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Wie es anging.

Ding – dang – dong … Ding – dang – dong … machte die Glocke des Bahntelegraphen … Ding – dang – dong … Tom Gardener schaute auf von seiner Arbeit und lehnte die Axt gegen die Wand der niedrigen Wellblechbaracke, die zugleich seine Wohnung und die Station Swallowtown der Oregon Railroad darstellte. »Schon 9 Uhr,« brummte er, stopfte aus einer schmierigen Papiertüte seine Pfeife von neuem, setzte sie in Brand und paffte dann blaue Rauchwolken in die klare Luft des heißen Maimorgens. Dann blickte er nach dem Stande der Sonne und konstatierte von neuem, daß seine silberne Nickeluhr stehen geblieben war. Wie ein zufälliger Knoten an einem endlos langen Draht hing dieses wacklige Häuschen an dem schimmernden Doppelbande der Schienen, das von Ost nach West die blumige Prärie durchzog. Es wirkte wie ein lächerlicher Zufall inmitten der weiten Steppenöde, denn irgend ein zureichender Grund dafür, daß der alte Kistendeckel über der Tür die vom Regen verwaschene Inschrift »Swallowtown« trug, war nirgends, soweit das Auge reichte, zu entdecken. Nur ein unweit der Wellblechbude die Schienen kreuzendes breites Band goldgelber Blumen, das sich wie eine zitternde Linie auf der harten Grasnarbe der Steppe nach beiden Seiten in der Ferne verlor, zeigte, daß hier die Radspuren schwerfälliger Wagen den Boden durchwühlt und die Hufe der Pferde ihn zerstampft hatten.

Wenn man dieses seltsame gelbe Zufallsgeleise menschlichen Verkehrs in der tiefen Einsamkeit der Prärie nach Süden verfolgte, so konnte man eine Meile von der Station eine leichte Bodenerhebung bemerken, auf der sich niedriges Gestrüpp und ein hochwucherndes Gewirr von Disteln und Schlingpflanzen erhob: Swallowtown Nr. I, die Stätte, wo einst ein Dutzend oder mehr Menschen, durch den Zufall zusammengeweht, sich eine Heimstätte gegründet hatten, von deren Schicksal heute niemand mehr etwas wußte. Die kleinen Wellen der großen Völkerbewegung auf diesem Neuboden menschlicher Kultur hatten dann nach ein paar Jahren alles wieder hinweggewaschen, hatten aus irgend einem Grunde die Bewohner der Hütten auf ihrem Rücken mit fortgetragen und sie um einige Meilen weiter nach Süden gespült, wo sie durch einen andern Zufall am Ufer des Flusses hängen geblieben waren. Das einzige Dauernde in diesem Flutwechsel war die Wellblechbaracke am Schienenstrange der Oregonbahn und der vom Regen und Sturm langsam sich auflösende stolze Name »Swallowtown« auf dem Kistendeckel über Tom Gardeners Tür.

Tom Gardener betrachtete wohlgefällig das Werk dieses Morgens, an dem er mit der Axt den seit Jahren hinter dem Stationshäuschen liegenden Baumstamm zu einem Pfahl zurecht gehauen hatte, um ihn dann dort einzugraben, damit die Farmer, wenn sie zur Station kamen, ihre Pferde daran anbinden konnten. Tom war es überdrüssig geworden, den eisernen Ring immer wieder an der Außenwand seiner Bude festzumachen, nachdem ihn die wilden Gespanne seiner Passagiere aus Swallowtown schon viermal herausgerissen hatten, wenn die Tiere beim Herannahen des Zuges scheuten. Vorgestern hatten obendrein Bob Cratchits Pferde dabei ein Brett aus der Hinterwand mit von dannen geführt. Tom hatte das satt; er hatte gestern das Loch vorläufig mit einer blechernen Reklametafel geflickt, so daß nun die Rückseite der Station der Oregonbahn den Bewohnern von Swallowtown, wenn sie mit dem Zuge fortwollten, in schreienden Farben verkündete, daß Millners Pillen am besten gegen Verdauungsstörungen seien. Mittags wollte Tom seinen Pfahl eingraben.

