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II

Vor vollbesetztem Saal und überfülltem Zuschauerplatz wurde die letzte Sitzung des Folkethings vor Weihnachten eröffnet. Es war am kürzesten Tag des Jahres, am 21. Dezember um acht Uhr abends. Oben von der Galerie und von den Logen herab waren alle Operngläser auf den weißen Kopf Enslevs gerichtet, der sich zum ersten Male nach langer Zeit in der Versammlung blicken ließ, die er seit einem Menschenalter beherrscht hatte.

Er saß auf seinem alten Platz, ungefähr mitten im Saal, und blätterte in einigen Papieren.

Vor seiner »Vorlage zum Beschluß« standen ein paar kleine Sachen auf der Tagesordnung, die erledigt werden sollten, ehe das Thing in die Ferien ging. Die Behandlung wurde unter vollkommener Gleichgültigkeit zu Ende geführt, während die Mitglieder überall im Saal in fieberhafter Bewegung waren. Selbst Rektor Bohse saß nicht auf seinem Platz. Jörgen Höjbo hatte ihn zu einer Besprechung in einer der Fensternischen gerufen.

Lehrer Tanning ging im Saal umher und flüsterte den Parteimitgliedern ein Wort ins Ohr.

Als er Aleksandersen verließ, der dastand und mit Johannes Gaardbo sprach, lag ein Schatten der Enttäuschung über den Zügen des Hochschulvorstehers. Um eine weitläufige Debatte zu vermeiden, die vielleicht den Zusammenschluß in Gefahr bringen könnte, hatte man bestimmt, daß nur Tyrstrup Enslevs Angriffe beantworten sollte. Irgendwelche Besorgnis in bezug auf das Ergebnis der Abstimmung hegte man freilich nicht mehr in der Partei, und namentlich war Enslevs Niederlage ganz sicher geworden, nachdem die Vertreter der Arbeiter auf eindringliche Vorstellung von Johannes Gaardbo und andern demokratisch gesinnten Geistlichen beschlossen hatten, »Stimme nicht« zu antworten. Aber man wollte sich nicht damit zufriedengeben, daß Enslevs Mißtrauensvotum schlecht und recht niedergestimmt wurde, man wünschte, daß dies auf eine so nachdrückliche Weise geschehen sollte, daß er in Zukunft ein politisch toter Mann war!

Auf und nieder, an der Wand entlang, ging Gjärup wie ein rächender Geist der Finsternis und rieb unruhig die Fingerspitzen auf dem Rücken aneinander. Wenn er hin und wieder einmal stehen blieb und über den Saal hinausblickte, fiel aus den Glühlampen ein Schimmer auf seine Brillengläser und machte sie weiß wie blinde Augen. Niemand war wirksamer gewesen als er, um diese Reichstagssitzung zu einer Art öffentlicher Hinrichtung zu gestalten. Mochte es sich darum handeln, einen der Anhänger Enslevs zum Abfall zu bewegen oder einen wankelmütigen Parteigenossen mit dem Verlust seines Mandats zu bedrohen, stets hatte er denselben blutdürstigen Eifer gezeigt. Er war es auch, der Samuelsen und Pastor Stensballe zu ihrer ersten heimlichen Verhandlung über den neuen Redakteurposten zusammengeführt hatte.

Während all dieser Unruhe im Saal saß Enslev in unzugänglicher Einsamkeit und blätterte in seinen Papieren. Nickt ein einziges Mal sah er auf. Aber einige Mitglieder, die sich in seiner Nähe bewegt hatten, versicherten, daß seine Hände zitterten.

Jetzt klingelte die Glocke des Präsidenten, und alle eilten an ihre Plätze. Nach einer Reihe von Abstimmungen, die in zwei Minuten erledigt waren, verlas der Vorsitzende die eingereichte »Vorlage zum Beschluß« und erteilte darauf dem verehrten Mitglied des dritten Wahlkreises aus dem Kopenhagener Amt das Wort. Das war Enslev.

Man sah ihn sich von seinem Platz erheben, und im selben Augenblick war es, als sei er der einzig Lebende in dem ganzen Saal, so lautlos still wurde es. Alle Augen folgten ihm auf seinem schnellen Gang nach der Rednerbühne. Man hörte die dumpfen Stöße des Stockes auf dem Teppich, und in der tiefen Stille vernahm man den Laut unheimlich, geisterhaft. Jetzt aber stand er da oben mit zurückgelehntem Kopf und ließ den Blick langsam über die Versammlung gleiten und darauf zu den Logen und der Galerie hinüber – so wie er das, solange man denken konnte, gewohnt gewesen war.

In diesen Augenblicken fiel es vielen auf, wie stark sein kleines bleifarbenes Gesicht mit der weißen Umrahmung von wolldichtem Haar und Bart in den letzten Jahren von dem Tropfen Zigeunerblut gestempelt worden war, der vor mehr als einem Jahrhundert sich in seine Familie verirrt hatte. Es lag sowohl Wildheit als schlaue Berechnung und finsteres Mißtrauen in diesem Blick, mir dem er gleichsam ein Netz über seine Zuhörer warf, um sie unter die Macht seiner Persönlichkeit einzufangen.

