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In einer soeben bei Georg Stilke erschienenen Sammlung von Kant-Anekdoten – die Auswahl hat mit freundlichem Verständnis Kurt Joachim Grau besorgt – wird die folgende nachdenkliche Geschichte erzählt:
»Kant wechselte sehr häufig seine Wohnungen, weil er sich überall durch den herrschenden Lärm beschwert fühlte. Zuletzt kaufte er sich in einer ziemlich geräuschlosen Gegend der Stadt, nahe dem Schloß, ein Haus mit einem kleinen Garten, wo er ganz nach seinen Wünschen leben konnte. Nur das Singen der Insassen eines unweit davon liegenden Gefängnisses störte ihn auch hier noch oft bei der Arbeit. Er beschwerte sich bei der Polizei über diesen ›Unfug‹, wie er sich ausdrückte, und erreichte auch glücklich, daß die Gefangenen angehalten wurden, nur bei verschlossenen Fenstern ihrer Sangeslust stattzugeben.«
Es gibt eine andere und bösere Lesart dieser Geschichte: Kant habe von der Polizei gefordert, den Sträflingen solle das Singen überhaupt verboten werden, und die Polizei habe der Beschwerde tatsächlich nachgegeben und den armen Teufeln das Singen untersagt, damit die Ruhe des Herrn Professors nicht gestört werde.
Ein talentierter Pamphletist hat in einer etwas gehässig geratenen Analyse der »deutschen Mentalität« diese Anekdote aufgegriffen und behauptet, Kant habe, wie alle bedeutenden Repräsentanten des Deutschtums, kein Herz für die Kreatur gehabt; dem Verfasser der Schrift vom ewigen Frieden habe der Sinn für Humanität gefehlt. So lieblos kann einer werden, der dem andern Mangel an Liebe vorwirft.
Mißverstanden ist in dieser Veräußerlichung, in dieser beabsichtigt tendenziösen Zuspitzung die tiefere, fast bizarre Symbolik des Vorganges: die Einsamen, die den Einsamen stören. Die Männer im Gefängnis gröhlen ihr Leid in die Welt hinaus; der Einsiedler in dem bescheidenen Haus am Schloß aber bildet aus seinem Leid eine unerhörte Melodie. Die Gassenhauer der Sträflinge verhallen in der Nacht, aber das Lied des Immanuel Kant wird für ewige Zeiten Finsternisse durchdringen und die Nacht besiegen.
Man erzählt von Gustav Mahler, daß er in ländlicher Zurückgezogenheit, die er gesucht hatte, um in Stille eine Symphonie zu vollenden, fast zu Tode gequält wurde durch die Konkurrenz der – Singvögel, die sich in der Gegend in seltener Anzahl zusammengefunden hatten. Die Freunde sahen, wie der Meister immer tiefer in seelische Überreiztheit hineingeriet und beschlossen, ihn von dieser geräuschvollen Plage zu befreien. Und so veranstalteten sie eines Morgens unter den Tierchen eine gewaltige Metzelei. Als der Meister zur Arbeit ging, um sein Herzblut zu verströmen, da hatte das Blut der kleinen Vögel schon den Rasen ringsum gerötet.
Die vielen kleinen Lieder müssen dem einen großen weichen. Der Weg zum Werke gleicht immer dem Marsch einer Armee. Zurück bleiben Trümmerstätten und zertretene Freuden. Aber auch das Singen bleibt immer. Und darauf kommt es an.