Jetzt ließ er die Arbeit ruhen, um wieder zum Stationsdienst zurückzukehren, wenn in einer halben Stunde der Expreßzug von Pendleton durchkam. Aus alter Gewohnheit blickte er noch einmal halb verloren über das gelbe Wegband nach Süden hin, ob nicht trotz des Sonntags ein Fahrgast von Swallowtown für den eine Stunde später fälligen hier haltenden Lokalzug herüber käme. Er beschattete die Augen mit der rechten Hand und entdeckte nach schärferem Hinsehen tatsächlich ganz weit hinten einen Wagen, auf dem zwei menschliche Gestalten langsam über die wogende Fläche der blumigen Prärie heranschwammen. Tom brummte und trappste schwerfällig durch das Stationsgebäude, worauf sein Hund, der draußen in der Sonne geschlafen, sich ihm gewohnheitsgemäß anschloß. Tom ging dann eine Strecke an den Schienen entlang und kehrte nach seiner Behausung zurück, vor der nur die niedergetretenen Blumen und Steppengräser erkennen ließen, daß hier ab und zu eines Menschen Fuß den Frieden dieser Einsamkeit durchmaß. Jetzt schien der Hund Witterung von dem rasch heranrollenden Wagen bekommen zu haben und schlug nach dieser Richtung an. Tom schickte ihn ins Haus und machte die Tür hinter ihm zu, worauf der Hund im Innern der Bude wütend zu rasen begann. Fast lautlos über den weichen Blumenteppich der Prärie rollte der Wagen heran. Bald hörte man deutlich das Knarren und Janken des Lederzeugs und das Schnauben der Pferde.

»Hallo, Tom!« grüßte ihn einer der Männer.

»Hallo, Winston!« gab dieser zurück. »Wohin?«

»Hinüber nach Pendleton.«

»Kommt zu früh, erst muß der Expreß durch!« antwortete Tom.

Winston sprang vom Wagen herunter, nahm einen Sack über die Schulter und trat an die Wellblechbude heran.

»Wer ist der Gentleman?« fragte Tom, mit dem Daumen über die rechte Schulter weisend.

»Nellys Schwager, Bill Parker,« antwortete der andere kurz.

Nellys Schwager wollte mit dem Wagen schon Kehrt machen und in der Richtung nach Swallowtown zurückfahren, da legte Tom beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und rief hinüber: »Will der Gentleman mir nicht die Ehre geben, einen Trunk zu nehmen.«

» Allright,« klang es zurück und Nellys Schwager lenkte die Pferde bis hinter die Station.

»Ja, der Ring ist fort,« sagte Tom, »den haben mir vorgestern Bob Cratchits Pferde entführt, könnt ihn da draußen wo suchen.«

Bill sprang vom Wagen herunter und machte die Pferde mit einem Strick fest, den er um den von Toms Axt behauenen Baumstamm schlang.

»Kommt Jungens!« sagte Tom und ging voran in das Haus. Kaum hatte er die Tür geöffnet, so sauste sein Hund in wilden Sprüngen an ihm vorbei ins Freie, etwa hundert Yards hinter der Station etwas mit allen Lungenkräften anbellend. »Hat wohl einen Goffer (Präriehamster) gewittert,« meinte Tom, worauf alle drei in die Hütte eintraten, wo Tom aus einem Wandschranke eine halbgefüllte Whiskyflasche herausnahm und seinen Gästen in einer henkellosen Tasse, einem Rasiernapf und einem Blechbecher einen Trunk kredenzte.

»Noch zehn Minuten,« sagte Tom, »dann soll der Expreß kommen,« und nun begann der gewöhnliche Schwatz über die alltäglichen Nichtigkeiten des Farmerlebens, über Getreide- und Viehpreise und Jagderlebnisse. Tom horchte inzwischen durch die offene Tür immer wieder hinaus, ob der Zug, dessen Zeit längst vorüber, noch nicht käme, bis der Wind krachend die hintere Tür zuschlug. Bill Parker, der seinerseits jetzt die beiden anderen zu einem Trunk einlud, erzählte, wie er seine Fohlen mit glänzendem Profit losgeschlagen hatte, und Bob erging sich in geheimnisvollen Andeutungen über ein Riesengeschäft, das er morgen in Pendleton vorhabe. Bill hatte ab und zu ein Auge auf seine beiden Pferde, die er gerade durch das Fenster in der Rückwand der Wellblechbude sehen konnte.

