die eine von ihren Trustherren selbst demolierte Individualwirtschaft fordert, einfach komisch. Vieles würde sich jetzt mit einem Federzug erreichen lassen, was in geänderter Situation jahrelange revolutionäre Kämpfe erfordert.

Die Weltbühne, 6. Oktober 1931


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