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Freund Hein

Wir sind in Deutschland in den letzten Monaten ganz unversehens in einen Kulturkampf eingetreten. Aus Zeitungsartikeln, aus Nachprüfungen gerichtlich längst erledigter Fälle hat sich ein Kampf gegen die Todesstrafe entwickelt, der in absehbarer Zeit aus Presse und Versammlung ins Parlament getragen sein wird, wenn die gegenwärtige Regierung sich behauptet. Die Ursachen sind mannigfaltig. Zum Teil ist dieser Kampf einfach ein Symptom des immer weiter fassenden Mißtrauens gegen die Justiz. Kann man einer Rechtspflege, die nicht nur in politischen Dingen so oft talentvoll danebengriff, überhaupt noch eine Entscheidung über Leben und Tod anvertrauen? Das war der Ausgangspunkt. Es kam noch hinzu, daß lange judizierte Fälle plötzlich wie Revenants umgingen; Zweifel an der Richtigkeit von Urteilen setzte ein, die bei der Verkündung keinen Widerspruch gefunden hatten, weil damals das Material lückenlos schien. Der Fall Haas, der dann ein Fall Schröder wurde, und dabei immer nur ein Fall Hoffmann-Kölling gewesen war, gab einen tristen Einblick in provinzielle Untersuchungsmethoden. Dann kam der große Alarm: der Fall Jakubowski, dessen Genesis jetzt Rudolf Olden und Josef Bornstein in einer Broschüre geschildert haben, vor deren gediegener Gründlichkeit sich viele Fachleute schämen sollten. Und schließlich folgten andre, noch revisionsmögliche Affären: Dujardin, Leyster etcetera. Alle paar Wochen liest man jetzt von Wiederaufnahmeanträgen aus dem Zuchthaus, von verzweifelten Aktionen gegen Urteile, die auf Indizien beruhten und gefällt wurden in den wirren Demobilmachungsjahren, wo die Gerichte überlastet waren und die Polizei, namentlich auf dem flachen Lande, aus Mangel an Kräften und oft wohl auch von politischen Vorurteilen beeinflußt, nicht immer wasserdichte Untersuchungsarbeit geleistet hat. Und schließlich wird grade in diesen Tagen Oscar Slater von der englischen Justiz rehabilitiert; sein bester Fürsprecher war Sir Arthur Conan Doyle, der in ungezählten Detektivgeschichten Schuldige überführt, Verdächtigte gereinigt hat und der mit der Befreiung Slaters in die unsichtbare Ehrenlegion jener einrückt, die gegen den Unfehlbarkeitswahn beamteter Juristen gekämpft haben.

Wir haben dem Gehirn des Staates mißtrauen gelernt, wir haben in politischer und wirtschaftlicher Not seine Unbehülflichkeit erlebt, wir kennen seine oft ausprobierte Methode, die Autorität schließlich durch eine Gewaltlösung zu retten. Der Hoheitsbegriff des Staates hat niemals verschmäht, sein locker werdendes Gefüge mit Blut zu leimen und seinen Mangel an Gewissen mit einer billigen metaphysischen Verbrämung als gottgewollte Pflicht aufzumachen. Aber der Tod ist irreparabel, und der Freispruch überm Grab stellt nur »die Ehre« wieder her. Unvergeßlich jenes Kapitel in Jakob Wassermanns »Maurizius«, wo der Staatsanwalt nach vielen Jahren wieder die Akten durchstudiert und wie er das, was ihm einst als Bau von zwingendster Logizität und geschlossenster Konsequenz erschien, rissig und sprüngig geworden, zerfallen und zerbröckelnd wiederfindet, zu jedem Zweifel an seiner Weisheit von damals berechtigend.

