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»St., Yorkstraße. Ihr Gefühl der Empörung über die Aufmachung der Genossin Kollontai als Botschafterin der Sowjetrepubliken teilen mit Ihnen Tausende von Proletariern Rußlands. Genossin Kollontai hat sich in der Vergangenheit große Verdienste um die russische Revolution erworben, auch erfüllt sie ihr jetziges Amt gut, jedoch hat sie bei dem russischen Proletariat gerade durch dieses Gebaren viel an Ansehen eingebüßt.«
»Rote Fahne« vom 17. X. 24.
Diese Aufmachung der Frau Kollontai, die das Mißfallen der »Roten Fahne« erregt, wurde neulich durch illustrierte Blätter dem deutschen Publikum vermittelt. Man sieht eine sehr schöne und elegante Dame, die es sicherlich mit ihren diplomatischen Pflichten recht ernst nimmt. Der Mann des Kommunistenblattes, der mit St., Yorkstraße, das Gefühl der Empörung teilt, muß über mehr Gesinnungsbravheit verfügen als über Sinn für weibliche Grazie. Sonst wäre ihm die öde Vokabel »Aufmachung« verschämt in der Tinte stecken geblieben. Eine Frau von so viel natürlichem Reiz braucht keine Aufmachung wie irgend ein mittelmäßiges Buch. Diese Kleider gehören zu ihr, sind Teil von ihr. Wer will es Rußlands Vertreterin in Skandinavien übelnehmen, wenn sie sich hübsch anzieht? Gerade die Sowjets haben ja so viele Vorurteile niederzuringen. Bekanntlich hat in Genua nichts so sehr überrascht wie das Exterieur der russischen Delegation. Man erwartete mit Bangen wüste Gesellen mit ungewaschenen Pfoten und Weichselzopf. Statt dessen erschienen befrackte Herren, die nach allen Seiten hin verbindlich lächelten und im Gegensatz zu den Vertretern der westlichen Zivilisation auf sorgfältige Innehaltung der Mittagspause pochten. So hielt die russische Seele ihren Einzug in Genua.
Frau Alexandra hat kürzlich ein Buch erscheinen lassen. Das heißt: »Die Liebe der fleißigen Bienen« und handelt, wie nicht groß hervorgehoben zu werden braucht, nicht von Bienenzucht, sondern von freier Liebe. Und da schämt man sich ein bißchen für die Verfasserin. Nicht daß diese ... Gott bewahre. Wenn man Botschafterin ist und dann noch über freie Liebe nachdenken muß und die Resultate dieses Nachdenkens schriftlich fixiert, dann hat man keine Zeit, seine Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Aber welche Banalität des Themas! Frau Alexandra rennt offene Schlafzimmertüren ein. Kinder, seid ihr in Moskau rückständig!
In der Hochburg der roten Revolution allerdings hat es um das Buch heftige Fehde gegeben. Eine Genossin verübte eine turbulente Gegenschrift. Die Kollontai, exzentrisch und von bürgerlichen Atavismen besessen, proklamiere das Recht auf ungehemmtes Sinnenleben; ihr öffentliches Auftreten bereite Ärgernis. Das sei nicht sozialistisch.
Die Kollontai wieder hatte behauptet, gerade das sei sozialistisch. Was ist Wahrheit? Wer hat den echten Ring? Alexandra steigt kopfschüttelnd aus dem Frisiermantel und diktiert ein Telegramm an Drecoll.
Die Dame in Moskau ist sicherlich als Revolutionärin expert, ebenso wissen die »Rote Fahne« und ihr Leser St., Yorkstraße, was eine Harke ist. Aber was die Frau in der Revolution bedeutet und die Revolution für die Frau, das hat die Kollontai am instinktivsten erfaßt. Denn wie immer die Frau in die Revolution verstrickt sein mag, als Idol, als Bannerträgerin oder Troßdirne, verflochten in den Streit der Männer, kämpfend für die Programme der Männer, deklamierend die Manifeste der Männer, spielt sie doch immer nur ihre eigene Rolle. Während die Männer Verfassungsurkunden zerfetzen oder beschreiben, Tyrannenblut literweis abzapfen und mit jeder großen Revolte das Recht, Bürger zu sein, auf weitere Pariaschichten ausdehnen, kämpft die Frau für ihr eigenes Recht, für ein Recht, das kein Jurist der Welt jemals paragraphieren könnte, für das Recht, den Typus des Weibes zu vollenden, das Geschlecht in den Mittelpunkt aller Dinge zu rücken. Pathetisch verbrämt, parteipolitisch verklausuliert, durch Männerparolen falsifiziert, zwischen Männerhirnen und Männerfäusten, so kämpft die Frau ihre private Revolution durch, nachtwandlerisch sicher vom Trieb geleitet. Und das ist die ironische Marginalnote, zur Geschichte dieser »Emanzipation« gekritzelt, daß die bürgerliche Befreiung des Weibes nur immer neue Bindungen schafft und daß die feierliche Unabhängigkeitserklärung des Sinnenlebens den weiblichen Menschen zwar von der Herrschaft des Einen befreit, aber zur Sklavin Aller macht. Die Frau hat nichts zu gewinnen als neue Ketten, und diese Kettenlast zu vervielfachen, das ist der Sinn ihres Kampfes.
Es geht eine große Linie von den gleißenden Königinnen des Altertums zu den Revolutionärinnen unserer Zeit. Die Robe der Kollontai in ihrer provozierenden Eleganz ist die bessere und dauerhaftere Fahne einer Revolution als die gesammelten Papiere des Herrn Sinowjew. Und deshalb sind alle langweilig Gesinnungstüchtigen und alle instinktverlassen drauflospolitisierenden Frauenzimmer so entsetzlich mißtrauisch, wenn eine gutangezogene Dame plötzlich in den Kreis ihres Parteiwesens tritt. Sie wittern das Fremde, verlockend Gefährliche, das Uneingestandene – – das Geschlecht. Und sie schließen von den kostbaren visiblen Teilen der Bekleidung auf die andern nicht dem Auge preisgegebenen. Die Beziehungen aber zwischen saurer Tugend und ungelüfteter Unterwäsche sind zu bekannt, als daß sie nochmals markiert zu werden brauchten. Wenn man alle Fanatiker und Prinzipien-Monomanen veranlassen könnte, etwas häufiger die Wäsche zu wechseln, es würde weniger Unsinn geredet werden auf der Welt.
Das Tage-Buch, 25. Oktober 1924