Tom warnte: »Laßt sie euch nur nicht durchgehen, wenn der Expreß kommt, so frische Pferde gehen hier meistens auf und davon.«

»Gott bewahre,« sagte Bill Parker und blickte nochmals durch das offene Fenster hinaus, »aber sie sind merkwürdig unruhig.«

»… Also zwanzig Dollars wollte er geben?« fragte Tom, das Gespräch von vorhin wieder ausnehmend, nach Bill hinüber.

Der gab keine Antwort und sah aus dem Fenster.

» Let us drink, gentlemen!« ermunterte jetzt Tom, indem er mit seinem Rasiernapf an Bills Blechbecher stieß.

»Entschuldigt einen Augenblick,« antwortete der zerstreut, »ich muß zu meinen …«

Bill war aufgestanden und wollte zur Tür, blieb aber wie gebannt halbwegs zwischen dem Tisch und der Tür stehen, den Blick starr auf das offene Fenster gerichtet, wobei seine Augen einen gläsernen Ausdruck annahmen. Die beiden anderen sahen erstaunt auf ihn und folgten seinen Blicken, aber auch sie erschraken jäh, als sie durch das Fenster sahen.

Ja, es war noch dasselbe Fenster wie vorher, und dahinter standen auch noch die beiden stampfenden und schnaubenden Pferde vor demselben Wagen, der vorher dort gestanden hatte. Aber auf dem unteren Rand des Fensters lagen zwei Dinger, wie schwarze, borstige Igel und unter ihrem Stachelfell funkelten zwei Paar feindselige Augen und zwei Gewehrmündungen schoben sich langsam und gleichsam wollüstig zögernd über den unteren Rand des Fensters in das Innere der Bude hinein. In demselben Moment bewegte sich der Türdrücker; die Tür wurde aufgerissen und in dem blendenden plötzlich hereinflutenden Sonnenlicht erschienen zwei andere Kerle in gelbbrauner Kleidung ebenfalls mit Flinten bewaffnet, » Hands up, gentlemen!« rief der eine von ihnen drohend hinein.

Mechanisch folgten die drei dem Befehl, wobei Tom ganz in Gedanken seinen Rasiernapf mit emporhob, so daß der schöne Whisky ihm am Arme herunter in seinen Rock floß. Tom machte ein furchtbar dummes Gesicht. Bill fand zuerst die Fassung wieder und fragte scheinbar gelassen: »Was wollen die Gentlemen?« wobei er stillschweigend für sich konstatierte, daß die beiden Kerle in der Türöffnung Soldatenmützen mit breitrandigem Schirm trugen, wahrscheinlich ein neuer Brigantentrick.

Die da draußen unterhielten sich in einer unverständlichen Sprache, worauf ihr Anführer, der nur mit einer Browningpistole bewaffnet war, in die Hütte hineinfragte: »Wer von den Gentlemen ist der Stationsbeamte?« Tom senkte seinen Rasiernapf und trat vor, worauf ihm sofort das scharfe Kommando wieder entgegenschallte » hands up!«

Bei diesem Schritt gegen die Tür hatte aber Tom gesehen, daß draußen mindestens ein Dutzend von diesen braunen Gesellen hinter der Wand seiner Wellblechbude stand. Gleichzeitig sah Tom wie sein Hund mit eingezogenem Schwanz draußen herumschlich, an irgend etwas würgend. Er rief den Hund an, worauf dieser auf dem Boden zu ihm hinkroch, anscheinend vergebliche Versuche zum Bellen machend.

»Verfluchte Bande,« knurrte Tom vor sich hin, »wieder die alte Sache, haben ihm offenbar das Zeug zu fressen gegeben, was den armen Kerl am Bellen hindert.«

Jetzt wandte sich der mit dem Browning an Tom und sagte: »Ist der Expreß schon durch?«

»Nein.«

»Nein?« »Er sollte doch um 9.30 passieren.« Der Brigant zog seine Uhr, »schon nach 10 Uhr« bemerkte er für sich. »Und wann kommt der Lokalzug von Umatilla?«

»Sollte um halb elf hier sein.«

»Der Expreß,« begann der andere wieder zu Tom, »passiert also ohne zu halten? Gut. Sie gehen jetzt, als wäre nichts vorgefallen, hinaus und lassen den Expreß vorüber! Die beiden andern bleiben indessen hier im Stationshause, und meine Leute werden dafür sorgen, daß sich niemand rührt. Bei der ersten Bewegung können Sie nur für morgen ihr Begräbnis ansagen.«