Er war sich selbst ganz klar über seine Stellung. Von dem Augenblick an, wo er den Beschluß der Arbeiterpartei erfahren hatte, wußte er, daß die Schlacht diesmal für ihn verloren war, daß sich sein Heer auf der Flucht befand. Aber trotz der Warnungen aller Auguren war es nicht seine Absicht, den Kampf aufzugeben. Würde er auch selbst nicht den Sieg über den alten Giftdrachen erringen, so sollte doch die Nachwelt mit Dankbarkeit seinen Namen an die endgültige Befreiung des Volkes knüpfen. Und diese erwartungsvolle Stille im Saal, diese Hunderte von unruhig starrenden Augenpaaren wirkten mit einer unwiderstehlichen Macht auf ihn, wie der Anblick des gefüllten Zirkus auf einen alten Toreador.

Er hatte jedoch noch nicht lange gesprochen, als er fühlte, daß er gegen eine Mauer anredete. Oben von der Zuhörergalerie ertönte ein paarmal ein »Bravo«, das den Vorsitzenden veranlaßte, die Glocke zu bewegen, aber aus den dichten Reihen des Saales schlug ihm eine Kälte entgegen, die ihn zuletzt nervös machte. Er sah Lehrer Tanning sich mit einem Lächeln zu seinem Nachbar, Jörgen Höjbo, hinüberlehnen und ihm etwas ins Ohr flüstern, und Hochschulvorsteher Aleksandersen, der wie gewöhnlich an einem Pfeiler aufgestellt stand, die Arme über der Brust gekreuzt, zog sich einmal die Aufmerksamkeit zu durch eine kühne Unterbrechung, die gedämpften Beifall erregte. Aus Furcht, seine Leidenschaft nicht beherrschen zu können, falls er ihr die Zügel schießen ließ, tat Enslev, als habe er den Zwischenruf nicht gehört. In scheinbar ruhigem Ton fuhr er fort, die Verwaltung des Ministeriums durchzunehmen, indem er bewies, wie schwach und nachgiebig es sich gezeigt hatte gegenüber den immer anmaßenderen Versuchen der Kirche, sich unter Anrufung der göttlichen Macht zu einem Vormundschaftsrat für das Volk aufzuwerfen.

Er sprach von den beiden großen Übeln, die die Menschheit seit Urbeginn der Zeiten verheert hatten: Tyrannei und Aberglaube. Der Kampf gegen diese beiden zerstörenden Mächte machte in Wirklichkeit die ganze Weltgeschichte aus. Wo sie jede für sich wirkten, konnten sie gefährlich genug sein; jedoch erst wo sie zusammen auftraten, wurden sie zu dem Unglück, das die Welt für die Menschen vernichtete. Aber auf einer solchen Vereinigung von Despotie und furchtsamem Aberglauben beruhte eine jede organisierte Glaubensgemeinschaft.

»Wir leben in einer Zeit,« sagte er, »wo die gefesselten Todfeinde der Freiheit überall in der Welt wieder die Köpfe zu erheben beginnen und mit blutunterlaufenen Augen ihre Möglichkeiten beurteilen. Jeder, der keine Watte in den Ohren hat, muß hören können, wie von neuem in Finsternis und Verborgenheit böse Ratschläge gegen das Volk und seine Söhne geschmiedet werden. Vernehmen wir nicht schon, wie die Propheten einer neuen Zeit das befreite Menschenleben und seine morgenfrische Kraft und Fülle verdächtigen? Hören wir nicht ihre Dichter Sklaverei und Aberglauben mit schönklingenden Namen umtaufen? – Und wie hat unsere Regierung jetzt diese Gefahr abgewehrt? Ja, indem sie zum ersten Male seit dem Sieg der Demokratie Schule, Wissenschaft und Kunst unter die Oberhoheit eines Kirchendieners gestellt hat! Indem sie überall im Lande – offen und im Verborgenen – unsern Feinden immer größere Zugeständnisse macht!«

Er setzte seine Rede fort mit einem Rückblick auf die Geschichte Dänemarks in den letzten hundert Jahren, um zu beweisen, wie alle früheren Versuche seitens der Kirche, sich die Führerschaft im Lande zu erzwingen, seit Grundtvigs zänkischer Erweckung zu Anfang des Jahrhunderts unmittelbar vor dem Staatsbankerott, der Vorbote des nationalen Zusammenbruches gewesen sei. Sollte dies nicht zu ernstem Nachdenken anregen?