Man braucht den Freunden des Köpfens gar nicht zu verhehlen, daß es auch genügend Mordfälle gibt, die eine humane Stimmung schwer werden lassen. Was für wilde Racheschreie gellten nicht vor ein paar Monaten um den Mörder Johann Hein! Eine Bestie, ein Entmenschter, nicht wahr? Zum Tode verurteilt wurde jetzt ein sehr seltsamer Mensch, über dessen Charakter alle Zeugen das Beste aussagten, «... aus diesem Täter«, führt Inquit, Slings ausgezeichneter Nachfolger in der ›Vossischen Zeitung‹ aus, »lassen sich diese Taten nicht ableiten – die Brücke fehlt.« Der mehrfache Mörder, das Plakatscheusal, wird als fleißig und lenksam geschildert. Von einem physischen Mangel niedergedrückt, einem bösen Freunde gefährlich ergeben, dessen Ruhe und gesammelte Kraft, er, der von Minderwertigkeitsgefühlen Geplagte, bewundert – das ist der Mörder Johann Hein. Er liebte das Abenteuer, er liebte Waffen; liebte es, die Kühle eines metallenen Revolverlaufs in der Hand zu fühlen. Maßlos als Angreifender, verteidigte er nachher seine Freiheit wie ein unzähmbares Tier. Dem Delirium der Waffe war er, wenn es zum Kampf ging, haltlos verfallen. Erinnert man sich recht, so wurde im Kriege so etwas als höchste soldatische Qualität bewundert und eigens Schnaps verteilt, um ähnliche Stimmungen zu erwecken und aus jedem schmalbrüstigen Kontorsklaven einen Ritter sans peur zu machen ... Nein, auch der Räuber und Mörder Johann Hein ist kein Schulbeispiel, um die Dogmatik des Richtbeils neu zu erhärten und zu prolongieren. Es ist unnötig, diese blutige Gestalt zu sentimentalisieren, die psychologische Erklärung hilft weder dem Mörder noch seinen Opfern. Wenn wir die Todesstrafe beseitigen wollen, so leiten uns nicht sentimentale Beweggründe, sondern Achtung auch vor dem verworfensten Leben, und Träger dieses vornehmsten Prinzips: der Achtung vor dem Leben soll eben der Staat sein, nicht Inhaber einer monopolisierten Vendetta. Die Aufforderung: »die Herren Mörder mögen vorangehen«, ist ein schal gewordener Witz. Es wäre jämmerlich, wenn dem Staat der respektablen Leute nichts Besseres einfiele, als die Herren Mörder zu kopieren.

Einen ganz vorzüglichen Dienst wird in den kommenden Debatten um die Todesstrafe eine soeben erschienene Publikation leisten. Sie ist von E.M. Mungenast herausgegeben und heißt »Der Mörder und der Staat«. Sie enthält außer einer historischen Einleitung das Ergebnis einer Rundfrage, an der sich sechzig notable Persönlichkeiten beteiligt haben. Das Resultat ist in vieler Hinsicht beachtlich und gibt dem Buch dokumentarischen Wert. Wenn auf dem Umschlag steht, es handle sich um Beiträge von »Sachverständigen, Psychiatern und Zeitgenossen«, so klingt das zunächst absurd, erweist sich aber schon beim ersten Durchblättern als wohlgewählte Unterscheidung. Denn diese Herren Psychiater, von einigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, rangieren nicht unter den Zeitgenossen, denn sie gehören ins Jahrhundert des Hexenhammers, und auch nicht unter den Sachverständigen, denn sie wissen nichts vom Menschen, ihrem Arbeitsfeld. Keine Charitas hat sie angeweht, kein Wissen um Vererbung: ihr Weltprinzip ist die Zwangsjacke. Herr Professor Hoche, Freiburg, zum Beispiel: »Hält man die Todesstrafe im Interesse der Gesamtheit für erwünscht, soll man nicht von prozentual verschwindend kleinen Irrtumsmöglichkeiten sentimentalen Rat nehmen ... Im übrigen ist es völlig irrig, anzunehmen, daß die Guillotine eine inhumane Einrichtung sei; der Tod ist vollkommen schmerzlos ... Eine Partei, die den Umsturz der heutigen Gesellschaftsordnung ... verkündet, muß natürlich gegen die Todesstrafe sein, die ihr die erwünschte Aussicht entzieht, im Fall der bei Putschen regelmäßig versuchten gewaltsamen Öffnung der Gefängnisse Verbrecher, die sich als kalt, energisch und skrupellos bewährt haben, in ihre Sturmreihen einreihen zu können.« Soweit der Herr Direktor der Nervenklinik Freiburg. Ich möchte ihm nach dieser Probe nicht meinen Regenschirm zur Kur anvertrauen, geschweige denn ein verstörtes Menschenwesen. In die Nachbarschaft der Herren Psychiater rückt Frau Gertrud Bäumer, die zwar grundsätzlich gegen die Todesstrafe ist, aber nur wegen der ihr anhaftenden Irreparabilität: »nicht wegen der mit der Vollstreckung verbundenen Brutalität.« Um Gotteswillen, nur keine weichliche Schwachheit vorschützen! Ein bißchen sozusagen unsittliche Literatur, verehrte Dame, verletzt zwar Ihre Empfindlichkeit, aber Blut, Blut ist ein besonderer Saft!

