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Das Ende der Pressefreiheit

Das offizielle Deutschland feiert Goethe, aber nicht als Dichter und Künder, sondern vornehmlich als Opium. Goethe als Betäubungsmittel, Goethe als künstlerisch ausgeführter Paravent zwischen Volk und Wirklichkeit. Die Spitzen eines halb fascisierten Staates feiern die Unendlichkeit des Geistes, infolgedessen findet wenig Beachtung, wie eifrig die Zensur grade jetzt daran ist, die Geister zu binden. Literatur, Presse, Film, Funk und bildende Kunst, sie alle können von der amtlichen Interpretation der durch die Verfassung garantierten Meinungsfreiheit ein mißtönendes Lied singen. Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, die Zensur beschränkte sich auf die wohlbekannten großen Fälle. Der Prozeß George Grosz, die Kämpfe um den Remarque-Film, den Granowsky-Film zeigten mehr die öffentliche Gefahr als ihre heimlichen Fortschritte. Es wird genug Gutmeinende geben, die das Bestehen einer Zensur in Deutschland überhaupt bestreiten werden. Sehr richtig, eine nominelle Zensur gibt es in Deutschland nicht, und trotzdem fallen Bücher wie Kräuter im Maien, trotzdem wird der Bereich des für publizistische Behandlung Möglichen immer enger. Die deutsche Zensur, das ist ein höchst undurchsichtiges Kapitel, das den Versuch rechtfertigt, in diesem Heft der ›Weltbühne‹, wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit, über ihre Mittel und Wirkung Aufschluß zu geben.

Kürzlich ist ein bemerkenswertes Buch erschienen »Der polizeiwidrige Goethe«, eine wirklich aktuelle Gabe neben allzu vielen feierlichen Papierkränzen. Verfasser ist Professor H. H. Houben, der ausgezeichnete Sammler und Redaktor von Dokumenten aus dem Vormärz. Die Lektüre ist ebenso erheiternd wie bestürzend; man erfährt daraus, wie dem Olympier mit der Zensorenschere zugesetzt wurde, was für dümmliche Verballhornungen er sich gefallen lassen mußte, und man begreift, was für Ärger er sich in dem berühmten Vers vom Herzen dichtete:

Hafis auch und Ulrich Hütten
mußten ganz bestimmt sich rüsten
wider braun und blaue Kutten;
meine gehn wie andre Christen.

Der Geheimerath und Antipolitiker Goethe war weder ein aufsässiger Untertan noch ein unbarmherziger Kritiker bestehender Staatsordnung. Und trotzdem liegt in diesem Vers die deutliche Erkenntnis einer miterlebten Wandlung: die Zensur hatte sich säkularisiert, sie war aus Priesterhänden endgültig an die weltliche Macht übergegangen. Der feudalistisch-bureaukratische Staat tarnte sich nicht mehr theologisch sondern mit romantisch-reaktionären Philosophemen, und die herrschenden Schichten des heutigen demokratisch-bureaukratischen Staates denken noch weniger daran, zur Verteidigung ihrer sozialen Position den lieben Gott zu bemühen. Allerdings auch keine Philosophie mehr; ein höchst unmetaphysischer aber auch juristisch wenig stichhaltiger Ordnungsbegriff genügt, um das ehrwürdige liberale Palladium der Gedankenfreiheit auf den Kehricht zu werfen. Unsre Republik trägt unter ihrem bürgerlichen Hauskleid eine Kombination von dickstem Militärtuch, und ein Marquis Posa, dem es einfiele, ihr die Wahrheit zu sagen, würde bei seinem zweiten Erscheinen kaum ungemeldet vorgelassen werden, sondern schon bei der ersten Audienz unter den Artikel 48 fallen.

