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Möge mir Arnold Hahn verzeihen, aber es soll keine Attacke werden auf seine »Zivilisierte Sexualität« im vorigen Heft des »Tage-Buchs«. Ich will auch gar nicht eingehen auf Definitionen über den Unterschied von Kultur und Zivilisation. Ich folge ihm nur dahin nicht, wo er von einer möglichen Lösung der Sexualleiden in lumpigen fünfzig Jahren spricht. Ich glaube nicht an die Möglichkeit dieser Lösung auch in lumpigen fünftausend Jahren. Ich glaube, dass es ein Intimstes im Menschen gibt, was nicht den Wandlungen der sozialen Struktur unterliegt und infolgedessen auch niemals »gelöst« werden kann. In diesem Sinne bleibt die Liebe ebenso unlösbar wie der Tod. Mag die gesellschaftliche Erscheinungsform wechselbar sein, die stets flexible geschlechtliche Moral eine Generation heftiger einengen als schon die nächste, durch die Jahrtausende dringt dennoch der gleiche Ruf aus Lust und Jammer gemischt, das ewige sehr primitive Lied von Begehren und Versagen, übertönend die große und komplizierte Orchestermusik der Kulturen und Zivilisationen. Und selbst wenn einmal die Menschheit befreit von allen ökonomischen Quälereien in die selige Faulenzerei eines zweiten Paradieses eingehen sollte, es wird immer Jünglinge geben wie Ammon, Davids Sohn, auf einsamem Lager sich nach der Schwester verzehrend, ewig wird Potiphars Weib vergeblich seufzen, hassen und verleumden, und in der realisiertesten aller Idealstaatstheorien werden junge Mädel Lysol nehmen, weil der Eine nichts von ihnen wissen will, und alte Idioten werden sich am Fensterkreuz aufhängen, weil die Eine konstant nach der anderen Seite blickt.
Doch ich möchte mich nicht in weite Perspektiven verlieren, es liegt mir nur daran, von einem Ewigkeitsproblem auf ein Zeitphänomen hinzuführen, von der Sexualität einer möglichen Zivilisation zur Sexualität jener fröhlichen Barbarei, in der wir leben und voraussichtlich auch sterben werden. Nach uns die Sintflut oder der Garten Eden – des Menschen Blume ist die Gegenwart, und das Signum dieser Gegenwart ist die unzivilisierte Sexualität, deren Merkmale nicht in einem schwarzen Kaffernkraal, sondern in unserm frisch aufblühenden Gemeinwesen Berlin am deutlichsten zu beobachten sind.
»Der zivilisierte Mensch ... kämpft um die Nacktheit der Sexualität.« Lieber Doktor Arnold Hahn, dieser Kampf ist in Groß-Berlin längst entschieden und zwar zugunsten der nackten Sexualität, aber die Zivilisation ist dabei unter den Wagen gekommen. Die trockene These des Aufkläricht: Befriedigung des Geschlechtstriebes sei ebenso natürlich wie Essen und Trinken, war gut gegen die verstaubten Embleme einer bürgerlich verlogenen Idealität, die mit moralischen Taschenspielerkniffen den Unterleib unterschlagen wollte – nun, der Unterleib ist inzwischen wieder entdeckt worden, aber es ist wie immer bei großen Entdeckungen: nach Columbus kommen die Conquistadoren, kommen auch die Landmesser und Kartographen, die braven Pedanten, die das Wissen vom neuen Land popularisieren. Und jetzt haben wir, Hand aufs Herz, eigentlich genug entdeckt, die Formel: »... so natürlich wie Essen und Trinken« hat gesiegt und wird gewissenhaft befolgt; der Fortschritt täte wohl daran, die Siebenmeilenstiefel für eine Weile auszuziehen. Die alte Sittlichkeit ist der ungehemmten Sexualität unterlegen; die Kosten dieses Krieges jedoch zahlt unglücklicherweise der gute Geschmack. Wir wollen ganz gewiss nicht eine Renaissance der mit Recht in den Staub gerungenen antiquierten Moralität, aber bei der Verselbständigung des Unterleibes ist die Nase der leidtragende Teil geworden. Wir sollten die Strapazierfähigkeit dieses nützlichen Organs nicht überschätzen.
Die Berliner Liebe, um uns an das frappanteste der Beispiele zu halten, waltet im Genius der Likörstube. Unsere Aphrodite steigt nicht aus dem Meeresschaum, sondern aus einer Bouteille Cherry Brandy. Dass die Weiber sich durch die Bank wie Kokotten tragen und betragen, wäre nicht so schlimm, devastierend bleibt nur, dass sie es ausgerechnet wie Berliner Kokotten tun. Gibt es noch jenen munteren, leicht angewienerten Grisettentyp, der einem früher gelegentlich über den Weg lief? Ach, wie können Mimi und Mussette gedeihen, wo alles auf Barzahlung gestellt ist? Der zahlungsfähige Rüpel bestimmt das Niveau und die Preise und formt alles nach seinem Bild. Und da die Sexualität ein Handel geworden ist wie jeder andere, und der Handel in den Jahren der Kriegswirtschaft der Tendenz zur allgemeinen Verpöbelung restlos unterlegen ist, so werden 125 Pfund Weiberfleisch heute nicht mit jenem Maß von Höflichkeit erworben wie im Schlächterladen zwei Pfund Schweinebauch. Berlin ist die Stadt ohne Erotik. Es gibt nicht mehr die Grazie oder Tölpelei des Werbens, es gibt nicht mehr die prickelnde Frivolität, es gibt überhaupt nichts mehr, was auch nur entfernt an Form erinnert; die Sexualität ist glattes Geschäft und »so natürlich wie Essen und Trinken.« (Nur ißt man wo anders weniger und besser.) Im vergangenen Sommer will man noch in der näheren Umgebung der Metropole ein Pärchen gesehen haben, das träumerisch versunken den Mond anguckte. Hoffentlich findet man die Leutchen und schafft sie ins Märkische Museum.
Muß wirklich die Liebe, um wieder einige Berührungspunkte zur Ästhetik zu gewinnen, von neuem zur Sünde gestempelt werden? Oder müssen wir alle erst durch das Fegefeuer eines Puritanertums hindurch, um den Rausch, das Abenteuerliche des erotischen Fühlens neu zu lernen? Wieder war die Freiheit mitten unter uns. Sie hat den Geschlechtern die Ketten genommen, aber es wäre wirklich nett gewesen, wenn sie ein paar Rosenbänder hinterlassen hätte.
Wir leben in einer fleißigen, geschäftigen Zeit. Die Kommerzialisierung des Liebeslebens bedingt flotte Expedition, harte Tatsächlichkeit.
»Herr Ober, ein Frühstück und zwei Frauen!«
Solches hörte ich im gesegneten Jahr der Inflation 1923 in einem guten Berliner Restaurant. Die anwesenden Damen amüsierten sich königlich darüber. Wissen die lieben Geschöpfe, daß sie, wie die Austern, nur dutzendweis zu schlucken sind?
Das Tage-Buch, 15. November 1924