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II

Als Karsten Froms Haushälterin gegen zehn Uhr mit dem Rasierwasser und dem erwärmten Badetuch in sein Schlafzimmer gekommen war, hatte er sich nicht unpäßlicher gefühlt wie gewöhnlich, ehe das kalte Sturzbad und eine kräftige Abreibung die Schwermut des Erwachens vertrieben hatte. Als er aber eine halbe Stunde später in seinem Wohnzimmer neben dem Atelier saß, in einen seidenen, chinesischen Schlafrock gehüllt, den Morgenkaffee auf einem Tischchen neben sich, entdeckte er bald, daß die finstere Gemütsstimmung, die ihn in der Nacht wach gehalten, ihn noch nicht verlassen hatte.

Er zündete eine Zigarre an und nahm die Zeitung, die neben dem Teebrett lag, aber aus Furcht, eine neue boshafte Notiz über »Kunstgroßhändler From« zu finden, legte er sie gleich wieder hin.

Ein paar Stunden später, als er bei seiner Arbeit stand, klingelte das Telephon. Es war der Jägermeister, der ihn vom Reichstag aus anrief, um ihm mitzuteilen, daß er und seine Cousine um zwei Uhr kommen würden. Im ersten Augenblick wollte er es nicht glauben, dann aber machte er sich geschäftig daran, seine Wohnung mit Blumen zu schmücken und überhaupt einen festlichen Empfang vorzubereiten.

Von den kühnsten Hoffnungen erregt, hatte er nun eine halbe Stunde auf sie gewartet.

Als er vom Flur aus die Stimme des Jägermeisters auf der Treppe hörte, ging er selbst hinaus, um sie zu empfangen. Auf seine orientalische Weise, die Hand auf der Brust, dankte er Jytte für die große Ehre und hieß sie willkommen.

Schon auf dem Wege dahin hatte Jytte angefangen, ihre Kühnheit zu bereuen. Sie mußte mit ihrer Nervosität kämpfen, und wenn sie an die Unruhe der Mutter dachte, empfand sie Gewissensbisse. Sie hatte auch bestimmt von dem Vetter verlangt, daß der Besuch ganz kurz sein sollte.

Der Jägermeister führte sie sofort vor die beiden großen Kohlenskizzen, die auf Staffeleien mitten im Atelier aufgestellt waren. Davor standen ein paar vergoldete Stühle. Die eine Skizze apotheosierte ihn auf der Rednertribüne des Folkethings im zugeknöpften, schwarzen Rock, einige Papiere in der Hand. Auf der andern war er in seiner Laboratoriumstracht dargestellt, in dem weißen Kittel und dem schwarzen Samtbarett. Er hielt eine Kartoffelblüte in der Hand, und auf einem Tisch waren ein Mikroskop und andere Instrumente angedeutet. Der Blick, der auf beiden Bildern von Mut und Entschlossenheit blitzte, war auf den Beschauer gerichtet.

»Setze dich jetzt, Jytte, und sieh es dir an!« sagte er. »Und nun sprechen wir kein Wort ... Schweigen, solange das Gericht tagt.«

Jytte hatte Mühe, gute Miene zu machen. Sie war empört über Karsten From und fragte sich selbst, ob er sie für dumm hielt, da er sie aufgefordert hatte, bei dieser künstlerischen Bauernfängerei mitzuspielen.

Ihr Blick suchte ihn einen kurzen Augenblick. Er saß auf der Lehne eines Stuhles und hatte die Augen auf eine Weise niedergeschlagen, als habe er ihre Gedanken erraten. Sie mußte an einen Falschspieler denken, der aus Verlegenheit lächelt, als er merkt, daß er entdeckt ist.