In der Weimarer Verfassung heißt es allerdings: »Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern«. Das steht da so schön voll und rund, daß es endlich, entsprechend intoniert, von Richard Tauber gesungen werden sollte. In Wahrheit gleicht jedoch dieser Artikel 118 noch mehr als viele andre einem jener Palimpseste, wo der alte Text durch späteres Gekritzel und Schichten von Staub und Vogelleim völlig überdeckt ist. Den Zensor mit Rotstift und Schere, dieses ehrwürdige Gespenst mit Zopf und Klebelocken, gibts nicht mehr. Dafür ist der klare Sinn der Konstitution von Verwaltungsmaßnahmen, Polizeiedikten, lokalen Verfügungen und, zuletzt nicht weniger, von Justizwillkür bis zur Unkenntlichkeit überklebt worden. Und als ob auch das nicht genügte, kamen endlich die Notverordnungen, um die letzten formalen Hemmnisse zu beseitigen. »... meine gehn wie andre Christen.« Und oft auch wie andre Konfessionslose. Sie gehn nicht wie Torquemada sondern wie jeder bürgerliche Beamte, wie sozialdemokratische Polizeipräsidenten. Es gibt keine Zensur, aber es gibt Behörden, die dieses Buch oder jenen Zeitungsartikel staatsgefährlich oder für gewisse Volksschichten verletzend finden, und sie fischen aus den ordnungspolizeilichen Bestimmungen irgend eines vermotteten Landrechts die erforderlichen Paragraphen.

Gegen eine Zensur, die in einer dafür bestellten und bezahlten Amtsperson ihre Verkörperung findet, kann man kämpfen. Man kann sie abschaffen. Aber was ist die Zensur in Deutschland? Jeder Gendarm, jeder Zöllner, der Anstoß nimmt. Jeder Vereinsmufti, der sein berufsständisches Gefühl gekränkt sieht und einen Magistrat zu mobilisieren versteht. Jede alte Moralvettel, die anonyme Briefe schreibt. Jeder Stahlhelmpapa, der sich über ein Drama von Toller in der Schulbibliothek aufregt. Jeder besorgte Herr aus dem Auswärtigen Amt, der ausländische Empfindlichkeiten angekratzt sieht. Jeder Minister, der die schlechte Laune seiner Koalitionsfreunde fürchtet. Und notfalls tritt sogar der Schah von Persien respektheischend in deutsche Offizialbezirke ein.

So mischen sich die Motive in verwirrendster Weise. Es gibt keine Einheitlichkeit der Argumentation, sondern nur eine Einheitlichkeit des Zugriffs. Es gibt keine Maßstäbe, sondern nur ... Rücksichten. Auf der Börse der Couloirpolitik haben Literatur und Presse nur die Bedeutung von Kompensationsobjekten. Niemand weiß, wie viele Zeitungen beschlagnahmt, wie viele Verfahren angestrengt wurden, nur um eine Fraktion zu bewegen, einen heiklen Antrag nicht einzubringen.

Die Zensur ist körperlos, aber sie funktioniert trotzdem. Und dabei war die politische Parteipresse niemals so dumm und roh wie jetzt, wo sie unter Generalvormundschaft steht. Die nationalsozialistischen Blätter bilden eine einzige Aufreizung zum Schädelspalten, und wenn einmal eingeschritten wird, so muß zur Gesellschaft gleich ein rotes Blatt mit. Die Störer jeglicher Ordnung und Sicherheit sitzen, wie zu Kaisers Zeiten, links. Nationalismus und Fascismus fühlen selbst noch in der Strafe eine nonchalante Hand.

Der preußische Ministerpräsident hat in seiner letzten Landtagsrede ausgeführt, die überwältigende Zunahme der Hitlerstimmen in Ostpreußen müsse auf die verheerenden Wirkungen eines nationalistischen Hetzromans zurückgeführt werden, der mit unverantwortlichem Leichtsinn eine polnische Invasion an die Wand malt. Otto Braun war höflich genug, nicht hinzuzufügen, daß es sich dabei um den auch von uns charakterisierten Roman »Achtung! Ostmarkenfunk« von Hans Nitram handelt. Dieser »Nitram« ist, wie wir vor einigen Wochen mitteilen konnten, ein aktiver Reichswehroffizier, ein Oberleutnant Martin, Adjutant beim Ausbildungs-Bataillon des 3. (Preußischen) Infanterie-Regiments in Marienwerder. Es ist uns nicht zu Ohren gekommen, daß man Nitram so behandelt hat wie etwa einen jungen kommunistischen Schriftsteller, der seine Parteigesinnung episch umzusetzen versucht. Der Kuriosität halber sei nur erwähnt, daß anscheinend auch der Heeresleitung die literarisch begabten Offiziere auf die Nerven fallen, denn Herr General von Hammerstein hat neulich den folgenden inhaltlich wie stilistisch gleich beachtlichen Befehl herausgegeben: »Die Maßnahmen, die die Schreibweise im Heere verringern sollen, schließen den höhern Zweck in sich, die Verantwortung der einzelnen Personen zu schärfen und die Persönlichkeitswerte zu heben.« Das ist nun wieder etwas zu allgemein ausgedrückt und auch zu hart, wenn auch die von geringer Schreibkundigkeit zeugende Hand auf ungeahnte Persönlichkeitswerte schließen läßt. Es soll ja nur den Nitrams das gemeingefährliche Maul gestopft, nicht aber ein junger Kleist oder Liliencron abgewürgt werden.

