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Maß für Maß in Bremen

Leopold Jeßners Staatstheater hat soeben Shakespeares Kuppler- und Bordellkomödie in einer achtenswerten Einstudierung herausgebracht. Die Kritik rühmt der Regie besonders nach, sie habe die heute beliebte Mode vermieden, klassische Stücke in der Gewandung dieser Saison zu geben, sondern sich streng an das dem Inhalt entsprechende elisabethanische Kostüm gehalten. Der Zufall will, daß zur selben Zeit auch in Bremen ein altmodisches Kupplerstück neueinstudiert herauskommt, leider nicht im Stadttheater, sondern vor einer Strafkammer, und als Darsteller erscheinen nicht Herren mit Mühlsteinkragen und Wollperücken und Damen in Reifröcken, sondern Bürger und Bürgerinnen unsrer hellen Gegenwart. Aber das Thema ist wie bei Shakespeare: Rigorismus toter Buchstaben gegen die Natur.

Frau Kolomak ist zu acht Monaten Gefängnis verurteilt worden. Schon der Zuchthausantrag des Staatsanwalts gab bösen Vorgeschmack. Aber nicht der Ausgang ist bei diesem Kriminalfall entscheidend, sondern wie verhandelt wurde.

Die Justiz muß automatisch jeder Anzeige, jedem Verdacht nachgehn. Sie mußte auch den Verdacht gegen Frau Kolomak auf seine Stichhaltigkeit prüfen. Das ist ihre Pflicht. Aber mag eine Pflicht noch so peinlich sein, niemandem ist verwehrt, sie menschlich und mit einem gewissen Aufwand von Geist zu tun. Die bremer Strafkammer aber beginnt ein umständliches Interrogatorium, dessen Unmöglichkeit überall außerhalb dieses Saales schallende Heiterkeit hervorgerufen hätte. Hier wird ein kleines Gelächter am Pressetisch schnell durch eine scharfe Rüge erstickt.

Wahrscheinlich hätte Frau Kolomak drei Töchter ungehindert verkuppeln können, wenn sie nicht die Todsünde begangen hätte, eine Behörde zu ängstigen. Ihr Buch ›Vom Leben getötet‹ hat die Apparatur der Sittenpolizei der Öffentlichkeit preisgegeben. Keine Behörde vergißt eine Beängstigung. Schnell sind die Sbirren der Sitte mit ihren Recherchen da: Verdacht, die Tochter verkuppelt zu haben. Aus Klatsch und Nachbarinnenfeindschaft wächst die Anklage, als deren Kronzeugin eine Prostituierte figuriert. Jeder Privatmann, der auf sich hält, würde sich schämen, seine Sache so flankiert zu wissen. Nur Vater Staat, der ein überpersönliches Autoritätsprinzip zu wahren hat, kann es sich erlauben, mit solchen Hilfstruppen zu erscheinen.

Hier soll nicht ein Plaidoyer für Frau Kolomak vorgetragen werden. Dieser Prozeß erschüttert nicht durch sein Material von Schuld oder Unschuld, sondern durch die Aufdeckung von sozialen Tatsachen, die stärker sind als menschliche Charaktere. Das ist eine herzlich alte Erkenntnis und alle Menschen sehen so, nur das Gericht sieht nicht. Das Gericht will einen Schulderweis bringen und übersieht darüber die Wirklichkeit. Es weiß nicht, wie die Menschen aus der Schicht der angeklagten Frau leben. Es weiß nichts von der eignen Moralität dieser Schicht. Dieses Gericht kennt nur ein vor zweitausend Jahren in einem bescheidenen Distrikt Vorderasiens entstandenes Sittengesetz, das auch durch den neuen Strafgesetzentwurf bestätigt wurde. Das Gericht unterstellt bremer Proletariermädel kategorischen Imperativen, die sich eher für Heroinen verstaubter Jambendramen eignen als für lebende Menschen. Das Gericht fällt Werturteile über das Liebesleben von Arbeitertöchtern, aber es weiß nichts von dem dumpfen proletarischen Stadtmilieu, nichts von der warmen Sehnsucht junger Dinger herauszukommen: immer am Rand der Prostitution, manchmal einen Schritt darüber. Das Gericht kennt nur ein imaginäres Sittengesetz und heischt ein Sühneopfer für dessen Verletzung. Ist es die Tochter nicht, die durch eine zu heftig geratene Salvarsanspritze von weitern Gelegenheiten zum Sündigen befreit worden ist, dann die Mutter, weil sie von einem Liebessold der Tochter vielleicht ein paar Mark eingestrichen hat. Eine Frau Landgerichtsrat würde in ähnlicher Situation vielleicht rufen: O Schmach! O schnöder Sündenlohn! Die Proletarierfrau steckt seufzend die paar Mark ein. Kuppelei ist ein typisches Verbrechen armer Leute. Kuppelei gehört zur Wohnungsnot. Es wird ziemlich unmöglich sein, der Inhaberin einer Zehnzimmer-Wohnung nachzuweisen, daß sie ihre Tochter verkauft.