»Man erzählt von vielen alten Schlössern, daß vor einem Unglück stets eine graue Dame, ein schwarzer Ritter oder irgendein Geist aus entschwundener Zeit erscheint, der sich aus seinem Grab erhebt, um eine bevorstehende Katastrophe zu verkünden. Wir hören ja auch Seeleute von dem Klabautermann reden, der sich in der Takelage oder am Steuer in Sturm und Nebel zeigt, wenn das Schiff seinem Untergang entgegensteuert. So scheint auch jedes alte Land, wenn man seine Geschichte liest, seinen warnenden Schatten zu haben. Ich gestehe, ich habe es nie als einen Zufall betrachtet, daß im Unglücksjahr 1864 ein Mann im Bischofsornat am Staatsruder stand. Ist es nicht auf alle Fälle ein Symbol? Und sollte uns das nicht als Warnung dienen?«

Während des ganzen Schlusses seiner Rede waren starke Widerspruchrufe ringsumher im Saal ertönt. Als er von der Rednertribüne herabstieg, entstand Schweigen, und man sah, daß er blaß war.

Lehrer Tönning beugte sich wieder zu Jörgen Höjbo hinüber und sagte: »Mit diesem verdeckten Angriff hatte er kein Glück!«

»Nein, es war matt!« erwiderte der alte Bauer und sprach ungefähr das aus, was nicht nur im Saal, sondern auch auf den Zuschauerplätzen die allgemeine Ansicht war. Enslev hatte zum erstenmal sein Kopenhagener Publikum enttäuscht.

Als er zu seinem Platz zurückkehrte, strauchelte er über eine Falte im Teppich. Als aber ein Stenograph, der gerade zurückgetreten war, um ihn vorübergehen zu lassen, ihn ehrerbietig beim Arm packte, sandte er ihm einen wütenden Blick zu, statt zu danken. Niemand wußte besser als er selbst, daß er kein Glück mit seiner Rede gehabt hatte. Während der vergeblichen Anstrengungen, die feindliche Haltung des Saales zu beeinflussen, hatte er die Herrschaft über seine Gedanken verloren, und allmählich, als er merkte, daß ihn die Eingebung im Stich ließ, war er immer nervöser geworden.

Sobald er auf seinen Platz zurückgekehrt war, scharte sich ein halbes Dutzend seiner Freunde etwas verlegen um ihn, ihm die Hand zu drücken.

Inzwischen hatte der Vorsitzende geklingelt und dem Ministerpräsidenten das Wort erteilt.

Tyrstrup erhob sich von dem Ministertisch, und jetzt geschah etwas Unerwartetes. Im selben Augenblick, als er sich auf der Rednertribüne zeigte, stand Enslev auf und verließ den Saal. Es konnte kein Zweifel über die Absicht herrschen. Es war eine Demonstration, gegen den Mann gerichtet, von dem er sich in ganz besonderer Weise verraten fühlte.

Als einen Augenblick später im Saal verlautete, daß er nach Hause gegangen war, entstand eine große Bewegung. Dem Ministerpräsidenten wurde es unter diesen Verhältnissen schwer, die Aufmerksamkeit des Things zu fesseln, was Enslev auch gerade beabsichtigt hatte. Doch ertönte starker Beifall, als er nach längerer Rechenschaftsablegung für seine Politik mit den Worten schloß, daß das dänische Volk während des langen Freiheitskampfes sowohl geistig als auch materiell über seine Mittel gelebt und Vorschuß in bezug auf die Kräfte der Nation genommen habe, weswegen es zurzeit in erster Linie der Ruhe und des Selbstbesinnens bedürfe.

Der Vorsitzende teilte jetzt mit, daß der Wunsch, man möge die Debatte abschließen, laut geworden sei, und nach einer Weile begann man mit der Abstimmung. Diese wurde auf Verlangen der ministeriellen Partei durch Namensaufruf vorgenommen.

Die Mitglieder blieben alle auf ihren Plätzen sitzen, und unter tiefer Stille begannen die Aufrufe. Obwohl der Ausfall von vornherein gegeben war, wurden die Gemüter unwillkürlich feierlich gestimmt, ungefähr so, wie wenn eine Familie in der Neujahrsnacht vereint vor der Uhr steht und den Gang des Zeigers in den letzten Minuten des Jahres verfolgt. Alle fühlten, daß mit diesen Minuten eine alte Zeit verrann, eine Sturm- und Schwertzeit ging ohnmächtig in ihr Grab.

»Nein – Nein – Nein – Ja.«

Es war, als höre man das Ticktack der Ewigkeitsuhr, ehe sie zu schlagen begann.

Als der Vorsitzende das Ergebnis mitteilte, zeigte es sich, daß Enslevs Niederlage noch entscheidender gewesen war, als man erwartet hatte. Nur zwölf Mitglieder waren dem Manne gefolgt, der noch vor wenigen Jahren der fast alleinherrschende Gebieter des Landes gewesen war.

Oben in der Ecke der Galerie, von wo mehrmals während Enslevs Rede »Hört« und »Bravo« gerufen worden war, hub ein Spektakel an. »Nieder mit der Geistlichkeit! ... Es lebe Enslev!« ertönte es von dort oben zusammen mit dem Gellen einer Flöte. Da aber erhob sich Rektor Bohse und brachte mit Donnerstimme ein Hoch auf König und Vaterland aus, das schnell die Revolution auf der Galerie erstickte.

»Die Sitzung ist aufgehoben!« verkündete der Vorsitzende.


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