»Nun, was sagst du denn?« fragte der Vetter, der hinter ihrem Stuhl stand und trippelte. »Jetzt mußt du dich wirklich äußern! Findest du die Ähnlichkeit gut? Du sollst deine Ansicht geradeheraus sagen. Das Licht im Auge! Findest du nicht, daß es ähnlich ist?«

Sie griff nach Ausflüchten. Obwohl sie sich über ihn schämte, konnte sie sich nicht entschließen, ihn Karsten From gegenüber bloßzustellen, wollte vor allen Dingen nicht scheinen, als stünde sie im heimlichen Einverständnis mit ihm, und antwortete, daß sie an beiden Bildern allerlei Gutes finde, daß aber auch eine Menge daran auszusetzen sei.

»Aber jetzt die Wahl! Die große Entscheidung, Jytte!«

Statt zu antworten, sah sie sich mit einem forschenden Blick im Atelier um und betrachtete die vielen halbfertigen Gemälde und Kohleskizzen. Auf einer Staffelei, dicht neben ihr, stand das lebensgroße Porträt einer jungen Weltdame in einer mondscheinblauen Gesellschaftstoilette mit der virtuosenhaften Tüchtigkeit in der Wiedergabe von Seidenstoffen, Goldbrokat und Juwelen gemalt, die Karsten From zu dem Lieblingsmaler der vornehmen Welt gemacht hatte. Ein Stück falscher und leerer Bravourkunst. Auf einer andern Staffelei sah man einen frisierten Husarenoberst in Galauniform männlich auf einen Pallasch gestützt, und daneben stand ein alter Bischof mit großen blauen Augen, die um die Wette mit ein paar Ordenssternen auf seinem schwarzen Samtornat von zum Himmel gehobener Frommheit leuchteten.

Und plötzlich war es Jytte, als verstehe sie die Absicht. Wenn die Menschen so wild begeistert für den Betrug waren, warum dann ihnen dies Glück nicht gönnen? Mundus vult decipi; ergo decipiatur. Das war ja sogar ein päpstlicher Ausspruch.

In einer Ecke des Ateliers, ganz an die Wand gerückt, stand das Brustbild einer schönen, brünetten, üppigen Dame, die ebenfalls in Gesellschaftstoilette war. Trotz des verborgenen Platzes dieses Bildes war es ihr sofort aufgefallen, aber sie vermied es, dahin zu sehen, weil der Anblick des tief ausgeschnittenen Kleides ihr unangenehm war. Jetzt hatte sie außerdem entdeckt, daß sie die Dame kannte. Es war eine Frau Merck, die Gattin eines der reichsten Juweliere der Stadt.

»Also die Entscheidung!... Die Entscheidung, Jytte!« ermunterte der Vetter sie wieder. »Ich lege sie ganz und gar in deine Hand.«

Jytte mußte mit Anstrengung ihre Gedanken sammeln, um dieser peinlichen Situation ein Ende zu machen. Aufs Geratewohl schlug sie ihm vor, das Bild mit dem weißen Arbeitskittel zu wählen. »Das wirkt am traulichsten,« sagte sie.

»So, meinst du das!« lautete die etwas unzufriedene Antwort. »Meinst du das wirklich?... Findest du aber nicht, daß das andere repräsentativer ist? Und glaubst du nicht, daß Wilhelmine sich aus dem Grunde mehr darüber freuen würde? Ist es nicht eigentlich auch das bestgetroffene in bezug auf die Ähnlichkeit?«

»Aber lieber John, so wähle doch das!« sagte Jytte, die immer peinlicher berührt wurde von seiner Lächerlichkeit. Sie begriff sehr wohl, daß er töricht verliebt in beide Bilder war und nur unglücklich darüber, daß er sich damit begnügen mußte, nur das eine in Lebensgröße ausgeführt und auf der Frühlingsausstellung ausgestellt zu sehen.

»Sagen Sie doch selbst etwas, From!« sagte er schließlich. »Sie müssen doch – zum Kuckuck! – auch eine Meinung haben.« Der Maler erhob sich von der Stuhllehne.