»Wehrfreudigkeit«, das ist das neue deutsche Evangelium. Die gegenwärtige Personalunion zwischen Wehrministerium und Innenministerium bietet besondere Chancen, alles zu verfolgen, was sich dem gewünschten Schema anzubequemen weigert. Die letzte Spezialität heißt: »Beschimpfung des Soldatenstandes«. Wer den Krieg als Barbarei bezeichnet, wer es niederzuschreiben wagt, daß Töten das Handwerk des Soldaten ist und bleibt, der macht sich straffällig. Da hilft kein Hinweis auf die großen Religions- und Sittenlehrer der Menschheit, die fast alle den Krieg verworfen haben. Eine allgemeine Treibjagd auf die Freunde des Friedens und die Lästerer des Waffenspiels hat eingesetzt. Aggressiven Antimilitarismus gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr, jetzt wird auch die abstrakte akademische Untersuchung über die moralische Legitimation des Soldatentums ebenso unter Strafe gestellt, wie die kritische Durchleuchtung militaristischer Machtansprüche. Nach der ›Weltbühne‹ ist auch gegen das ›Tagebuch‹ ein Verfahren eingeleitet worden; von einem besonders bizarren Prozeß gegen den katholischen Demokraten Werner Thormann in Frankfurt, den Herausgeber der ›Deutschen Republik‹, berichtet Rudolf Olden an andrer Stelle.

Die Methodik dieses Feldzuges gegen die unabhängige Presse ist nicht zu unterschätzen. Zuerst kamen die großen Fälle dran, die grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit der Reichswehr und gewissen bedenklichen Experimenten; das wurde als Landesverrat angesehen und entsprechend honoriert. Jetzt geht man systematisch daran, die bloße Skepsis auszurotten, die theoretischen Zeugnisse einer andern Denkart. Wer die kriegerischen Tugenden nicht als die höchsten auf Erden schätzt, ist von vornherein verdächtig und läuft Gefahr, konfisziert zu werden. So soll die öffentliche Meinung uniformiert, so soll der Anschein erweckt werden, als herrschte in allen militärischen Fragen allgemeine Übereinstimmung, als wäre Deutschland in allen seinen Gliedern wehrfreudig wie noch nie. Und während das geschieht, reist Herr Groener mit dem neuen Goetheorden geschmückt im Lande herum und nimmt das Défilée der deutschen Geistigkeit ab. Nord- und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände.

Nun wird der Leser hier eine begreifliche Frage einwerfen: Ist das alles denn wirklich so schlimm? Man merkt doch wenig davon! Die Blätter bringen ihre Schlagzeilen in Parteikolorit wie sonst. Die Regierung wird angegriffen. Diesem Minister wird Unfähigkeit vorgeworfen, jenem Schlappheit. Was hat sich denn unter den Notverordnungen geändert?

Der Einwand ist richtig formuliert und kann ohne Kulissenkenntnis nicht anders formuliert werden. Gewiß wird noch kritisiert und polemisiert, aber es kommt bei jeder Polemik doch nicht nur auf »Schärfe« an, sondern auch auf Dichtigkeit. Die öffentliche Kritik hat ihre Intensität verloren. Und vor allem: man darf die Zeitungen heute nicht mehr nach dem beurteilen, was sie bringen, sondern danach, was sie verschweigen. Keine Linkszeitung ist heute mehr in der Lage, ihr Material so wie vor einem Jahr noch auszubreiten. Die Wirkung der Zensur ist nicht in den erreichten Konfiskationen oder gerichtlichen Bestrafungen zu suchen, überhaupt nicht in der Quantität. Diese Zensur errichtet Warnungszeichen, sie will zunächst abschrecken. Die Konsequenz für die Presse ist, daß ihr ein Thema nach dem andern entgleitet. Sie wagt nicht mehr an bestimmte Dinge zu rühren, das Risiko wäre zu groß. Ein verhängnisvoller Vorgang, denn alles vollzieht sich unsichtbar. Die Dynamik der Zeitung ist die gleiche geblieben, die Substanz aber schwindet. Der Leser merkt von alledem wenig, denn was nicht im Blatt steht, das gibt es nicht.