Weltfremdheit feiert Orgien. »Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?« Hat, der so fragt, nicht einmal selbst zum Herrenverkehr eines Mädchens gehört? »Duldeten Sie, daß Ihre Tochter sich schminkt?« Und fast wäre ein Friseur zitiert worden, um das Gericht zu belehren, daß nach der Mode von heute fast alle Frauen sich schminken. Der Herr Staatsanwalt lenkt ein: »Es mag sein, daß die amerikanische Sitte oder Unsitte des Gesicht-Bemalens an sich nicht unsittlich ist ...« Wie das herauskommt: »Amerikanische Sitte oder Unsitte ...«, wie das herauskommt, giftig zensurierend, ein Millionenvolk gleichsam um ein paar Grade sittlich herabstoßend! Hier führt eine unsichtbare Hirnbrücke zur politischen Justiz. Auch im Schminktöpfchen und Lippenstift der Mädel steckt ein Stück Landesverrat. In dieser Verwerfung »amerikanischer Sitten« tanzen unter der Schwelle des Bewußtseins Wilsons vierzehn Punkte, rasseln die Ketten von Versailles, und aus ungelüftetem Gefühlsplunder stäuben schwarz-weiß-rote Zikaden.

Doch es hieße das Thema viel zu eng abstecken, wollte man die Art dieser Richter einfach mit politischer Voreingenommenheit deuten. Sie sind ja nicht gegen die Republik, Demokratie oder Sozialismus. Sie sind gegen die Zeit. Sie sind ebenso gegen kurzes Haar und kurze Kleider wie gegen die Weimarer Verfassung. Sie sind gegen die neue Selbständigkeit der jungen Mädchen ebenso wie gegen den ›Potemkin‹ oder gegen George Grosz. Denn sie sind gegen die Zeit. Sie schützen einen Zustand, den es nicht mehr gibt. Sie schützen eine patriarchalische Moral, die der Krieg niedergelegt hat, und über deren Trümmer heute seidenbestrumpfte Beinchen lustig tanzen und gelegentlich stolpern und versinken. Die nächste Generation wird schon viel sicherer tanzen.

Nicht der Kampf um das Konkordat, der Kampf gegen die Justiz ist unser Kulturkampf. Wir danken den Regisseuren der bremer Kupplerkomödie, daß sie uns das wieder einmal so überaus deutlich gemacht haben. Dieses Gericht über eine Mutter, die in ihrer armen Behausung in langen Nächten die mühsamen Schriftzeichen ihres toten Kindes nachgemacht hat, gehört zu den ärgsten Herausforderungen unsres Gegenwartsgefühls. In jenem schmalen Büchlein zuckt eine verlorene Seele noch einmal wie ein kleines Flämmchen auf und erlischt. Ein religiöses Jahrhundert hätte diese Frau Kolomak vielleicht als Hexe verbrannt. Aber um sie mit dem Kuppeleiparagraphen zu justifizieren, dazu war schon der moderne Rechtsstaat notwendig. Wir aber fühlen, wie die Zeit wieder wächst und die überlieferten Symbole klein werden. Die majestätische Themis von einst ist zur tristen alten Vettel geworden. Wir wollen sie nicht: durch die amerikanische Sitte oder Unsitte des Gesicht-Bemalens zu restaurieren versuchen. Keine Reformen, die kaum das Antlitz betupfen. Sie gehört in die Schreckenskammer zu den Requisiten toter Jahrhunderte. Wir wollen ein Recht schaffen aus unsrer Zeit, aus unserm Kopf, aus unserm Blut.

Die Weltbühne, 21. Juni 1927


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