Die meisten der Damen und Herren, die sich an der Rundfrage beteiligt haben, gehören der liberalen Welt an, sie sind durchweg Exponenten des kulturellen Liberalismus, wobei die individuelle Färbung sie entweder mehr traditionsgebunden zeigt oder radikalern Anschauungen zuweist. Sie sind in ihrer Mehrzahl Gegner der Todesstrafe. Ihre Argumentation ist im allgemeinen weder reichhaltig noch sehr tiefsinnig, sondern wiederholt nur die seit hundert Jahren vertrauten sittlichen und religiösen Einwände. Und dagegen läßt sich gar nichts sagen, denn es ist ziemlich unmöglich, neues über eine Frage zu produzieren, die mindestens theoretisch so lange entschieden ist. Bei gewissen Dingen muß man, um das Richtige und Wirksame auszusprechen, einfach den Mut zur Wiederholung finden. Es ist auch sehr lehrreich, daß der Einzige, der sich hier profund gebärdet, von allen am plattesten wirkt. Das ist Herr Otto Flake, von dem man nicht recht weiß, zu welcher der obengenannten drei Kategorien er zu rechnen ist. Man könnte still darüber hinweggehen, wenn nicht der Fall Flake damit definitiv zum Trauerfall würde. Aus einer früher oft denkerischen Erscheinung ist ein exklusiver Modeschreiber geworden, einer, der mit dem Netz unermüdlich nach Nuancen jagt, aber statt bunter Schmetterlinge nur Küchenkäfer einfängt. Wem diese Meinung hart erscheint, der versuche nur die Melodik dieser Sätze: »Ohne Zweifel liegt auf der Scheußlichkeit der Vollstreckung das ganze Gewicht der Abneigung. An sich ist der Tod eine tiefe Angelegenheit, und an sich ist nicht einzusehen, weshalb das Tiefe nicht auch im modernen Leben seinen Platz haben sollte. Auch entspräche der Tiefe der Tat die Tiefe der Sühne. Die Todesstrafe als in sich unmoralisch zu verwerfen, ist für mich wenigstens ein flacher, ja sentimentaler Gesichtspunkt.« Nach dieser auch stilistisch vielversprechenden Introduktion landet Herr Flake schließlich bei einer metaphysisch affichierten Neutralität: »Ich glaube, daß wir sie abschaffen wollen, da wir so wenig wie möglich mit dem Töten zu tun zu haben wünschen. Unmoralisch, weil wir auch das Leben des Mörders für unendlich wertvoll hielten, finde ich die Todesstrafe nicht. Dafür spielt in meiner Philosophie die stoische Idee des Risikos, des Verspielthabens, des vollwertigen Einsatzes eine große Rolle.« Tod, wo ist dein Stachel, wenn Einer nur »seine Philosophie« für den Tod Andrer parat hat? Dieser Philosoph des Verspielthabens weiß selber nicht, wie gründlich er verspielt hat. Hier hat er in tiefsinniger Gespreiztheit, ohne es zu ahnen, die eigne geistige Existenz dekapitiert. Früher war er ein skeptischer wärmeloser Grübler, aber doch ein Grübler; heute geht er umher wie der heilige Dionysius: den Kopf unterm Arm. Neben der Barbarei der Zeit steht der »Freund aller Welt«, Stoizismus predigend, aber vor jeder praktischen Frage in die Mauselöcher seiner selbst erfundenen Philosophie kriechend. Vielleicht hält er seine Geste für sehr männlich ... Es ist das alte Malheur deutscher Schriftsteller, wenn sie sich besonders masculin geben wollen, daß sie dann nur dumm wirken. Herr Flake, der Zweifler von gestern, trägt sich heute gutbürgerlich mit etwas mussolinischem Faltenwurf, aber doch noch so, daß das gute Europäertum eben glaubhaft bleibt. Noch ein Flakon Männlichkeit mehr und der weitere Kurs ist nicht mehr unklar. Ich grüße den Herrn Kriegsberichterstatter von 1935!

Die Weltbühne, 24. Juli 1928


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