»Ich möchte vorschlagen, daß die Frage durch das Los entschieden wird. Das ist ein Ausweg, den ich zu empfehlen pflege, wenn, wie in diesem Falle, Schwierigkeiten bei der Entscheidung entstehen.«

Der Jägermeister ging etwas widerwillig auf den Plan ein. Mit Hilfe von zwei Streichhölzern wurde die Sache darauf zugunsten des Bildes entschieden, das Jytte gewählt hatte. Im selben Augenblick kam die Haushälterin mit einer Visitenkarte für Karsten From herein. Er warf einen Blick darauf und sagte:

»Kenne den Herrn nicht... Sagen Sie bitte Herrn Frandsen, daß ich beschäftigt bin und ihn nicht empfangen kann!«

Der Jägermeister, der in wehmütige Betrachtung des verworfenen Porträts versunken dagestanden hatte, wandte sich beim Klang des Namens um und sagte: »Frandsen! Ist der da draußen? ... Das hatte ich ja ganz vergessen, Ihnen zu sagen, From! Er ist ein Jugendfreund von mir – Waldtaxator Frandsen. Ich klingelte ihn an, weil er so gern mein Bild sehen wollte. Ich hoffe, es stört nicht –«

»Gott bewahre! – Führen Sie also den Herrn herein, Fräulein Svendsen,« sagte Karsten From, ohne seinen Ärger zu verbergen.

Als die Haushälterin gegangen war, fuhr der Jägermeister fort: »Ich tue gewiß am besten daran, Sie darauf vorzubereiten, daß mein Freund ein wenig einfältig und töricht ist. Im übrigen aber ist er ein gutmütiger und herzensbraver Mensch, der stolz darauf sein wird, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Mit dieser Empfehlung trat Herr Frandsen gleich darauf in korrekter Visitentoilette ein und begrüßte den Hausherrn, Jytte und schließlich auch seinen Freund mit einer stummen Neigung des Kopfes und Zusammenschlagen der Absätze. Er hatte frische Bügelfalten an den Beinkleidern, ein Chrysanthemum im Knopfloch und hielt außerdem einen leichten Stock in der Hand, was ihm einen streng vorwurfsvollen Blick von dem Jägermeister einbrachte. Als er das sah, erklärte er in großer Verlegenheit, der Visitenstock sei eine neue ausländische Mode, welche auch hier im Begriff sei, in den feinsten Kreisen Eingang zu finden.

»Aus Rücksicht auf Herrn Froms Bilder wirst du uns doch vielleicht die Freundlichkeit erweisen, den Spieß wegzustellen,« sagte der Jägermeister und sah die andern mit einem Kopfschütteln an, während Herr Frandsen – errötend wie ein gemaßregelter Schuljunge – den Stock in einer Ecke unterbrachte. Das Verhältnis zwischen den beiden Freunden hatte sich im übrigen nach den Reibungen des Sommers wieder zurechtgezogen. Wie der Jägermeister jetzt überhaupt das Dasein in einem verklärten Licht sah, hegte er auch keine weitere Besorgnis mehr um sein eheliches Glück. Obwohl Frandsen eine Anstellung im Landwirtschaftlichen Ministerium erhalten hatte und – auffallenderweise – ungefähr gleichzeitig mit seiner und Wilhelminens Übersiedelung nach Kopenhagen verzogen war, fand er es jetzt fast komisch, wenn er daran dachte, daß er im Sommer wirklich ein wenig eifersüchtig auf ihn gewesen war.

Jytte hatte sich erhoben und wartete nur auf eine Gelegenheit, dem Vetter einen Wink zu geben, daß sie zu gehen wünsche. Aber der Jägermeister hatte seinen schwachhirnigen Freund vor die Skizzen gezogen, um auch seine Meinung zu hören, und sofort näherte sich Karsten From ihr, um sie so lange zu unterhalten.