Die beiden igelborstigen Kerle am Fenster blieben unbeweglich stehen und verfolgten grinsend die Vorgänge in der Hütte. Die beiden Leute aus Swallowtown mußten sich mit hochgehobenen Händen an die Wand gegenüber dem Fenster stellen, wobei die Flintenläufe auf der Fensterbrüstung im Anschlag auf sie gerichtet blieben. Winston hatte Zeit genug gehabt, die beiden Briganten in der Fensteröffnung genau zu studieren, es mochte ihm jetzt wohl etwas davon aufdämmern, um was für eine Sorte von Räubern es sich hier handle; er sagte leise zu Tom: »Es sind Japaner.«

Das Wort »Japs« mochte leise gemeint sein, der mit dem Browning hatte es aber doch erhascht. Er wandte sich schnell um und sagte noch einmal in bestimmtem Tone: »Wer sich rührt, ist in derselben Sekunde tot.«

Dann ließ er Tom aus der Stationsbude heraustreten, ließ ihn noch zusehen, wie zwei von seinen Leuten den Fensterladen der Hütte, der nach dem Schienengleise ging, öffneten und an der Seite und unten zwei längliche Löcher hineinschnitten, in die sie die Mündung ihrer Gewehrläufe hineinsteckten. Dann wurde Bills Wagen hinter dem Stationshause hervorgeschoben, so daß nur die Pferde noch von diesem gedeckt blieben. Einer von den Kerls hielt die Pferde, damit sie nicht durchgingen, wenn der Zug kam, und zwei Bewaffnete stiegen in den Wagen und kauerten sich dort schußbereit hin, sich mit zwei Strohsäcken nach der Seite des Bahnkörpers gegen Sicht deckend. Dann gab der Anführer Tom noch einmal die Anweisung, er solle wie immer vor dem Stationshause stehen, wenn der Zug herankäme. Sowie er irgend eine Bewegung mache, die den Zug zum Halten veranlassen könnte oder wenn er überhaupt den Mund aufmache, so werde nicht nur er, sondern auch die Insassen des Zuges das mit ihrem Leben zu büßen haben.

Ding – Dang – Dong … machte der Bahntelegraph, Ding – Dang – Dong … Der mit dem Browning sah in seinem Notizbuch nach und fragte Tom: »Was ist das für ein Signal? Wo ist der Expreß jetzt?« Tom antwortete nicht.

»Gehen Sie auf den Bahnsteig!« herrschte ihn der andre an. Mit einen scheuen Blick den Schienenstrang entlang vergewisserte sich Tom, daß die Stelle hinten, wo die beiden in der Sonne silberhell flimmernden Schienenbänder zusammenflossen, noch leer war. Also noch eine kurze Gnadenfrist. Dann begann er langsam auf und ab zu wandern. Fünfzehn Schritte vorwärts, fünfzehn zurück, achtzehn Schritte vorwärts, zwanzig Schritte zurück. Wenn er dem Zuge entgegenliefe …

»Hallo! Wo wollen Sie hin?« rief ihn der Führer an, »Sie gehen nicht fünf Schritte über das Stationsgebäude hinaus!«

Fünfzehn Schritte vor, fünfzehn Schritte zurück. Und wenn er nun doch hinüber sprang und an den Schienen entlang lief. Was kam denn auf ihn an, ohne Weib und Kind, einer von Millionen. Ja, er wollte den Mann auf der Maschine anrufen. Und wenn sie schossen, die dort oben hatten auch vielleicht Revolver. Jetzt müßte doch der Expreß kommen, es mußte bald halb elf sein. Swallowtown, las er mechanisch auf dem alten Kistendeckel.

In der Stationsbude war es vollkommen still. Wenn der Zug kam, ob sie treffen würden? Er strich mit den Blicken an den Rändern des alten wackligen Fensterladens hinauf. Da, ein weißer Kerbschnitt in das Holz unten und darüber das Wellblech unauffällig ein ganz klein wenig auseinandergebogen und darunter ein ganz kleiner schwarz-brauner Ring, und da oben am seitlichen Rande wieder eine kleine Lücke. Hier klaffte das Blech etwas stärker auseinander und wieder ein kleiner schwarz-brauner Ring.