So sinkt die Freiheit der Presse langsam in sich zusammen, nicht nur weil das im Gesetz der kapitalistischen Entwicklung liegt, das ist ein andres Stück und soll in diesem Zusammenhang nicht berührt werden, sondern weil der immer mehr diktatoriale Formen annehmende Staat in jeder fundierten gegnerischen Meinung ein Kardinalverbrechen sieht. Der Effekt bleibt nicht aus. Wir können ohne Übertreibung behaupten, daß es zum Beispiel seit dem Landesverratsprozeß gegen die ›Weltbühne‹ im vergangenen November kaum mehr eine ernsthafte Militärkritik in der deutschen Presse gegeben hat. Das Exempel hat gewirkt. Wer hat danach noch Lust, sich die Finger zu verbrennen? Das Reichswehrministerium hat, was es wollte, durchgesetzt. Es ist seitdem vor lästigen Fragen sicher. Unter den berliner Blättern haben sich die ›Berliner Volkszeitung‹ und das ›8-Uhr-Abendblatt‹ nicht einschüchtern lassen, das verdient ehrenvoll hervorgehoben zu werden. Aber jeder Unterrichtete weiß auch, daß beide wiederholt von Verbotsgefahr umwittert waren.

Heute kann auf Grund der Notverordnung jedes Blatt auf Wochen und Monate verboten werden. Ein Verbot aber kann unter den jetzigen Verhältnissen kein Verleger auf sich nehmen, kein Redakteur verantworten. Denn eine Zeitung oder Zeitschrift, die ein privates Unternehmen ist und kein Parteiunternehmen, wird ruiniert, wenn sie für drei Monate von der Straße verschwindet. Sie wird niemals wiederkehren. Die deutsche Linkspresse befindet sich in einer ungeheuren Krise. Die wirtschaftliche Schrumpfung bedroht ihren Lebensboden. Die allgemeine Unfreiheit, die Furcht vor Beschlagnahmen und Prozessen nötigt sie, ihren geistigen Spielraum einzuengen und auf den besten Teil ihres Instrumentars zu verzichten. Heute wird das noch durch viel Lärm verdeckt, die Dynamik, wie gesagt, ist nicht verändert; noch immer riesige Überschriften, Bilder, großaufgemachte Lokal- und Sportsensationen, Filmskandale und Baby Lindbergh. Aber eines Tages wird der Leser sich doch fragen, warum man ihm das Wichtigste und Bewegendste seiner Tage vorenthält, er wird fragen, warum seine Zeitung so langweilig geworden ist.

Das ist kein freundliches Bild, das wir hier vorüberziehen lassen, und wir denken auch nicht mit einem schön rollenden Proteste zu schließen. Unsre Väter noch gründeten Bünde im Namen Goethes und Lessings und beriefen sich mit wehender Krawatte auf den Geist der Klassiker. Vorbei die Zeit der liberalen Notablen, die mit echtem Gefühl und falschem Vokabular ihre Verwahrungen deklamierten. Alles ist heute sehr zugespitzt, die Dinge stehen bös und hart gegeneinander. Aus den Kämpfen der Geister sind nüchterne Klassenkämpfe geworden. Die junge aus dem Proletariat steigende Literatur ist unpathetisch, propagandistisch, lehrhaft. Sie ist noch herzlich unbeholfen, aber sie wird auch das Singen wieder lernen, und sie wird, vor allem, nicht mit Schikanen aus der Zeit Metternichs zu bändigen sein. Es war in der muffigsten Reaktion des Vormärz, als der junge Karl Marx diese Bemerkung niederschrieb: »Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!« Einmal werden auch die deutschen Verhältnisse wieder zu tanzen anfangen, und von der Klugheit unsrer Regierenden wird es abhängen, ob dieser Tanz der schöne, lustige Wirbel sein wird, mit dem eine Generation die andre ablöst, oder der Totentanz, mit dem eine überfällige Gesellschaft machtberauscht und ahnungslos, im Bettelputz ihrer Illusionen zu Grabe hüpft.

Die Weltbühne, 29. März 1932


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