Er war noch immer auf eigenartige Weise gedämpft, fast verzagt. Sie bemerkte, daß er es beständig vermied, sie anzusehen. Und sie dachte, wie schon so oft früher: »Was ist er doch für ein geheimnisvoller Abenteurer, der sein Wesen wechselt wie ein Chamäleon, und aus dem nicht klug zu werden ist.«

Die Tür zum Wohnzimmer war geöffnet, und von dort, wo sie stand, konnte sie dahinein sehen. Die elegante Junggesellentraulichkeit sagte ihr zu. An der Wand, über einem französischen Kamin, hingen drei kleine Bilder, die besonders ihre Aufmerksamkeit fesselten. Es waren Studien von Landschaften und Tieren mit ungewöhnlich prachtvollen Farben.

Aus ihre Frage erzählte er, es sei ein glücklicher Fund, den er aus Paris heimgebracht hatte. Die Antwort enttäuschte sie. Sie hatte gedacht, daß es möglicherweise einige von den Freilichtstudien sein könnten, die seine Kunstbrüder in Skagen so gerühmt hatten.

Um seiner Aufforderung zuvorzukommen, ging sie selbst hinein und betrachtete die Bilder aus der Nähe. Sie fragte ihn jetzt, ob er niemals dergleichen gemalt habe, sondern ausschließlich bestellte Porträts ausführe.

Er antwortete, indem er ihr erzählte, daß er diese Meisterwerke seinerzeit für fünfzig Francs das Stück gekauft habe. »Für fünfzig Francs? ... Aber Janet ist doch ein berühmter Name!« sagte Jytte.

»Sicher. Das wurde er aber erst zehn Jahre, nachdem der Meister verhungert in einer Dachkammer gefunden worden war. Folglich hat er nicht mehr viel Vergnügen davon gehabt.« »Ach! hätte er doch noch gelebt!« sagte Jytte. »Dann hätte er die Befriedigung, sich von der ganzen Welt anerkannt zu sehen.« »Das hätte er natürlich. Aber es würde ihm wahrscheinlich keine große Freude bereitet haben. Er hätte sich nur über die talentlosen Leute geärgert, die ebenso berühmt wurden wie er, weil sie gute Preßverbindungen hatten. Wir haben ja auch dergleichen Erscheinungen hierzulande. Karl May zum Beispiel. Sie kennen seine Bilder doch?«

»Ja – Karl May!«

»Er gehört ja jetzt zu den großen Namen. Er wandert jeden Tag ungewaschen und unrasiert in den belebtesten Straßen auf und nieder, einen alten Hut auf dem Kopf. Folglich ist er ein künstlerisches Genie. Um den Ruhm aufrechtzuerhalten, drückt er von Zeit zu Zeit eine Menge Farben aus seinen Tuben auf ein Stück Leinwand und läßt dann die Leute erraten, was der Heringssalat bedeuten soll. Sie wissen ja selbst, wie sich der Spektakel einmal über das andere wiederholt. Das Publikum strömt herbei, und wenn das Ärgernis seinen Höhepunkt erreicht hat, geraten sich die Kritiker in die Haare, und das Spiel ist im Gange. – Nein, der Ruhm ist das eigentliche Martyrium des genialen Künstlers, weil man ihn mit allzu vielen Affen teilen muß.«

Jytte hörte diese bittere Selbstverteidigung ein wenig verwundert an. Aber sie verstand ihn, und es lag etwas in seinem Ton, das Eindruck auf sie machte, ein trotziges Einsamkeitsgefühl, das sie selber kannte.

»Jytte!« sagte der Jägermeister, der im selben Augenblick mit Herrn Frandsen hereinkam. »Du mußt nicht böse werden, aber sowohl Herr Frandsen als auch ich finden, daß das Bild aus dem Reichstagssaal vorzuziehen ist. Es ist – wie Frandsen sehr richtig sagt – monumentaler. Ich meine also, daß wir uns daran halten sollten.«

Jytte konnte sich nicht entschließen zu antworten, aber sie gab ihm jetzt zu verstehen, daß sie gehen wolle.

Im selben Augenblick kam die Haushälterin mit einer Teeanrichtung auf einem Präsentierbrett herein. Um nicht unhöflich zu scheinen, war sie genötigt, eine Tasse Tee zu nehmen, aber sie dachte wieder an ihre Mutter und war unruhig.