Und wenn er dann anrief … Er würde anrufen! … Dann sprühte aus diesen beiden kleinen schwarz-braunen Ringen ein Feuerstrahl … Wenn er vorher nur dem Mann auf der Maschine alles zugerufen hatte … dann mochte es sprühen.

Häßlich solche Wunden auf dem Rücken! In der Schule früher, ganz früher, da hatte wohl jemand einmal erzählt von den Wunden auf dem Rücken und auf der Brust. Die einen waren schimpflich, weil man nämlich auf der Flucht war … Er war nicht auf der Flucht, er konnte hier retten.

Zitterten die Schienen schon? Noch vier Schritte, dann eine ganz ruhige Wendung, einmal in die Luft gesehen, einmal weit über die Prärie … Er wußte ja, daß die Augen hinter den kleinen schwarz-braunen Ringen ihn genau verfolgten … Jetzt an dem Schienenstrang entlang … ganz weit hinten? Nein, noch nichts. Er ging an dem Stationsgebäude vorüber, jetzt die Schienen wieder entlang und sah links über die Prärie in die Luft.

Jetzt fühlte er mit den Blicken an dem Wagen herum, er stand ganz ruhig, da lagen die Säcke. Richtig, zwischen diesen beiden Säcken wieder so ein Igelborsten-Kopf! Was die Kerle nur wollten, woher sie kamen? Japaner hatte Winston gemeint … War das ein Krieg? Unsinn, wo sollten die Kerle hier über Land soweit herkommen. Neulich hatte einer erzählt, daß man einen Trupp Japaner ganz weit unten in Nevada gesehen habe, sie wären aber bald im Gebirge verschwunden. Das war jetzt acht Wochen her. Waren das dieselben?

Das konnte doch kein Krieg sein. Ein Krieg fing am Ende des Landes an, nicht mitten drinnen. Es sollten ja alles gediente Soldaten sein, die japanischen Einwanderer, so sagte man. Hatten sie denn ihre Waffen mit? Diese hatten sie mit! Jetzt wieder die Wendung. Richtig, da kam der Zug. Hinten hob sich jetzt, ganz weit hinten auf den beiden Schienenbändern, ein schwarzes Viereck, das ganz langsam breiter und höher wurde. Herrgott, wenn die nächsten zehn Minuten doch erst zu Ende wären, wenn man so zehn Minuten aus seinem Leben herausstreichen könnte! Nur zehn Minuten älter! Nur daß man schon von der anderen Seite auf diese zehn Minuten zurücksehen könnte! Nein, man mußte das Schreckliche Sekunde für Sekunde durchleben, durchkosten, man mußte jeden Augenblick mit dabei sein. Was wohl aus den beiden dort drinnen dann würde? Auf die kam es ja schließlich nicht an. Überwältigen konnten sie die anderen nicht, ohne Waffen. Jetzt vielleicht noch Tausend Yards, dann war alles da. Und dann noch Tausend Yards, da war er entweder ein Haufen von Fleisch und Knochen und wußte nichts mehr, oder …

Jetzt dröhnten die Schienen schon, er hörte ganz von Ferne her das leise Rauschen der heransausenden Masse von Eisen und Stahl. Und nun fing ganz leise aber durchdringend die Glocke der Lokomotive an … Bim Bim Bim Bilim Bim Bim Bilim Bim Bim … Er warf noch einen scheuen Blick auf die beiden schwarz-braunen Ringe, noch vier Schritte, er sah noch einmal über den Wagen hin. Das nächste Mal …

»Stellen Sie sich gerade vor das Stationshaus und lassen den Zug passieren!« tönte es hinter ihm. Mechanisch gehorchte er.

»Näher an das Stationshaus, direkt an die Wand!« Er gehorchte.

Alle Muskeln spannten sich. Wenn er jetzt vorsprang, wenn er vielleicht im sausenden Fluge irgend etwas von dem Zuge erhaschte, irgend einen Türgriff, nur irgend etwas, dann mochten sie schießen. Es dröhnte und sauste in der Luft, er hörte den rasch anschwellenden Donner der Räder auf den Schienen. Dumpf dröhnte die Glocke Bam Bam Bam … Riesengroß wuchs die Lokomotive und die hinter ihr tosende und polternde Wagenreihe vor seinen weitoffnen Augen empor.