»Sie wohnen, weiß Gott, gemütlich,« sagte der Jägermeister, als der Tee herumgereicht und die Haushälterin gegangen war. »Und Sie verstehen es, sich einzurichten! Aber Sie sind auch der erste Künstler der Jetztzeit ... Sicher! Sie brauchen nicht so bescheiden mit dem Kopf zu schütteln. Sie wissen das ja sehr gut selbst. Sie sind unser größtes Genie auf dem Gebiete der Porträtmalerei.«

Er legte die Hand auf die Schulter seines Freundes und fuhr fort: »Schade, Frandsen, daß du nicht für irgend etwas Talent hast. Stelle dir vor, wenn du hier so hübsch wohnen könntest, statt in deiner Zweizimmerwohnung im fünften Stockwerk zu sitzen und von neun bis elf Uhr dein eigenes Stubenmädchen zu sein. – Was sagst du, ist das Unsinn? Aber Gott bewahre! Du willst doch nicht leugnen, daß ich dich neulich mit einer grünen Latzschürze und einer Handeule in der Hand überraschte? ... Mein Gott, warum errötest du darüber, lieber Frandsen? Das ist doch nichts, weswegen du dich zu schämen brauchst. Es ist ja eine vollkommen ehrliche Sache, daß man nicht in der Lage ist, weibliche Bedienung zu halten.«

Herr Frandsen zog sich mit einem gebildeten Kopfschütteln zurück. Die Haushälterin kam wieder herein und meldete, die Oberstin Mynster und Fräulein Töchter seien gekommen, um das Bild des Herrn Oberst zu sehen.

Karsten From wandte sich heftig nach ihr um und sagte, daß er die Damen nicht empfangen könne, – sie müßten ein andermal wiederkommen. Er sprach mit einer Unbeherrschtheit, die Jytte in Erstaunen setzte. Sie kannte ihn nicht von dieser Seite.

»Sie wollen doch nicht gehen!« sagte er, als er sah, daß sie dem Jägermeister abermals einen Wink gab.

»Freilich. – Du hattest mir ja versprochen, die Zeit innezuhalten, John!«

»Mein Gott, Jytte, jetzt, wo es hier so gemütlich ist. Hat es denn wirklich eine solche Eile?«

»Ja.«

Als Jytte Lebewohl sagte, reichte sie Karsten From zum ersten Male die Hand. Während der ganzen Zeit, daß sie einander gekannt, hatte sie es vermieden, weil sie gesehen, wie er auf ausländische Weise sich die Freiheit nahm, den Damen die Hand zu küssen.

Bei dieser Gelegenheit unterließ er es jedoch und begnügte sich mit einer zeremoniellen Verbeugung. Überhaupt vergaß er sich ein wenig, wurde stumm und verstimmt wie ein verhätscheltes Kind, das nicht seinen Willen bekommt. Jytte aber hatte durch den Handschuh das nervöse Zittern seiner Hand gespürt.

Unten auf der Straße sagte der Jägermeister zu Jytte, nachdem Herr Frandsen sich verabschiedet hatte:

»Was soll ich mit ihm anfangen? Ich führe ihn in die besten Kreise ein, und überall macht er sich lächerlich. So zum Beispiel heute ... Diese Albernheit mit dem Stock. Wenn man einen Menschen gern hat – und ich habe Frandsen gern, er ist gewissermaßen mein einziger Freund –, dann kann man es doch nicht lassen, sich über so was zu ärgern. Ich habe es ihm wieder und wieder gesagt: Ein Mensch hat keine Verantwortung dafür, daß er unbegabt oder ungeschickt oder buckelig geboren ist, aber es ist sein eigener Fehler, wenn er sich lächerlich macht. Gibst du mir nicht recht?«

»Natürlich,« sagte Jytte, ohne eine Ahnung zu haben, worauf sie antwortete.

Nachdem sie eine Weile schweigend weitergegangen waren, begann der Jägermeister von neuem:

»Da ist übrigens etwas anderes, worüber ich gern mit dir sprechen wollte, falls du es mir gestattest.«

»Was ist das?«

»Darf ich dir eine Gewissensfrage stellen? Ist jemals etwas zwischen dir und From vorgefallen?«

»Was sollte das wohl sein?«

»Das weiß ich nicht, aber er sagte neulich, daß er nichts in der Welt so bereue wie eine Dummheit, die er dir gegenüber begangen habe. Entsinnst du dich dessen?«

Jytte überlegte einen Augenblick und kam zu dem Ergebnis, daß sie am besten daran tue, geradeheraus zu sagen, wie sich die Sache verhielt.

»Ja, er ist einmal ein wenig reichlich galant mir gegenüber gewesen, und das war wirklich eine größere Dummheit, als ich ihm zugetraut hätte.«

»Tod und Teufel! Hatte ich es mir nicht gedacht, daß es etwas nach der Richtung hin sein müsse. Er hat in dieser Beziehung wahrhaftig eine Schwäche, die ihn wohl zuweilen ein wenig unzurechnungsfähig macht.«

»Es scheint, daß du sein Vertrauensmann geworden bist!«

»Nun ja, wenn ich bei ihm sitze, erzählt er mir zuweilen das eine oder andre über sich selbst, während er malt. Das ist wirklich höchst interessant. Weißt du, daß er ein Waisenhauskind ist?«

»Ich glaube, wir haben schon darüber gesprochen.«

»Seine Mutter starb, als er sechs Jahre war. Sie stürzte sich in einem Anfall von Geisteskrankheit aus einem Fenster des vierten Stocks. Ich glaube, er geht in beständiger Angst umher, daß er eine Anlage nach dieser Richtung hin geerbt haben könne. Überhaupt glaube ich, daß er eigentlich ein melancholisches Temperament besitzt. Beobachte nur einmal seine Augen!«

»Was ist es mit denen?«

»Ich habe gehört, daß er einmal zu einem Freund gesagt haben soll, wenn er so viele Narrenstreiche vorhabe, so geschehe es, damit die Leute nicht den Übergang merken sollten, falls der Wahnsinn seiner Mutter eines schönen Tages bei ihm ausbräche. – Aber nach dem, was du mir jetzt anvertraut hast, Jytte, verstehe ich deine Haltung ihm gegenüber natürlich besser, und falls du es wünschest, will ich euch nicht wieder zusammenbringen«

»Danke, John, das wäre mir das liebste.«

»Natürlich tut es mir persönlich leid – du weißt, ich schätze ihn sehr –, aber ich achte, wie gesagt, deinen Standpunkt.«

Sie hatten die Ecke der Dronningens Tvärgade erreicht und trennten sich hier.

Als Jytte nach Hause kam, war Besuch da. Ein Kanzleirat Hansen und Frau machten Visite. Es waren ein paar einfache Leute aus der Provinz, ein Rest ihrer Bekannten aus der Amtsrichterzeit des Vaters.

Für Jytte, die auf eine ernste Szene bei der Heimkehr vorbereitet gewesen, war dieser Besuch eine willkommene Ableitung. Gleich als sie hereinkam, warf die Mutter einen hastig forschenden Blick auf sie; später aber schien sie nur mit ihren Gästen beschäftigt, die zu Tische blieben.

Jytte bereute die Sache jetzt selber und sah ein, daß sie sich verkehrt benommen hatte. Was ihr John auf dem Heimwege von Karsten Froms Mutter erzählt, machte außerdem einen verstimmenden Eindruck auf sie. Es war also wirklich so, wie sie vermutet hatte, daß seine Narrenkappe eine Maske war, hinter der er sich vor der Welt verbarg, und sie kannte nun ein wenig von seinen Sorgen, Aber auch deswegen wünschte sie, daß sie zu Hause geblieben wäre.


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