Totenstill war es im Hause, jetzt zitterten die Schienen, jetzt hörte er den sausenden Dampf und das Rasseln des Gestänges, er sah, wie kleine flatternde Dampfstreifen oben um den Kesseldom spielten. Er wandte den Blick nach oben, wie eine schwarze Wand rückte der Expreß heran. Sausen, Poltern und Hämmern auf den Schienen. Ja, er wollte springen, nun war die Lokomotive vor ihm! Der rasche Luftstrom benahm ihm fast den Atem. Jetzt galt es!

Der Maschinist bog seinen Kopf aus der Fensterluke des Führerstandes heraus. Jetzt!! Tom krümmte sich zusammen. Mit einem gewaltigen Sprung übersprang er den schmalen Streifen vor seiner Blechbude und flog wie ein Ball gegen die vorüberrasende Reihe von Türgriffen und Wagen und Stangen und Rädern. Er fühlte, wie seine Hand einen Widerstand fand, überall glatte Wände, glatte Flächen. Da, irgend etwas hatte er jetzt in der Hand! Mit einem gewaltigen Schwung wurde Toms Körper nach links gerissen und schlug mit dem Rücken irgendwo an. Tom fühlte, wie etwas unten an ihm zerbrach. Wie im Traum hörte er durch den Höllenlärm des rasselnden Eisenwerkes zwei Schüsse knallen.

Zu spät! Tom hing an einem Griff zwischen zwei Wagen und wurde widerstandslos mit fortgerissen. Fast ohne Besinnung hörte er unter sich die Räder unter dem Druck der Bremsen laut aufheulen, wild wurde er hin und her geschleudert. Seine Hand hielt fest wie mit einer eisernen Klammer. Die Räder knurrten, knirschten und brummten unwirsch. Der Zug fuhr langsamer! Gewonnen! Der Zug stand.

Wie leblos fiel Toms Körper zwischen zwei Wagen nieder auf die Schienen. Tom hörte die Tritte vieler Leute um sich, man sprach mit ihm, man fragte. Krampfartig schlossen sich seine Kinnladen zusammen, er konnte nicht sprechen. Er fühlte, wie ein Flaschenhals zwischen seine Lippen geschoben wurde, er trank. Irgendwas Scharfes, irgendwas Krampflösendes war's, was er gierig in sich sog. Und dann schrie er plötzlich hinaus, daß alle entsetzt zurückfuhren: »Japaner haben die Station überfallen.«

Erregte Fragen wurden laut. Woher? und wohin? Tom schrie noch einmal: »Rettet die beiden, sie sind im Stationsgebäude eingesperrt!« Es kamen noch mehr Leute. »Schnell, schnell!« rief er, »schieben Sie den Zug zurück, retten Sie die Leute!«

Tom wurde in einen Wagen hineingehoben und fühlte, wie er auf einen weichen Polsterstuhl gelegt wurde. Ein paar Fahrgäste standen um ihn mit Revolvern in der Hand: »Sagen Sie, wo es ist! Sagen Sie, wo die Leute sind!« Langsam fuhr der Zug zurück, langsam glitten die Telegraphenstangen an den Fenstern nach der anderen Richtung vorüber.

Jetzt waren sie da, Tom hörte wildes Geschrei auf dem Bahnsteig. Dann wurde wieder eine Tür aufgerissen und jemand schrie ihn an: »Wo sind die Banditen?« Man hob Tom auf, er konnte nicht stehen, sein rechtes Schienenbein war zerschmettert. Man stützte Tom, man machte eine Tragbahre und trug ihn hinaus. Dutzende von Menschen standen um das Stationsgebäude. Der Wagen war fort, die Pferde waren fort. Wohin? Die weite Öde der Prärie gab keine Antwort. Ja, man sah im Sande noch die Fußspuren vieler Leute, wenigstens ein Beweis, daß Tom nicht geschwindelt. Er zeigte die von den Banditen geschnittenen Lücken in den Fensterläden, erzählte ein Dutzend Mal den ganzen Hergang, bis ihn wieder eine Ohnmacht umfing. Alles war leer, ihm selber kam das Ganze wie ein wüster Traum vor, wie eine wilde Phantasie aus einem Räuberroman, als er eine halbe Stunde später mit dem Expreß in dem bequemen Pullmanwagen nach Umatilla fuhr, um dort seine Erlebnisse noch einmal zu wiederholen, damit von dort aus die freilich ziemlich aussichtslose Verfolgung der Banditen unternommen werden konnte.


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